Genie

[583] Genie – Das Wort und die Vorstellung, die wir heute damit verbinden, sind so neu, daß wir mit den entsprechenden Redensarten von Platon, von Aristoteles, oder gar von Cicero wirklich nichts mehr anzufangen wissen und die Alten darum für diesmal ruhen lassen wollen; aber so neu dieses Wort zu historischer Zeit in Frankreich entstanden und dann zu uns herübergekommen ist, so wenig ist seine Herkunft aufgeklärt. Wir können immer noch nicht mit Sicherheit sagen, ob génie aus lat. ingenium (die angeborene Art, von ingignere, der Charakter, die intellektuelle Anlage) oder aus lat. genius (der lebenzeugende Schutzgeist, ebenfalls von gignere) entstanden ist. Sehr wahrscheinlich ist die Vermutung, daß das sogenannte Geschlecht im deutschen Gebrauche des Wortes, das Genie, auf den Einfluß von ingenium zurückgeht; Wieland sagte noch, ganz französisch, der Genie; und auch bei Lessing, Goethe und Schiller findet sich gelegentlich das Maskulinum. Die Vermutung wird von der Autorität des D. W.[583] unterstützt, ist aber schon von Adelung (»Über den Deutschen Styl«, 1789, II S. 360) ausgesprochen worden, in einer Anmerkung, die Beachtung verdient. »Genie ist ein in den neuem Zeiten aus dem Französischen entlehntes Wort, und gemeiniglich glaubt man, daß es in diser Bedeutung von dem lat. Genius herstamme, und ist durch diesen Irrtum oft zu den prächtigen und schwülstigen Beschreibungen verleitet worden, welche man in manchen Lehrbüchern von dem Genie macht. Allein es läßt sich sehr bestimmt erweisen, daß das Wort in dieser Bedeutung ganz von dem lat. ingenium abstammet, welches schon in dem mittlern Lateine in genium, noch mehr aber im Französischen in génie verkürzt wurde.« Die französische Beziehung auf künstliche und sinnreiche Werkzeuge, besonders Kriegswerkzeuge (auch wir sagen heute noch Genietruppe) lasse sich nicht ohne den äußersten Zwang von Genius ableiten. »Wahr ist es indessen, daß sowohl in dem franz. génie als in dem engl. genius die lat. genius und ingenium zusammengeflossen sind, welches man der Unwissenheit derjenigen Jahrhunderte, in welchen diese Sprachen entstanden sind, zugute halten kann.... Als man dieses Wort im Deutschen aufzunehmen nötig fand, war man sich dieser Abstammung von ingenium wenigstens dunkel bewußt, daher man ihm auch das sächliche Geschlecht beilegte, das Genie, sooft es Fähigkeit des Geistes bedeuten soll; dagegen man es in der Bedeutung eines Schutzgeistes mit dem männlichen Geschlechte in der lateinisierten Gestalt behielt, der genius.« Wir empfinden heute Genie (auch genial) und genius als zwei durchaus verschiedene Worte.

Zur deutschen Wortgeschichte möchte ich noch zwei Notizen hinzufügen, beide fast aus der gleichen Zeit, die eine negativen, die andre positiven Inhalts. Der alte Walch hat in seinem Philosophischen Lexikon (1740) recht artige Ausführungen über das ingenium im weitem und im engem Sinne, kennt sogar bereits den Genius der Zeit (genium seculi) ganz gut, führt das Wort Genie aber noch nicht an. Aber der junge Lessing kennt es schon. In seiner Übersetzung der[584] einst weltberühmten Schrift von Huarte »Examen de ingenios para las sciencias« gibt er zwar das Wort des Titels ingenios mit dem altmodischen Köpfe wieder, gegen welchen puristischen Ausdruck sich dann Adelung (S. 362) sehr lebhaft gewandt hat, leider vornehmlich aus seiner fixen Idee heraus, daß Kopf ein niedriges Wort sei, zu unedel für die anständigere Schreibart. Der junge Lessing übersetzt den langen Titel, man glaubt Gottsched zu hören, wie folgt: »Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Worinne er die verschiedenen Fähigkeiten die in den Menschen liegen zeigt Einer jeden den Theil der Gelehrsamkeit bestimmt der für sie eigentlich gehöret Und endlich den Aeltern Anschläge ertheilt wie sie fähige und zu den Wissenschaften aufgelegte Söhne erhalten können.« Aber im Verlaufe der Übersetzung sagt er (besonders S. 79-90) neumodisch Genie, wo man noch kurz vorher ingenium oder Witz gesagt hätte.

