a) Opera seria

[447] Mozarts erste Opera seria, »Mitridate, re di Ponto«, ist am 26. Dezember 1770 in Mailand zur Aufführung gekommen. Die »scrittura«, der Auftrag, sie zu komponieren, ist die Frucht der Bewunderung, die der Knabe zu Beginn dieses Jahres im Haus des Grafen Firmian, Generalgouverneurs der Lombardei, erregt hatte. Wobei Firmian sicherlich nicht versäumt hat, sich in Wien die allerhöchste Erlaubnis einzuholen, das Experiment mit dem Wunderkind zu wagen, und so hätte Mozart vom Haus Habsburg am Anfang seiner Laufbahn doch bedeutendere Beweise von Gunst erfahren als Küsse und getragene Hofkleider. Ich vermute, daß mit dem Auftrag auch das berühmte Gutachten über den Knaben in Zusammenhang steht, das Johann Adolf Hasse, der ruhmreichste italienische Opernkomponist der Zeit, in zwei Briefen (30. September und 4. Oktober 1769) an den Abate Ortes in Venedig abgab. Hasse wußte um Leopolds italienische Reisepläne; und Leopold wird sein Verlangen nicht verschwiegen haben, seinem Sohn den höchsten Triumph einer solchen Reise, eine »scrittura« zu verschaffen. Und der vorsichtige Wiener Hof suchte sich durch eine Anfrage bei Hasse zu sichern. Mozart stand in der Mitte seines fünfzehnten Jahres, als er das Libretto, das ein paar Jahre vorher (1767) schon durch den[447] Turiner Musiker Quirino Gasparini komponiert worden war, in die Hand bekam. Musikalische Vorbilder hatte er genug: Johann Christian Bach, Hasse, Guglielmi, Piccinni, Jommelli – dessen »Armida abbandonata« er in entscheidender Zeit in Neapel hörte und die ihm anfänglich (29. Mai 1770) sehr gefiel (»è ben scritta e mi piace veramente« – »sie ist gut geschrieben und gefällt mir wirklich«), die er aber ein paar Tage später (5. Juni), vermutlich unter dem Einfluß Leopolds, zwar immer noch für schön erklärte, »aber zu gescheut und zu altväterisch für's Theater«. Leopold hatte Angst, der Sohn könne sich allzuweit vom »popolare« entfernen und den Sängern in Mailand zu gewagte, eigenwillige Aufgaben stellen.
Es steht seltsam um diese erste Opera seria Mozarts. Bei der »Finta semplice« hätte Mozart, zehn Jahre älter, sich geweigert, solchen elenden und zusammenhanglosen Unsinn zu komponieren. Beim »Mitridate« hätte dem Knaben irgendein Einsichtiger – und Leopold in seinem blinden Ehrgeiz ist das nicht gewesen – sagen müssen: »Laß die Finger davon! Denn das geht über deine Kräfte. Warte, bis du reifer sein wirst, denn das ist das beste Libretto einer Opera seria, das du je in die Hände kriegen wirst!« Und das wäre wahr gewesen. Der italienische Bearbeiter, Vittorio Amadeo Cigna Santi, hatte dabei das geringste Verdienst. Ehrlich vermerkt er im Libretto, nach dem »argomento«, der Inhaltsangabe, seine Quelle: »Veggasi la tragedia del francese Racine, che si è in molte parti imitata« – »Man sehe Racines Tragödie, die hier vielfach benutzt ist.« Es war nicht das erste Mal, daß Racines »Mithridates«, der zur Zeit der Komposition durch Mozart fast hundert Jahre alt war (1673), für ein Libretto hergehalten hatte. Apostolo Zeno hatte den Stoff 1728 benutzt, Leopoldo Villati ihn für Karl Heinrich Graun bearbeitet (1751). Und in allen Fällen war wenigstens etwas übriggeblieben von dem Adel, der Noblesse, der echten Leidenschaft, der Humanität des Urbildes. Um den Tod Mitridates war nicht herumzukommen, und wenn dieser Tod auch die Aussicht auf eine Doppelhochzeit ermöglicht, so bleibt doch immer noch eine tragische Hauptperson, kein reines »happy ending«. Mitridate ist ein asiatischer Despot; aber sein unglücklicher Kampf gegen Rom gewinnt ihm unsere Sympathie, und wir können dem Alternden[448] nicht übelnehmen, wenn er seine Braut, Aspasia, seinen beiden Söhnen, Sifare und Farnace, nicht ohne weiteres abtreten will. Sifare ist strahlend weiß, Farnace schwarz, aber nicht ganz schwarz, was einen versöhnlichen Ausgang ermöglicht. Die Handlung ist einfach und konsequent, und – das Wichtigste: fast alle Arien sind Aktions-Arien, wachsen heraus aus der Situation, sind nicht wie bei Metastasio altkluge und feingedrechselte Sentenzen, die man ohne weiteres miteinander vertauschen kann. Verfehlt ist nur der dritte Akt, der halb gedehnt (im Augenblick höchster Gefahr singt Mitridate eine Aria: statt fortzustürzen), halb überstürzt ist – die Opera seria ist eben eine von Beginn an von Apoll verwünschte Gattung, die nicht erlaubt, auch nur innerhalb ihres eigenen Rahmens sich der Vollkommenheit zu nähern.
