Die Hexe in der Hölle.

[77] Es war eine Hexe in einem Dorfe, die war sehr schlimm, so dass die Leute der ganzen Umgegend Furcht vor ihr hatten. Da kam auch die Rede davon vor den Pastor, der aber wollte durchaus nicht glauben, dass eine so schlimme Hexe auf der Welt sein könnte. Darum ging er hin zu ihr und wollte versuchen, ob sie wirklich den Leuten so vielen Schaden thun könnte. Sie sollte ihm ein Probestück machen, wollte aber durchaus nicht, und erst, als er ihr zweihundert Thaler versprach, war sie dazu bereit. Sie nahm einen Strick und band ihn an die Wand, an einen hölzernen Nagel,231 sagte zum Pastor: »Was wünschen Sie nun?« Und der Pastor sprach: »Ich wünschte, von dem Strick käme Milch herunter«. So melkte die Hexe am Strick und es kam Milch, dass der Topf voll ward und sie aus dem Topfe herauslief. »Nun darf ich nicht mehr melken,« sagte dann die Hexe, »sonst geht die Kuh ein«.232 Der Pastor sprach: »Das ist gleichgültig, sie wird bezahlt, Ihr müsst melken.« Sie wollte zwar nicht, musste aber des Pastors Willen thun, nahm einen andern Topf und setzte ihn unter, da fing an zur Hälfte Blut zu laufen, und dann kam richtiges Blut. Auf einmal kam der Nachbar der Hexe in die Stube gelaufen, denn ihm war eben seine Kuh gefallen. Nun musste der Pastor glauben, dass wirklich Hexen auf der Welt sind.

Allein er wollte die Hexe gern erlösen, dass sie selig stürbe, und nicht so bliebe, wie sie war. Darum gab er sich viele Mühe, betete für sie und machte verschiedenes, aber alles unter der Bedingung, dass sie, stürbe sie einmal eher als er, ihm nach ihrem Tode zu erkennen gäbe, was er ihr geholfen hätte.

Nun starb die Hexe. Vier Wochen nach ihrem Tode waren vergangen, der Pastor sass gerade mit seinem Sohne in der Laube233 beim Mittagsmahl, da flog ein gelber Vogel immer in der Laube herum und sang immerfort: »Ein Finger nicht, ein Finger nicht, ein Finger nicht, ein Finger nicht«. Da passte der Pastor sehr auf und ward sehr neugierig, was zu bedeuten hätte, dass der Vogel so sang. Aber es ward ihm keine Antwort, denn der Vogel sang immerfort so. Dann sprach der Pastor zum Vogel: »Du, Vogel! ich treibe Dich zu Gottes Wahrheit, dass Du die Wahrheit singest,« und fragte: »Was für ein Bote bist Du, Vogel?« und der Vogel sagte: »Ich bin der Geist von der Hexe«, und erzählte, dass ihr bloss ein Finger gerettet, der übrige Leib aber in der Hölle sei. S. I, 167.

231

Wie sie früher die Leute statt der eisernen hatten.

232

Stirbt.

233

Vor dem Hause. Vergl. Haupt, Sagenbuch, I, 168.

Quelle:
Schulenburg, Willibald von: Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin: Nicolai, 1882, S. 77.
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