Sehr drollig wirkt auf uns Huarts Berufung auf Aristoteles und Galenos, und der Versuch, die Verschiedenheit des Genius aus den Graden der Wärme, der Feuchtigkeit und der Trockenheit physiologisch zu erklären; aber schon Huarte findet die höchste Stufe des Genies da, wo die Natur gewisse Köpfe »so vollkommen macht, daß sie gar keinen Lehrmeister brauchen, der ihnen wie sie philosophieren sollten sagen müßte;... diesen letztem allein ist es erlaubt Bücher zu schreiben, den andern aber nicht.«

An dieser Stelle eines Buches aus dem 16. Jahrhundert klingen also schon die beiden Vorstellungen an, die man gewöhnlich für besondre Kennzeichen des deutschen Geniewesens anzusehen pflegt: die Originalitätssucht und die Einschränkung des Genienamens auf literarische Talente. Wie wenig die Gleichsetzung von original und genial originaldeutsch war, das mag man im D. W. (IV Sp. 3419 f.) nach lesen: wie Frankreich und England auf die deutschen Literaten einwirkten, und wie noch vor der Geniezeit die neue Ästhetik und die Popularphilosophie das neue Wort liebkosend untersuchten. Mendelssohn sagt (im 92. Literaturbriefe von[585] 1760): »Ich glaube nicht, daß die Alten ein Wort gehabt haben, das auszudrücken, was wir itzt Genie nennen; ihre Schriftsteller schweigen gänzlich von dieser Eigenschaft des Geistes, die unsre Kunstrichter beständig im Munde führen und unsre Weltweisen nun auch endlich zu untersuchen anfangen.« Schon meldet sich, mit einer Terminologie aus der Wolffschen Schule, der Gegensatz von Verstand und Empfindung; das Genie vereinigt beide im höchsten Grade. Klopstock und Herder fangen das Wort zu lieben an, vor der eigentlichen Geniezeit. Aber Goethe, der Führer und dann der Überwinder des regelfeindlichen Sturms und Drangs, hat doch nicht unrecht, wenn er die Aufnahme des Worts in den allgemeinen Sprachgebrauch für die Zeit jener Literaturbeweguung ansetzt. Natürlich verlief auch da die Wortgeschichte nicht ganz gradlinig; auch die Einschränkung auf die Poesie ließen tatkräftige Genies, wie Klinger, nicht gern gelten, und bald war auch von politischen, militärischen und kaufmännischen Genies die Rede.

Goethe, der von der genialen Mutter die Originalität und vom pedantischen Vater des Lebens ernstes Führen geerbt hatte, spricht in seiner Lebensbeschreibung spöttisch genug von den Geniegenossen seiner Jugendzeit. Aber das Wort Genie gab er darum nicht preis; er glaubte, in Kants »Kritik der Urteilskraft« die lange gesuchte Rechtfertigung des Geniebegriffs gefunden zu haben, und hat in seinem hohen Alter an das Genie geglaubt als an das Talent, welches der Kunst die Regel gibt. An der entscheidenden Stelle von »Dichtung und Wahrheit« (19. Buch) wird Kant nicht ausdrücklich genannt. Goethe sagt: »Das Wort Genie ward eine allgemeine Losung, und weil man es so oft aussprechen hörte, so dachte man auch, das, was es bedeuten sollte, sei gewöhnlich vorhanden. Da nun aber jedermann Genie von andern zu fordern berechtigt war, so glaubte er es auch endlich selbst besitzen zu müssen. Es war noch lange hin bis zu der Zeit, wo ausgesprochen werden konnte: daß Genie diejenige Kraft des Menschen sei, welche durch Handeln und Tun Gesetz und Regel gibt... Und so hätten sich die Deutschen, bei denen überhaupt[586] das Gemeine weit mehr überhand zu nehmen Gelegenheit findet als bei andern Nationen, um die schönste Blüte der Sprache, um das nur scheinbar fremde, aber allen Völkern gleich angehörige Wort vielleicht gebracht, wenn nicht der durch eine tiefere Philosophie wieder neu gegründete Sinn fürs Höchste und Beste sich wieder glücklich hergestellt hätte.«