Mozart ist zu jung, um die Vorteile dieses Librettos zu nutzen. Er denkt natürlich nicht ans Drama, sondern an die Sänger, und muß es tun, da er sie zu kaptivieren gezwungen war. Obendrein komponiert er erst alle Rezitative und dann erst alle Arien (und Recitativi accompagnati), was voraussetzt, daß er sich immerhin einen Plan der Tonarten für alle Stücke gemacht hatte. Er komponiert stereotype Nummern, ganz besonders stereotype im neuneapolitanischen Stil für Mitridate selbst, der zum Beispiel den ersten Akt mit einer fast buffonesken Aria (9) abschließt. Er hat für vier Sänger fast gleichen Zuschnitts zu schreiben: für zwei weibliche Soprane und für einen Sopran- und einen Altkastraten, und er mag eine Kantilene noch so charakteristisch oder feinsinnig anspinnen, der Sänger und die Hörer warten doch in jedem Fall auf Virtuosität und Koloratur. Mozart hat keinen Mut; auch nicht im Rezitativ, auch nicht im Orchester, das fast immer primitiv begleitet. Aber neben Konzertstücken, neben Arien mit langen Ritornellen finden sich doch auch solche, in denen Mozart den dramatischen Funken benützt, in denen die Passion nicht warten will. Mitridates Auftrittsaria (7) geht weit hinaus über bloße Routine: der Geschlagene betritt die Heimat, er ist wund und weich; diese erste Aria verhindert allein, in ihm einen Theaterwüterich zu sehen. Aspasias Aria in g-moll (4) ist in ihrer explosiven Unmittelbarkeit immer bewundert worden. Der Römer Marzio ist in seiner einzigen, an[449] sich überflüssigen Aria (21) mit dem soldatischen Marschrhythmus gut charakterisiert. Und das Duett am Ende des zweiten Aktes ist einfach schön und treffend an dieser Stelle. Das Urteil der Kenner mag folgendermaßen gelautet haben: wieviel überflüssige Noten! Jeder italienische Komponist hätte einfacher und dabei wirkungssicherer gearbeitet. Aber welch ein Talent!
Zwischen »Mitridate«, der ersten Mailänder Opera seria, und dem »Lucio Silla«, der letzten, liegt ein Mailänder Intermezzo. Es heißt »Ascanio in Alba« und ist eine »Serenata teatrale« oder »Festa teatrale«, mit deren Komposition Graf Firmian im Auftrag der Kaiserin den Knaben gelegentlich der Feierlichkeiten zur Vermählung des Erzherzogs Ferdinand mit der Prinzessin Maria Ricciarda Beatrice von Modena betraute. Früher hatte man eine solche Serenata zwischen die drei Akte einer Opera seria eingelegt; bei einer so solennen kaiserlichen Vermählung aber tat man es nicht unter einem eigenen Abend und ließ ihr die eigentliche Festoper folgen. Diese Festoper war der »Ruggiero o vero L'eroica gratitudine« Metastasios, komponiert von J.A. Hasse – dessen letztes Werk. Leopold Mozart war auch sofort bei der Hand, das Werk seines Sohnes gegen das des alten Meisters auszuspielen (19. Oktober 1771): »Kurz! mir ist Leid, die Serenata des Wolfgang hat die opera von Hasse so niedergeschlagen, daß ich es nicht beschreiben kann ...« Mozart komponierte es in vier Wochen, im September 1771, erst die Sinfonia, die eine richtige Buffo-Sinfonia ist und unmittelbar in Ballett übergeht; dann die Rezitative und Chöre, endlich die Arien. Es war ein Auftrag, der seinem Alter und Genius durchaus gemäß war. Denn es handelt sich um eine rein dekorative Schöpfung, in der nichts weiter zu tun war, als Chöre, Tänze, Rezitative beider Art: secchi und accompagnati, in möglichst guter musikalischer Einkleidung aneinanderzureihen. Dramatische Ansprüche werden nicht gestellt. Der Festdichter, Giuseppe Parini, der berühmte, viel angefeindete, nur von Graf Firmian protegierte Verfasser des »Giorno«, hatte Mühe genug, die Handlung bis zur nötigen abendfüllenden Länge auseinanderzuziehen. Das erzherzogliche Brautpaar sieht sozusagen seine eigene erste Begegnung auf der Bühne widergespiegelt[450] in heroisch-pastoraler Maskerade, Ferdinand ist Ascanio, der Enkel der Göttin Venus, und Maria Beatrice ist die Schäferin Silvia, aus dem Geschlecht des Alciden. Die einzige Komplikation der Handlung, gipfelnd in einer Ohnmacht Silvias, ergibt sich daraus, daß Venus ihrem Enkel verbietet, sich gleich von Anfang an als der Auserwählte erkennen zu geben. Auch auf dramatisches Tempo kommt es nicht an. Die längste Aria hat der (sopransingende) und höchst überflüssige Fauno. Im übrigen kann Mozart lange und wechselvolle Recitativi accompagnati schreiben, den Sopranistinnen koloraturenreiche Arien und seinem geliebten Manzuoli Gelegenheit geben, seine schönen tiefen Register zu ziehen und »spianar la voce«. Ein Terzett will nicht viel besagen. Eine neue Aufgabe waren nur die Chöre der Nymphen und Schäfer, von denen »fünf zugleich getanzt werden«. Sie sind wohlklingend und fast ganz homophon; einer davon (6) muß bis zum Überdruß häufig wiederholt werden. Man denkt bei dem Ganzen an einen französischen Gobelin, auf dem Schäfer sich heroisch und Heroen schäferisch gebärden.
