Alost.

[20] Hier fand ich in der Martinskirche eine sehr schöne Orgel, welche die ganze Westseite der Kirche anfüllt, und erst vor fünf Jahren von Van Petigham und Sohn, gebürtig aus Gent, gebauet worden. Ihre Form ist elegant, und die Zierrathen in gutem Geschmacke. Sie hat fünf und dreissig Stimmen, drey Claviere, ein Hauptwerk, Seitenwerk und Rückpositiv, das in der Tiefe bis ins ungestrichne f geht.2 Die Tasten drücken sich leichter nieder, als man nach der grossen Luftsäule, die zu einer so grossen Anzahl Stimmen erforderlich ist, erwarten sollte. Die Rohrstimmen sind von gutem Klange, die zusammen[20] gesetzten Stimmen nicht schwirrend, und die Wirkung des vollen Werkes ist reichhaltig und edel.

Ich war in meiner Untersuchung dieses Werkes um so viel genauer, weil ich mich dadurch in den Stand setzen wollte, seinen Inhalt mit dem Inhalte der grossen Werke zu vergleichen, die ich in der Folge meiner Reise in Deutschland und Holland sehen würde. Die französischen Orgelbauer werden selbst von den Deutschen, wegen der Simplicität in ihren Bewegungen und der Einrichtung des Ganzen hochgeschätzet; allein die Veränderungen, die man mit diesen Stimmen hervorbringen kann, stehn nicht im Verhältniß mit ihrer Anzahl. Wir haben in England gemeiniglich mehr Solostimmen in unsern Orgeln, die nur halb so groß sind, und nur die Hälfte kosten. Indessen hat der, vor einiger Zeit verstorbene, berühmteste deutsche Orgelbauer, Silbermann, sich viele Jahre in Frankreich aufgehalten, und daselbst gearbeitet. Hier merkte er sich verschiedene Verbesserungen, die er bey den Orgeln, die er hernach in seinem Vaterlande bauete, anzuwenden wußte.

Ausser der Orgel, werden in der Kirche zu Alost die Sänger beständig von sechs oder acht Instrumenten begleitet, und an den Festtagen von einem starken Orchester: und so viel ich urtheilen konnte, ist die Spielart des Organisten und seines Sohnes, italiänischer, oder wenigstens deutscher, als in irgend einer Kirche in Frankreich.

2

Im Pedal geht es noch zwey Octaven tiefer.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. II]: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, Hamburg 1773 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 20-21.
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Tagebuch einer musikalischen Reise: Durch Frankreich und Italien, durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland 1770-1772