Ich habe auf die Internationalität dieser Wortgeschichte in anderm Zusammenhange (vgl. Art. Idealmenschen) ausführlicher hingewiesen; an dieser Stelle sei noch die Bemerkung gestattet, daß selbst Goethe an Worten hängen konnte und so an dem Worte Genie auch dann noch festhielt, als es für ihn seinen Sinn, vermeintlich unter dem Einflusse Kants, in sein Gegenteil verkehrt hatte: einst war es das Schlagwort für Regelwidrigkeit gewesen; jetzt sollte es die Kraft bezeichnen, welche allem Handeln, nicht nur der Tätigkeit des Dichters, Gesetz und Regel gibt. Wir werden gleich den dünnen Faden kennen lernen, der die beiden Begriffsinhalte immer Hoch miteinander verband.

Die Ansicht Kants, die Goethe da nach dem Gedächtnisse falsch zitiert hatte, nach dem Wortlaut und nach dem Sinne falsch, findet sich in der »Kritik der Urteilskraft« (1790), aus der sich Goethe in seiner Weise auch viel für seine Naturphilosophie herausholte. Kant wendet sich in seinen Ausführungen (§§ 46-50) einmal sehr boshaft gegen den Sprachgebrauch der Geniezeit, gegen die seichten Köpfe, die nichts als regellose Originalität kennen; er nimmt den Sprachgebrauch der Zeit von Gottsched bis Lessing wieder auf, stellt von da aus eine Definition auf und macht über die Künste Bemerkungen, in denen Kunstfremdheit und ein erstaunlicher Sinn für die Zukunft der Kunst miteinander abwechseln. Wie denn auch die »Kritik der Urteilskraft« trotz der Schiefheit ihrer Architektur überaus fruchtbar geworden ist.

Kant tastet auf diesem ihm fremden Boden etwas unsicher nach der richtigen Definition des Genies. »Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das[587] Talent als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.« Aber Kant leitet Genie trotzdem von genius ab. Dann heißt es wieder, Genie »sei ein Talent, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann... Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei«. Endlich definiert er die eigentümliche Bedeutung des Wortes (§ 48) ganz kurz: Genie ist das Talent zur schönen Kunst.

Ich habe es vermieden, auf den gefährlichen Einfall Kants, den Zweckbegriff in die Untersuchungen über Natur und Kunst einzuführen, einzugehen; nur darum war es mir hier zu tun, zu zeigen, wie Kants Ästhetik auch in seinem Geniebegriffe sich trotz mancher Rückfälle über die Zeit erhob, die in Kants Jugend allgemein die Kunst eine Nachahmung der Natur genannt hatte. Das meist verbreitete Lehrbuch dieser Epoche, das von Batteux, war ganz auf diese Phrase aufgebaut. Kant nun unterschied sehr scharf zwischen der produktiven und der bloß reproduktiven Einbildungskraft; produktive Einbildungskraft war Sache des Genies. Wir haben gesehen (vgl. Art. Geist), wie da in den Geniebegriff ein alter Bedeutungswandel der Vorstellung vom Heiligen Geiste, dem esprit créateur, hineinspielte. Auch der alte Goethe liebte es, das Genie produktiv zu nennen, und er legte in dieses Wort seine Meinung vom Magischen, Dämonischen im künstlerischen Schaffen mit hinein. Neuerdings haben ähnliche Menschen wie die, die sich zur Zeit von Goethes Jugend Genies nannten, im Gefühle ihrer Gottähnlichkeit sich als die Schaffenden von den nachahmenden Herdentieren unterscheiden wollen. Produktiv hätte am Ende an die Produkte des Marktes erinnern können; der Schaffende erinnerte an den Schöpfer, wie Genie an Genius. So wirkte Kants Geniebegriff noch[588] heute nach, und darum ist hier wohl der richtige Platz, endlich zu fragen, in der Sprache unsrer Zeit zu fragen, wodurch sich eigentlich die Schöpferkraft des Genies von der nachahmenden Tätigkeit geringerer Leute unterscheide.