Eine ähnliche Aufgabe wartete Mozarts ein paar Monate später in Salzburg. Hieronymus Colloredo war im März 1772 zum Fürsterzbischof gewählt worden, und für die Huldigungsfeierlichkeiten komponiert Wolfgang den »Sogno di Scipione« Metastasios, der einst (1735) für eine ganz andre Gelegenheit gedichtet worden war, nämlich zum Geburtstag der Kaiserin Elisabeth. Es ist eins der traurigsten Produkte des kaiserlichen Hofdichters: eine »dramatische« Version von Ciceros »Somnium Scipionis«. Scipio der Jüngere ist eingeschlafen im Palast des Massinissa; da erscheinen ihm im Traum die Göttinnen der Standhaftigkeit (Costanza) und des Glücks (Fortuna) und verlangen von ihm sofortige Entscheidung, welcher von ihnen er im Leben folgen wolle. Fortuna macht sich besonders lästig. Costanza teilt ihm mit, er befinde sich in der Region des Himmels, wo seine abgeschiedenen Vorfahren weilen; nebenbei erfährt er etwas über die Mechanik der Sphärenmusik. Die seligen Herrschaften säumen denn auch nicht, sich in einem Chor zu produzieren; Scipios Adoptivvater, Scipio Africanus, belehrt ihn über die Unsterblichkeit der Seele und die Belohnung[451] der Guten im Jenseits, und der leibliche Papa, Aemilius Paullus, zeigt ihm die Erde als bloßen Funken im Weltraum und demonstriert ihm so die Nichtigkeit alles Irdischen. Scipio möchte denn auch gleich in die Gesellschaft der Seligen aufgenommen werden, wird aber darauf aufmerksam gemacht, daß er vorher noch die Pflicht habe, Rom zu retten. Er entscheidet sich, natürlich, für Costanza, worauf Fortuna, unter Blitz und Donner, sich als eine arge Furie entpuppt. Scipio erwacht, und eine »Licenza«, eine Apostrophierung des Erzbischofs, zieht die Moral aus der Geschicht'.
Für Mozart war die Komposition dieser Armseligkeit lediglich ein Werk der Routine. Der Reiz der szenischen Gestaltung fiel so gut wie ganz weg; so schreibt er längere Arien als im »Ascanio«, eher größerer (und daher provinzialerer) Virtuosität, und bedenkt reichlicher das Salzburger Orchester, das er besser kannte als das Mailänder. Im Chor der seligen Heroen nimmt er sogar einen Anlauf zu feinerer Arbeit. Nicht der geringste Versuch, Fortuna zu charakterisieren; alles bleibt stecken im Dekorativen. Warum er die Sopranaria der »Licenza« später nochmals komponiert hat, wissen wir nicht, denn von einer Wiederholung der Gelegenheitsarbeit ist nichts bekannt. Mozart nähert sich seinem siebzehnten Geburtstag, als er seine letzte Oper für Italien schreibt, den »Lucio Silla«, der Weihnachten 1772 in Mailand aufgeführt wurde und wiederum dem erzherzoglichen Paar gewidmet war. Das Libretto stammte diesmal von Giovanni de Gamerra aus Livorno (1743 bis 1803), der erst Abt, dann Soldat gewesen war und da mals an den Anfängen seiner literarischen Laufbahn stand; er gebrauchte die Vorsicht, sein Machwerk durch Metastasio begutachten zu lassen, der diesem denn auch, nach einigen Änderungsvorschlägen, seine »volle Billigung« aussprach. Wir würden ihm zuviel Ehre antun, wenn wir die Handlung im einzelnen erzählen wollten. Lucio Silla, der Diktator Roms, wünscht zur Gattin Giunia, die Tochter des C. Marius, die verlobt ist mit dem Verbannten Cecilio. Cecilio ist heimlich nach Rom zurückgekehrt: Schluß des ersten Aktes das Wiedersehen der Liebenden am Grab des Marius. Inhalt des zweiten: Verschwörung gegen Silla, an der nicht nur Cecilio beteiligt ist, sondern auch[452] sein Freund Cinna, der von Sillas Schwester Cecilia geliebt wird. Mißlingen des Anschlages: Verhaftung Cecilios. Dritter Akt: Cecilio muß sterben, ein Schicksal, das mit ihm zu teilen Giunia bereit ist. Aber am Ende, nach pathetischer Anklage Sillas durch Giunia vor versammeltem Senat und Volk, erweist sich Silla, gut metastasianisch, plötzlich als durchaus edelmütig, verwandelt sich aus einem Diktator in einen Bürger und hat gegen eine Doppelhochzeit nicht das geringste mehr einzuwenden.
Das Libretto enthält zwei Arien Sillas, die Mozart nicht in Musik gesetzt hat, aber offenbar nur aus äußeren Gründen. Der Tenorist, Bassano Morgnoni, dem man notgedrungen die Hauptrolle des Silla hatte anvertrauen müssen, war ein solcher Neuling, daß Mozart nicht wagte, ihm mehr als zwei Arien zuzumuten, und auch diese beiden sind die konventionellsten der ganzen Oper. So konzentrierte er seine ganze Kraft auf die Arien der beiden Sänger ersten Ranges, die ihm für die Rollen der Giunia und des Cecilio zur Verfügung standen. Anna de Amicis und Venanzio Rauzzini. Für die de Amicis komponiert er ein paar so glänzende und virtuose, daß er sie (Nrn. 4, 11, 16) noch 1777 und 1778 für Aloisia hervorholt und eine von ihnen, die letzte, noch 1783 in Wien durch Therese Teyber singen läßt; aber neben diesen Prunkstücken steht eine andre in c-moll (22), ganz einfach und kurz in der Form, ohne allen virtuosen Schmuck, so erlebt und empfunden, daß sie mit Ehren noch im Mund der Donna Anna figurieren könnte. Rauzzini erhält ein paar lyrische Stücke von ähnlicher Schönheit, und beide zusammen erhalten ein Duett, das in seinem sinnlichen Glanz Dinge aus »Così fan tutte« vorausnimmt. Für beide Sänger schreibt er auch die schönste Szene der Oper: ihre nächtliche Begegnung auf der Grabstätte, mit einem der zahlreichen ausdrucksvollen Recitativi accompagnati des Werks und einem »lugubre canto« des Chores – eine der seltenen Szenen der Opera seria, in denen eine szenische Stimmung lebendig wird. Ein anderer Vorstoß ins Tragische ist das Terzett am Ende des zweiten Aktes, in dem das Paar der Liebenden nicht nur dramatisch, sondern auch musikalisch gegen den drohenden Diktator steht – so wie dereinst Leonora und Manrico gegen den[453] Grafen Luna stehen werden: Keim eines größeren Finales ... Aber im ganzen ist das Werk höchst unglücklich und ungleich. Nicht wegen der vielen Arien der »Sekondarier«, von denen eine, die Sängerin der Celia, ausgesprochene Buffoneigungen hatte und offenbar in Staccati zu brillieren wünschte. Nicht wegen der falschen Heroik, die Mozart nichts mehr sagte, sondern weil er überhaupt in eine falsche Stellung zur Gattung geraten war. Er schreibt viel zu schöne, zu reiche, zu überladene, zu sehr instrumental konzipierte Musik. Er entledigt sich einer rein musikalischen Aufgabe; die Aria ist für ihn zu einem sinfonischen Satz mit dominierendem Gesang geworden. In der Tat hätte er ihr den Stoff zu einem Dutzend Sinfonien entnehmen können. Das haben die Zuhörer offenbar instinktiv empfunden. Leopold berichtet (2. Januar 1773) ausführlich über den Unstern, der über der ersten Aufführung waltete. Aber auch die folgenden Wiederholungen – angeblich mehr als zwanzig – haben keine dauernde Wirkung. Das Werk bleibt auf Mailand beschränkt, keine andre Bühne übernimmt es. 1774 schreibt Anfossi für Venedig einen neuen »Lucio Silla«, und 1779 arbeitet Gamerra seinen Text für Michele Mortellari in Turin um. Mozart hat nie mehr eine Oper für Italien komponieren können.
