22. Das Schatzgraben.

[147] Einem Manne träumte einst von Schätzen; ein Kind erschien ihm nämlich, das geflügelt war, und so weiß wie Schnee, welches zu ihm sprach: Besteig den höchsten Berg den du weißt, dort wirst du eine hohe Föhre sehen, und unter dieser einen dreizackigen Felsen, aus welchem ein Wässerlein gleich Thränen träufelt, unter diesem Steine grabe so tief, als er hoch ist, da wirst du ein rundes Gefäß mit goldenem Deckel verschlossen voll blanken Geldes finden, den Deckel nimm herab und laß ihn dort, das Geld aber kannst du forttragen, doch sage davon niemanden ein Wort, sonst wird es dir schlecht ergehen. Als der Mann erwachte, freute er sich, stand auf, kleidete sich an und begab sich eiligen Schrittes an den ihm bezeichneten Ort, und als er die Föhre erblickte, und unter ihr den dreieckigen Felsen mit dem träufelnden Wässerlein, da fing er ungesäumt zu graben an; kaum hatte er aber mit der Haue das dritte Mal in die Erde geschlagen, so hörte er von unten herauf eine Stimme wie die eines Kindes: »Wer du auch bist, steh ab für heute von dieser Arbeit!« Dies vernehmend, stürzte er aus Schreck zu Boden und verfiel in einen tiefen Schlaf. Alsbald erschien ihm im Traume wieder jenes Kind und sprach zu ihm: »Wohl bist du aufgestanden, hast dich gewaschen und angekleidet,[148] hast dich auf den Weg hieher gemacht, und da die Arbeit angefangen, aber bekreuzt hast du dich nicht, und wäre ich nicht gewesen, würdest du übel weggekommen sein, deshalb bete zu Gott, und wenn du aufstehst, so bekreuze dich, wie er, der Herr, es befohlen hat, denn jederzeit wird dirs frommen vor dem Beginn aller Arbeit erst das Zeichen des Kreuzes zu machen.« Als der Mann erwachte und bei klarer Besinnung war, sah er sich nicht an jenem Orte, wo er aus Schrecken zusammen gesunken war, sondern in einem sonnigen Garten voll der schönsten Blumen, da bekreuzte er sich, nahm seine Haue und Schaufel, und begab sich abermals an den ihm bezeichneten Ort, doch ehe er zu arbeiten anfing, bekreuzte er sich im Angesicht der Sonne, die in dem Augenblicke hervor trat drei Mal, indem er dabei sprach: »eben geht die Sonne auf, gewaltiger Gott, verleihe mir deinen Beistand!« Hierauf fing er die Erde aufzugraben an, aber nicht ohne Bangen, wieder jene Stimme von unten herauf zu vernehmen. Und wie er so grub und die Erde ausschaufelte, da blinkte ihm plötzlich etwas entgegen, als blendeten ihm alle Strahlen der Sonne die Augen, und was sah er? einen Drachen der auf dem Schatze schlief. Und als der Mann merkte, daß er seinetwegen den Schatz nicht heben könne, bat er ihn drei Mal von dannen zu gehen. Darüber erwachte der Drache und sprach: »Ich werde mich nicht von dieser Stelle rühren, da dieser Schatz weder mein noch dein ist, wenn du aber alle Quellen zählst, die diesem Berge entströmen, und dann kommst und es mir sagst, will ich diesen Ort verlassen und[149] der Schatz soll dir allein gehören, doch sonst auf keine Weise.« Wie dies der Mann vernahm, ging er von Quelle zu Quelle und fing an sie der Reihe nach zu überzählen, aber immer ward er irre, so daß er mit dem Zählen nicht zu Ende kommen konnte. Ermattet ließ er sich unter einem hohen Baume nieder, wie es in der Welt wohl keinen zweiten mehr gab, da vernahm er über sich ein Geflüster, und als er aufblickte, gewahrte er eine Wile und einen Wilenik1, die kamen herbei geflogen, und der Wilenik wollte mit Gewalt von der Wile etwas wissen. Die erschreckte Wile aber beschwor ihn, nicht weiter in sie zu dringen, indem sie sprach: »So wahr sieben und siebenzig Quellen diesem Berge entströmen, ich weiß es nicht,« worauf sie fortflog. Jetzt bemerkte der Wilenik den Mann und sagte: »nun kannst du hingehen und den Schatz heben.« Er ging hin, und wie er zur Stelle kam, war der Drache weg, da nahm er den Deckel herunter, der auf dem Gefäße war, leerte alles Gold aus, das sich darin befand und nahm es mit sich, den Deckel aber ließ er dort.

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Mit diesem Namen bezeichnet die serbische Sage einen Menschen, der von einer Wile erst mit einem Pfeile verwundet, dann aber von ihr wieder geheilt worden ist und sich mit ihr verschwistert hat, wobei sie ihm als Zeichen ihrer Freundschaft ein Kraut schenkt, dessen Besitz ihn vor jeglichem Betruge schützen und bewirken soll, daß ihm sein Weib tüchtige Helden und liebliche Töchter gebäre.

Quelle:
Karadzic, Vuk Stephanovic: Volksmärchen der Serben. Gesammelt und aufgezeichnet von Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Ins Deutsche übersetzt von Wilhelmine Karadschitsch. Berlin: Reimer, 1854, S. 147-150.
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