Wir dürfen uns nicht dadurch irre machen lassen, daß wir an das Dogma von der Nachahmung der Natur durch die Künste nicht mehr glauben. Die Kunstschreiber jener Zeit waren ja nicht so dumm, wie sie uns ihre veraltete Sprache heute erscheinen läßt. Auch sie wollten ja im Grunde nicht mehr sagen, als daß die Phantasie des Künstlers nichts aus dem Nichts schaffe, daß sie immer nur gegebne Motive verarbeite. Wir drücken das heute nur präziser aus. Kein Künstler kann etwas darstellen, was er in seinen Teilen nicht vorher gesehen, gehört, erlebt hat; die tollste Malerphantasie vermag kein neues Motiv ganz neu zu erfinden. Anders ausgedrückt: Was aus der Phantasie eines Künstlers herauskommt, muß vorher in seinem Gedächtnisse gewesen sein; zum Künstler wird er durch die Gabe, die Motive neu zu ordnen, so daß sie den Schein des Lebens oder der Natur erhalten. Von Gottähnlichkeit, von Schöpferallmacht ist da keine Rede mehr. Das Wort Nachahmung ist wieder zu Ehren gekommen; die moderne Psychologie weiß es nur besser zu deuten als die alte Ästhetik. Der genialste Künstler ahmt unbewußt die von der Natur gegebenen Motive nach; das kleine Talent macht, mehr oder weniger bewußt, die von den Meistern geformten Motive nach. Da aber jede Kunst ihre Technik hat, die wieder unweigerlich gelernt werden muß, so hat auch jeder Meister Vorbilder in altern Meistern. So wird das Talent zu einem relativen Begriff, und so groß der Abstand sein mag zwischen Goethes Faust und einem Unterhaltungsdrama, so gibt es doch keinen Artunterschied zwischen dem Hervorbringen des einen und des andern Werks. Wenigstens nicht einen solchen Artunterschied wie zwischen der Schöpfung aus dem Nichts und irgendeinem Menschenwerk. So kunstfremd scheinen diese Ergebnisse der Psychologie; und das Genie behält höchstens. den Trost übrig, daß sein Wesen (wie das des Verbrechers)[589] mit dem des Wahnsinns verglichen wenden kann, nicht das Wesen des Kunstfabrikanten.

Daß Genie und Talent relative Begriffe seien, das wird leicht zugegeben werden. Daß es aber keinen Artunterschied gebe zwischen dem Künstler und dem Fabrikanten von Unterhaltungskunst, dagegen sträubt sich unser Sprachgefühl heute fast noch mehr, als das Sprachgefühl der Geniezeit es tat. Damals wurde jeder Arbeiter auf einem der freien Kunstgebiete ein Genie genannt, insbesondere jeder Worthändler; Kant, der doch der Geniesucht feindlich gegenüberstand, denkt bei Genie doch zumeist an Literaten, Maler und solche Leute. Wir verstehen unter Genies außerordentliche Menschen jeder Betätigung; ich möchte jetzt noch einmal hervorheben, daß Goethe die Worte Kants sehr frei wiedergegeben hat; Kant sagt: das Genie gibt der Kunst die Regel; Goethe läßt ihn sagen: es gibt durch Handeln und Tun Gesetz und Regel. Goethe, der nicht nur die Worthändler, sondern auch das Wort verachtete (»Im Anfang war die Tat«), der einen Napoleon wie einen Halbgott bewunderte, ist vielleicht für diesen neuesten Bedeutungswandel des Geniebegriffs verantwortlich zu machen. Der größte Dichter war kein Schönheitler, kein Ästhet. Das Leben ist wichtiger als die Kunst. Dämonisch, genial ist die große handelnde Persönlichkeit. Das Genie vermag über die Menschen alles durch Charakter und Geist. (Dichtung und Wahrheit, 14. Buch, am Schlüsse.) Und Goethe sagt einmal geradezu (Sprüche in Prosa 547): »Das Erste und Letzte, was vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe.«