Was für den »Lucio Silla« gilt: daß Mozart den Arien Stoff für ein Dutzend Sinfonien hätte entnehmen können, das gilt in ähnlichem Sinn noch mehr für das »Componimento drammatico«, das er im April 1775 in Salzburg für die Festlichkeiten bei der Durchreise des Erzherzogs Maximilian Franz, des jüngsten Sohns der Kaiserin, zu schreiben hat. Es war der »Re Pastore«, eine der späteren Arbeiten Metastasios. Obwohl Metastasio nach der Vollendung an einen Freund, den Conte di Cervellon, schrieb (6. Dezember 1751): »Non ho mai scritto alcuna delle mie opere con facilità uguale e della quale io abbia meno arrossito« – »Keins meiner Werke habe ich mit gleicher Leichtigkeit geschrieben und über keins habe ich weniger zu erröten«, ist es doch eins seiner schwächsten Machwerke: die zwei Liebespaare, die da unter dem Patronat Alexanders des Großen das Thema: »Staatsraison und Liebe« abhandeln, produzieren wahre Sturzbäche an Edelsinn, und süß wie Sirup tropfen Weisheiten[454] über die Pflichten eines Herrschers. Die Arien – halb heroisch, halb pastoral – stehen kaum in Zusammenhang mit der Handlung. Es bleibt Mozart gar nichts andres übrig, als schöne Musik zu schreiben, wiederum sehr instrumental empfundene Musik. Aber diesmal ist sie weniger sinfonisch als konzerthaft, konzipiert für drei Soprane und zwei Tenöre als »voci principali«. Einer der drei Soprane (Tamiri) wird freilich sehr stiefmütterlich behandelt. Es ist ja das Jahr der fünf Violinkonzerte, und manche der Arien, in denen die Seconda parte einfach die Funktion der Durchführung übernimmt, gleichen durchaus Konzertsätzen en miniature. Einer Arie (Nr. 3) hat Mozart das Hauptthema zum Violin-Concert in G wörtlich entnommen. Andere wieder sind höchst reizvolle Andantinos, in denen die Singstimme die Rolle des obligaten Solos durchführt. Zwei verwenden konzertante instrumentale Soli im Wettbewerb mit der Stimme: eine heroische Alessandros die Flöte, eine lyrische Amintas (»L'amerò, sarò costante«) die Violine; – diese zweite, ein Rondo, verunziert durch eine geschmacklose Kadenz des 19. Jahrhunderts, ist sehr bekannt geworden. Ein hübsches Duett beschließt den ersten, ein »Vaudeville« – Tutti-Ritornell mit Soli – den zweiten Akt. Der Abstand, der das Werk, nach kaum zweieinhalb Jahren, von den Mailänder Opern und der »Betulia« trennt, ist inkommensurabel. Wenn es noch eine Beziehung gibt, so ist es die zu dem dekorativen »Ascanio in Alba«. Aber in diesem »Re Pastore« herrscht eine ganz neue Erfindung – wärmer, blutvoller, persönlicher, weniger schematisch. Alles ist reicher und dabei prägnanter – nicht bloß kürzer; man sieht, Mozart ist des Salzburger »langen Geschmacks« bereits müde geworden. Er schreibt, wenn welche überhaupt, keine langatmigen Orchesterritornelle mehr, und er schreibt seine erste wirkliche, einsätzige, thematisch belebte Ouvertüre, die mit der »Sinfonia« nichts mehr gemein hat. Er hat sie denn auch noch im Februar 1778 in Mannheim, in einer Akademie bei Cannabich, zur Aufführung gebracht, dabei vermutlich die erste Aria, ein Andantino, als Mittelsatz benutzt und ein Finale dazukomponiert.
