Die Linde.

[44] Mal waren Eheleute, die kriegten ein Söhnlein, und desselbigen Morgens, wie es geboren war, fand der Vater unterm Bette ein Lindenpflänzchen aufgegangen. Das nahm er behutsam heraus und pflanzte es mitten auf dem Hofe wieder ein. Und die Linde (lipa) wuchs mit dem jungen Sohne um die Wette. Und wie er nun in das Alter kam, dass er heirathen konnte, da blühte die Linde im Jahre vorher zum ersten mal. Und jedesmal, wenn eine Kindtaufe im Hause war, blühte sie das Jahr vorher. Wie jedoch die Leute keine Kinder mehr bekamen, blühte auch die Linde nicht mehr.

Im Dorfe aber waren niederträchtige Buben, die wurden alles dessen gewahr, und wollten eines Nachts die Linde wegschneiden, schnitten auch den Stamm etwas an, aber der grosse Hofhund verjagte sie dabei. Und von selbiger Stunde erkrankte der junge Wirth und war so lange krank, bis der Stamm der Linde wieder zuheilte. Nach langen Jahren nun, als der Mann graue Haare kriegte, kriegte auch die Linde trockne Aeste. Und im letzten Lebensjahre des Mannes war nur ein Ast noch grün von der Linde, und wie er gestorben war, vertrocknete sie gänzlich. Und von der Linde hat der Hof nachher seinen Namen Lipoj bekommen und später vom Hofe das ganze Dorf120 I, 17.

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Leipe Lipoj, bei Hoyerswerda.

Quelle:
Schulenburg, Willibald von: Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin: Nicolai, 1882, S. 44.
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