Ich finde da schon den Gedanken vorbereitet, den Grillparzer so schön ausgesprochen hat, und just an der Stelle seiner Selbstbiographie (15. Band S. 152), wo er über seinen Besuch bei Goethe berichtet und tief ergriffen dennoch darüber raunzt, daß ihm Goethe nicht gerecht geworden sei, »insofern ich mich nämlich denn doch, trotz allem Abstande, für den Besten halte, der nach ihm und Schiller gekommen ist«. Die Worte über unser Thema aber lauten: »Nur aus der Verbindung eines Charakters mit einem Talente geht das hervor,[590] was man Genie nennt.« Ich fürchte, der Sklave meiner eigenen Worterklärungen zu werden, wenn ich in diesem Zusammenhange wieder daran erinnern wollte, daß die Begriffe Charakter und Persönlichkeit aufs engste mit dem Ichgefühl zusammenhängen, und daß die Selbsttäuschung, welche wir unser Ichgefühl nennen, doch nur eine andre Bezeichnung für unser Gedächtnis ist, eine neue Erscheinungsform des Proteus Gedächtnis. (Vgl. Art. Charakter und Persönlichkeit.)

Aber selbst diese Neutönung, die unsre individualistische Zeit im Genie nur noch die Persönlichkeit bewundern läßt, die uns mit einer akustischen Täuschung Persönlichkeit als ein deutscheres Wort empfinden läßt gegenüber dem Fremdworte Genie, geht über den alten Goethe hinaus fast in die Geniezeit selbst zurück. Klinger nennt einmal die Tugend ein Genie; Stilling nennt den vortrefflichen Lerse ein edles Genie; und selbst Herder, der Gelehrte des Geniewesens, der freilich durch seine Heftigkeit ein unsichrer Kantonist wurde, bald das Genie als ein Wort der Pöbelsprache verächtlich machte, bald dasselbe Wort (diesen Allemanismus) gegen den Mißbrauch und zugleich gegen Kant in Schutz nahm, selbst Herder stellt gelegentlich Genie und Charakter zusammen als Bezeichnung für die eigene gute Art eines Menschen, für seine Individualität.

Wenn wir so zwischen dem heutigen Sprachgebrauche und dem der eigentlichen Geniezeit einen deutlichen Unterschied bemerken, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß auch damals, als das Wort eine lächerliche Mode geworden war, der Sprachgebrauch ebenso schwankend war wie heute. Nur zwei Beispiele: Jean Paul, der in seiner »Vorschule der Ästhetik« wertvolle Bemerkungen über das Wesen des Genies sammelte, machte doch wieder über die Geniemänner den Spaß: »Sie schrieben bloß in abgerissenen Gedanken und in abgerissenen Hosen« (Palingenesien). Und Lichtenberg, der doch das große Genie, das technische Genie schon, fast in der Sprache unsrer Zeit, zu würdigen verstand, findet in seinem prachtvollen Kampfe gegen Lavaters Physiognomik immer[591] neue geniale Bosheiten gegen die Halbköpfigen (leider einmal auch gegen den Frankfurter Rezensenten, also gegen Goethe); keine dieser Bosheiten ist tiefsinniger als die folgende Stelle, die in etwas andrer Form schon in seiner Polemik gegen Zimmermann zu finden ist (»Tausende erwerben sich den Namen eines schönen Geistes. Am Ende ist's bloßes Kellereselsglück usw.«), und die ich dem Nachdenken meiner Leser empfehle: »Ich kann nicht leugnen, mein Mißtrauen gegen den Geschmack unsrer Zeit ist bei mir vielleicht zu einer tadelnswürdigen Höhe gestiegen. Täglich zu sehen, wie Leute zum Namen Genie kommen, wie die Kelleresel zum Namen Tausendfuß, nicht weil sie soviel Füße haben, sondern weil die meisten nicht bis 14 zählen wollen, hat gemacht, daß ich keinem mehr ohne Prüfung glaube.« (I 255). Daß Lichtenberg selbst die Füße des Tausendfußes da nicht ganz gut gezählt hat, schadet der Weisheit seines Satzes nicht.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 583-592.
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