Fünf Jahre lang – Jahre angefüllt mit der ewigen Sehnsucht nach einer Oper, mit dramatischen Anläufen und der Komposition[455] dramatischer Surrogate – will sich kein Opernauftrag mehr einstellen. In seiner Verzweiflung beginnt Mozart sogar, auf eigene Hand, mit der Komposition einer »teutschen Oper«, die noch die meiste Aussicht hat, auf die Bühne zu kommen: die »Zaide«. Da kommt, nach der Rückkehr von Paris, die große Gelegenheit. Karl Theodor bestellt für den Münchner Karneval von 1781 eine Opera seria, und, wie sich der Münchner Lokalbericht nach der Aufführung am 29. Januar ausdrückt, das Werk ist durchwegs ein Salzburger Produkt: die Musik stammt von dem Salzburger Hoforganisten Wolfgang Amadeus Mozart, das Libretto von Abbate Gianbattista Varesco, dem Hofkaplan Colloredos, und die dem Druck des Librettos beigegebene deutsche Übersetzung von Andreas Schachtner, Salzburger Hoftrompeter und Freund der Mozartschen Familie.
Zum erstenmal ereignet sich, was auf das volle Erwachtsein von Mozarts dramatischem Instinkt deutet: der Konflikt zwischen Komponist und Librettist. Der Stoff, den Varesco zu bearbeiten hatte, war nicht schlecht und war obendrein jedermann in seiner biblischen Fassung bekannt, nämlich als die Geschichte von Jephtha, der aus dem Krieg heimkehrend das Gelübde tut, das erste in der Heimat ihm begegnende lebende Wesen Gott als Opfer darzubringen, und auf seine Tochter trifft. In der Oper ist natürlich die Fabel ins Griechische gewandelt: Idomeneo, König von Kreta, kehrt heim von der Zerstörung Trojas, von wo er als Gefangene unter andern schon Ilia, Tochter des Priamus, vorausgeschickt hat. Bis zum Ende verfolgt von Poseidons Zorn, tut er im letzten Sturm angesichts der heimatlichen Küste das verhängnisvolle Gelübde und begegnet seinem Sohn Idamante, dem er, nach der Erkennungsszene, das furchtbare Geheimnis nicht zu eröffnen wagt. Arbace, sein Vertrauter, rät ihm, Idamante von dem gefährlichen Schauplatz verschwinden zu lassen, indem er ihn Elettra, Schwester des Orest (die sich, weiß der Himmel warum, auf Kreta befindet), nach Argos geleiten läßt. Aber Poseidon läßt nicht mit sich spaßen. Im Augenblick der Abfahrt erregt er neuen Sturm und schickt ein Seeungeheuer, das die Bevölkerung noch mehr dezimiert als dereinst – armes Kreta – der Minotauros. Idamante erlegt zwar die mythologische Bestie, aber[456] der Hohepriester des Gottes besteht auf Nennung des Opfers. Idomeneo muß mit der Sprache herausrücken und ist bereit, den Sohn zu opfern – da stürzt Ilia dazwischen und bietet sich an als Ersatz. Das versöhnt die Gottheit: eine unterirdische Stimme befiehlt die Abdankung Idomeneos zugunsten Idamantes und dessen Verbindung mit Ilia. Die arme Elettra hat das Nachsehen und ist wütend.
Die Vorlage Varescos war eine Tragédie lyrique des Antoine Danchet gewesen, die Campra (1712) in Musik gesetzt hatte; und das Libretto hat dem französischen Modell sehr viel zu danken. Es mag in der Versifikation metastasianisch sein; aber in der Anlage und im Geist ist es gar nicht metastasianisch. Niemals hat Metastasio einem Musiker Gelegenheit zu einer so großartigen Szene geboten wie dem Schiffbruch Idomeneos vor Augen des geängstigten Volkes, es müßte denn der Brand Karthagos am Ende seiner »Didone abbandonata« sein; nie hat er den Chor so sehr als Akteur, so stark in die Handlung eingreifend eingeführt; ganz bestimmt hätte er irgendeine männliche Puppe erfunden, um Elettra nicht am Schluß leer ausgehen zu lassen – was für ein metastasianischer Meisterzug wäre es zum Beispiel gewesen, aus Elettra und Vater Idomeneo ein Paar zu machen! ... Damit ist keineswegs gesagt, daß das Libretto gut ist. Aber Mozart, der jetzt fünfundzwanzig Jahre alt war, hinter dem die Mannheimer Erfahrungen und das Pariser Erlebnis lagen, hätte es nicht mehr in Musik gesetzt, wenn er es nicht brauchbar gefunden hätte. Er sucht es noch brauchbarer zu machen und hat dabei, wie seine Briefe an den Vater vom 8. November 1780 an dartun, mit dem Dichter seine liebe Not. Varesco war ein eitler und eigensinniger Narr und hat es durchgesetzt, daß sein Produkt im ersten Druck ungekürzt veröffentlicht wurde. Aber Mozart hat es mit voller Freiheit verändert. Seine Devise lautet: Kürze; immer wieder stöhnt er: »Es wird doch gar zu lang!« (24. November 1780). Er legt gar keinen Wert darauf, daß eine Aria unbedingt eine Seconda parte haben muß: »... wir brauchen ... gar keinen zweyten Theil – desto besser« (29. November); es fällt ihm nicht im Traum ein, all die Strophen zu komponieren, die Varesco für die Chöre bereitgestellt hat. Seine Sorgfalt erstreckt sich aufs[457] kleinste Detail, wie klangvolle Vokale, und erstreckt sich auf das Größte: die szenische Konvenienz und die szenische Gesamtwirkung.
Man hat bemerkt, daß Mozart im »Idomeneo« sich der französischen Oper im allgemeinen und Gluck im besonderen genähert habe, und es ist unbestreitbar, daß die gewaltige Beteiligung des Chores, der Abschluß des ersten Aktes mit einer Chaconne, das heißt einer großen dekorativen Chorszene, die Einführung von Märschen und die Ballettmusik »französisch« sind und daß, wie bei Mozart eine unterirdische Stimme mit Posaunenbegleitung, so in der »Alceste« Glucks ein Orakel Entscheidungen herbeigeführt hatte. Aber im Grunde war Mozart nie unabhängiger als im »Idomeneo«. Er hat dies Werk in einem wahren musikalischen Rausch geschrieben. Zum erstenmal darf er ins volle greifen, zum erstenmal in der Oper ist er Herr aller Mittel! An den Sängern hat er keine ungetrübte Freude: auf den alten Raaff, dessen letzte Rolle Idomeneo gewesen ist, müssen peinliche Rücksichten genommen werden, Panzacchi (Arbace) ist ebenfalls bereits ein ältlicher Routinier, und der Kastrat Del Prato (Idamante) ist ein stocksteifer Anfänger. Aber mit den Damen, Dorothea und Liesel Wendling (Ilia, Elettra) hat er nicht die mindesten Anstände. Vor allem aber: er verfügt über das erste Orchester der Welt! »... kommen Sie doch bald und hören Sie – bewundern Sie das Orchestre!« schreibt er gleich nach der Ankunft in München dem Vater (8. November 1780). Und so erleben wir in dieser Partitur, die zu studieren man nicht müde wird und die ewig das Entzücken jedes echten Musikers bleiben wird, eine wahre Explosion musikalischer Erfindungskraft. Nicht bloß musikalischer, sondern auch musikalisch-dramatischer. Wir bemerken das nur nicht mehr, weil die Opera seria uns eine fremde Form geworden ist. Aber der »Idomeneo« hat kaum mehr etwas gemein mit den früheren Opere serie oder Feste teatrali Mozarts; man müßte denn fordern, daß Mozart hier die ganze Gattung über den Haufen hätte werfen müssen. Er hätte dann auf Elettra verzichten können; aber damit auf die Gelegenheit zu ein paar der schönsten Arien, zum Beispiel die Wutarie in c-moll (Nr. 29), die der Königin der Nacht nicht unwürdig ist. Er hätte[458] auch den völlig überflüssigen Arbace eliminieren müssen, der, unter anderem, in einer trüben Vorahnung von Kretas Schicksal folgende Arie zu singen hat:
»Se colà ne'fati è scritto, Creta, o Dei, s'è rea, or cada, Paghi il fio del suo delitto, Ma salvate il prence, il re. Deh d'un sol vi plachi il sangue, Ecco il mio, se il mio v'aggrada, E il bel regno che già langue, Giusti Dei! abbia mercè.« Würde man hier die Singstimme durch ein Violoncell ersetzen, so hätte man eins der schönsten Konzert-Andante, die Mozart je geschrieben hat. Mozart hat Ähnliches selbst getan: in Apollo und Hyacinthus. Aber so rein instrumental oder formal konzipiert sind nur wenige Stücke der Oper. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß nichts in ihr gegeben, nichts traditionell, nichts schematisch ist. Für Raaff schreibt Mozart noch eine heroische Aria (»Fuor del mar«, Nr. 12) im alten Zuschnitt, die dennoch zu einem unerhörten Prachtstück wird. Das Orchester folgt den kantablen Herrlichkeiten der Stimmen mit einer Beweglichkeit, Sorgfalt, Sinnlichkeit, die zu bewundern man nicht müde wird. Manchmal holt Mozart die Solisten des Orchesters hervor, so in Ilias Aria »Se il padre perdei« (11) Flöte, Oboe, Fagott, Horn. Die Farbigkeit mancher Szenen ist vielleicht nur von Berlioz noch erreicht worden: die letzte des zweiten Akts, die mit einem Barcarolenidyll in E-dur beginnt, ein wundersames Terzett bringt, mit dem Sturm und der Flucht des Volkes (d-moll) endigt. Mozart schreckt vor keiner Kühnheit zurück: auch nicht vor dem Schiffbruch mit den zwei kontrastierenden Chören, dem auf der Szene und dem Fernchor. Das Quartett (Nr. 21), in dem Idamante Abschied nimmt, hatte das Bedenken Raaffs hervorgerufen – Mozart setzt es durch, als das vielleicht innerlichste und empfundenste Stück der ganzen Oper. Es ist das erste wirkliche,[459] große Ensemble in der Geschichte der Opera seria. Er schreibt keine Alltagsnummern mehr. Für uns scheint es, als wenn Mozart im »Idomeneo« eine Kette seiner besten vokalen Konzertstücke – Recitativi accompagnati, Arien und Ensembles – in einen dramatischen Zusammenhang gebracht, durch eine pompöse, unheimliche Ouvertüre eröffnet und durch Chorszenen und Instrumentalstücke verbunden hätte. Aber für die Zeit war »Idomeneo« ein Drama in Opernform von unerhörter Freiheit und Kühnheit.
Es ist eins der Werke, die auch ein Genius höchsten Ranges wie Mozart nur einmal im Leben schreiben kann. Es ist eine Opera seria sui generis. Sie verbreitete sich nicht weiter, weil sie eben in ihrer Zeit nur in München aufführbar war. Mozart will sie nach Wien verpflanzen und denkt an eine Aufführung in deutscher Übersetzung, nach dem Vorgang Glucks mit einigen seiner Opern, muß den Gedanken aber aufgeben. 1786 ist es anscheinend zu einer Konzertaufführung gekommen in privatem Kreis, die Mozart auch durch einige durchaus konzerthafte Stücke (K. 489 und 490) bereicherte. Wie immer, so später auch bei »Don Giovanni« und »Figaro«, hat er dabei seinem eigenen Werk unendlich geschadet – nur die Eliminierung der Figur des Arbace war vielleicht eine Verbesserung. Aber auch in Wien, fünf Jahre später und um fünf Jahre gereifter, findet er an ihrer musikalischen Wesenheit nichts zu ändern. Es heißt, er habe unter all seinen Werken den »Idomeneo« am meisten hochgehalten und geliebt. Und das wird jeder wirkliche Musiker begreifen. Zehn Jahre lang hat Mozart keine Opera seria mehr geschrieben; – Wien war trotz Gluck und vielleicht gerade wegen Gluck keine Stadt der italienischen ernsten Oper mehr. Gluck hatte den Wienern seine »Alceste« förmlich aufdrängen müssen; das Gewicht seiner Persönlichkeit und seines europäischen Ruhms ließ es dann, Anfang der achtziger Jahre, wohl zur Aufführung seiner Pariser Opern in deutscher Sprache kommen, aber der tiefere Eindruck stellte sich nicht ein in Wien, sondern in Norddeutschland, vor allem in Berlin. Feste waren am kaiserlichen Hof nicht mehr viel zu feiern; die Kaiserinmutter, Maria Theresia, war tot seit 1780, und der Kaiser, verwitwet[460] und kinderlos, war für die Opera seria, mit ihren Dekorationen und Kastraten, viel zu sparsam.
Da trifft Mozart, im Sommer seines Todesjahres, noch ein Auftrag. Die böhmischen Stände ließen ihn durch den Impresario Guardasoni auffordern, für die Festlichkeiten bei der Krönung Leopolds II. zum böhmischen König die Festoper zu schreiben. Er hatte vier Wochen Zeit; das Libretto, die »Clemenza di Tito« Metastasios – eine der ältesten (1734) Loyalitätskundgebungen des kaiserlichen Poeten –, war vorgeschrieben. Am 6. September 1791 war die erste Aufführung. Sie war kein Erfolg; weder bei den kaiserlichen Hoheiten noch beim Publikum. Von der Kaiserin ist das lapidare Urteil überliefert: »una porcheria tedesca« – »eine deutsche Schweinerei«. Der Prager Berichterstatter für Kunzens und Reichardts »Studien für Tonkünstler und Musikfreunde« (IX, pag. 70) meldet: »Die große italiänische Oper: la Clemenza di Tito, nach der Komposition des Hrn. Kapellmeister Mozard, bei Gelegenheit der Krönungsfeierlichkeit hier aufgeführt, hat den Beifall nicht gefunden, den der sonst hier so beliebte Komponist erwarten konnte.« Aber das gilt nur für die erste Aufführung. Am 7. Oktober kann Mozart an Konstanze schreiben, wohl nach Berichten des Ehepaars Duschek oder des Klarinettisten Stadler: »... am nemlichen abend« (30. September) »(ist) in Prag der Tito zum letztenmale ... mit außerordentlichen beifall aufgeführt worden. – Der Bedini sang besser als allezeit. – Das Duettchen ex A von die 2 Mädchens wurde wiederholtet – und gerne – hätte man nicht die Marchetti geschonet – hätte man auch das Rondó repetirt. – Dem Stodla« (Stadler, für die Arien 9 und 23) »wurde (O böhmisches Wunder! – schreibt er) aus dem Parterre und sogar aus dem Orchestre bravo zugerufen ...« Es ist üblich, von der »Clemenza di Tito« mit einem gewissen Bedauern zu sprechen und sie als ein Produkt der Eile und der Ermüdung rasch abzutun. Der Eile: ja – es war so wenig Zeit zu verlieren, daß Süßmayr die Komposition der Secco-Rezitative übernehmen mußte, was sehr rasch bekannt wurde: schon jener Prager Korrespondent weiß davon, und Niemtschek (p. 74) hat es bestätigt. Der Ermüdung: nein – in der »Zauberflöte«[461] und dem Requiem, an denen Mozart zu gleicher Zeit arbeitete, ist ja wohl von Ermüdung auch wenig zu spüren. Die Zeitgenossen und Mozart selber hatten eine ganz andre Meinung von der »Clemenza di Tito«. Der Erfolg stieg mit dem Jahrhundert immer mehr; und unter allen Opern Mozarts war »Tito« die erste, die nach London gelangte und sich nicht die Verstümmelungen gefallen lassen mußte, denen die andern bis auf die neueste Zeit dort ausgesetzt waren. Und Mozart selbst? Er trug in sein musikalisches Tagebuch ein: »La Clemenza die Tito ... ridotta a vera opera dal Signore Mazzolà, Poeta di S: A: S: l'Elettore di Sassonia«: »zur wirklichen Oper umgearbeitet von Signore Mazzolà, Kurfürstlich sächsischem Hofpoeten.« Das ist eine Ehre, die er Da Ponte weder bei den »Nozze« noch bei »Don Giovanni« und »Così fan tutte« hatte angedeihen lassen; nur bei der »Zauberflöte« hat er auch Schikaneder nicht vergessen.
Das Gefühl der Dankbarkeit, das Mozart für Caterino Mazzolà offenbar hegte, war nicht ungerechtfertigt. Es wäre ihm um 1791 unmöglich gewesen, ein Libretto von Metastasio nochmals »mit Haut und Haaren« zu komponieren, wie er es in seiner Jugend mit »La Betulia liberata«, »Il Sogno di Scipione«, »Il Re pastore« getan hatte. Und wie es mit der »Clemenza di Tito« vor ihm unter vielen anderen Caldara, Hasse, Gluck, Galuppi, Jommelli, Giuseppe Scarlatti, Anfossi getan hatten. Metastasios »Clemenza di Tito« ist, dem Usus der Opera seria von 1734 entsprechend, nichts andres als eine Kette von Abgangsarien, verbunden durch lange Rezitative; nicht einmal für das kleinste Duett ist vorgesorgt. Was Mazzolà mit diesem Libretto angefangen hat, ist nicht etwa ein Dokument der Ehrfurchtlosigkeit, sondern des Mutes und der Geschicklichkeit. »Die ursprünglichen drei Akte sind in zwei zusammengezogen, die unendlichen Secco-Rezitative gekürzt, viele der alten Arien durch neugedichtete, für den Komponisten günstigere ersetzt, endlich sämtliche Ensemblestücke, die drei Duette, die drei Terzette, das Finalquintett des ersten, das Finalsextett des zweiten Aktes hinzugefügt« (Revisionsbericht zur Gesamtausgabe, V, 111). Man könnte hinzufügen, daß Mazzolà Mozart Gelegenheit gegeben hat zu dem grandiosen musikalisch-szenischen[462] Abschluß des ersten Aktes, mit dem Brand des Kapitols und dem Fernchor des entsetzten Volks. Natürlich hat Mazzolà aus Metastasios höfischem Libretto kein Meisterwerk machen können. Tito bleibt eine Puppe der Großmut, der auf erwählte Bräute verzichtet, sobald er erfährt, daß sie bereits vergeben sind, und der bereits unterschriebene Todesurteile wieder zerreißt. Vitellia, die heimlich Titus liebt und, weil sie sich verschmäht glaubt, die Verschwörung gegen ihn anzettelt, bleibt eine Puppe der Rachsucht und der Gewissensbisse. Sesto, der sie liebt und von ihr als Werkzeug des Mordanschlags benutzt wird, bleibt eine Puppe der Verliebtheit und Reue. Da sind noch Servilia, Sestos Schwester, verliebt in Annio, Titos und Sestos Freund, zwei weitere Puppen. Und da ist, natürlich, der unvermeidliche »Confident«, Publio, Befehlshaber der Prätorianer, Titos Vertrauter. Aus diesen Puppen sind keine Menschen zu machen durch bloße Vereinfachung der Maschinerie der Handlung, durch bloße Kürzung des Dialogs. Mazzolà hat sogar die Mechanik der Handlung, die bei Metastasio wie immer durch ein feingefeiltes Radwerk bewegt ist, manchmal grob zerstört. Aber er hat damit ein hundertmal wirksameres Libretto gewonnen.
Ein Libretto in der Form, natürlich nicht im Sinn der Opera buffa. Zwei Akte, wie eine Opera buffa; und der erste Aktschluß gestaltet genau nach dem Prinzip der Opera buffa, nämlich die Handlung unentschieden in der Schwebe zu halten. Ensembles statt der Arien, rapider Fortschritt der Handlung, Ausdruck entgegengesetzter Gefühle in den Ensembles. Die Devise war für Mazzolà wie für Mozart: Kürze. (Vielleicht eine Vorschrift von seiten des Hofes.) So komponiert Mozart nur zwei längere Arien, die des Sesto (19), die berühmteste des Werkes, das Rondo und die Arie der Vitellia (23), die – höchst wirksam – unmittelbar in den fatalen »Marche de supplice«, die letzte Szene, hineinführt. Das Gebot der Kürze war so zwingend, daß Mozart eine Aria des Tito zwischen Szene sieben und acht des zweiten Aktes offenbar ganz unterdrückt hat. Das berühmte Duettino (3) für Sesto und Annio, vierundzwanzig Takte, ist ein Liedchen – unerhört in einer Opera seria. In den Arien keine Ritornelle; nur selten Rückkehr zum ersten Teil; fast[463] alle auf rasche Steigerung angelegt. Die Ensembles alle aufgebaut auf psychologische Kontraste: so im Terzett (10), in dem Vitellia, von Titus zur Braut ersehen, ihrer Verwirrung Ausdruck gibt, indes die beiden Zeugen, Annio und Publio, ihre Gefühle völlig mißdeuten. Oder, noch schöner, in dem Terzett (14), in dem Sesto, von Publio verhaftet, von Vitellia Abschied nimmt, indes der Scherge ihn zur Eile antreibt, aber doch sein Mitgefühl nicht unterdrücken kann. Auch alles Dekorative: die Märsche, die Chöre sind kurz und von größter Schlagkraft und Farbigkeit. Die Eile und Dringlichkeit des Auftrags hat Mozart zu größter Einfachheit gezwungen, auch im Orchester, auch im »Konzertanten« – nur Stadler ist in den er wähnten zwei Arien auf Klarinette und Bassetthorn reich bedacht worden. Und die Ouvertüre ist zum Schwesterwerk der Ouvertüre zur »Zauberflöte« geworden: sie ist festlich und eine Charakterouvertüre zugleich.
Mozart hat getan, was er konnte. Nochmals: er war kein Revolutionär, er wollte den Rahmen der Opera seria nicht sprengen, er hat ihn nur bis an seine Grenzen erweitert. Er hatte Glucks Vorbild vor Augen, aber er ist ihm nicht gefolgt, da er nicht soviel an Musik opfern wollte, als Gluck, aus seinen Beschränkungen eine Tugend machend, geopfert hat. Aber warum Mozart entschuldigen, daß er auf dem Gebiet der Opera seria keine so »ewigen« Werke hinterlassen hat wie »Nozze« oder »Zauberflöte«? Wer sonst im 18. Jahrhundert hat auf diesem Gebiete solche Werke hinterlassen? Welche Oper Glucks ist noch wirklich lebendig, so lebendig, daß wir sie ohne »historischen Sinn«, ohne besondere Einstellung genießen könnten? Die Opera seria war, um 1790, bereits ein Artefakt, eine Versteinerung aus früheren kulturellen Schichten. Sie mußte sich verwandeln; sie wird erst »große heroische Oper« wie bei Spontini, und dann schlechthin »große Oper« wie bei dem Weber der »Euryanthe«, dem Auber der »Muette«, dem Rossini des »Tell« und bei Meyerbeer und dem Wagner des »Rienzi«. Und nur ganz großen Musikern und Menschen, wie zum Beispiel Wagner und Verdi, ist es einigermaßen geglückt, sie zu humanisieren.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 447-464.
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