VI.

[29] Durch die Art, wie Joh. Seb. Bach die Harmonie und Modulation behandelte, mußte nun nothwendig auch seine Melodie eine eigene Gestalt annehmen. Bey der Vereinigung mehrerer zugleich mit einander fortlaufenden Melodien, welche sämmtlich singbar seyn sollen, kann keine einzelne so hervorstechend seyn, daß sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf sich allein ziehen könnte. Dieses Hervorstechende müssen sie hier gleichsam[29] mit einander theilen, so daß bald die eine, bald die andere vorzüglich glänzen kann, deren Glanz aber dennoch von den neben ihnen herlaufenden, ebenfalls singenden Stimmen vermindert zu werden scheint, weil die Aufmerksamkeit des Zuhörers dadurch getheilt wird. Ich sage, vermindert zu werden scheint: denn im Grunde wird er nicht vermindert, sondern vielmehr erhöht, wenn der Zuhörer Uebung genug hat, das Ganze auf einmahl übersehen und fassen zu können.1

Außerdem nöthigt eine solche Vereinigung mehrerer Stimmen den Componisten zu gewissen Wendungen in den einzelnen Melodien, zu welchen das homophonische Verfahren in der Composition nicht nöthigen kann. Eine einzelne Stimme braucht sich nirgends durchzudrängen; mehrere aber müssen sich in ihrer Vereinigung bisweilen gar künstlich und sein drehen, biegen und schmiegen. Diese Nothwendigkeit des Durchdrängens veranlaßt daher ungewöhnliche, fremdartige, ganz neue, noch nie gehörte Wendungen in den Melodien, so wie sie wohl wenigstens eine von den Ursachen ist, warum überhaupt Bachs Melodien mit den Melodien anderer Componisten so wenig Aehnlichkeit haben, und sich so auffallend von allen unterscheiden. Wenn diese Fremdartigkeit nicht ins Unnatürliche oder in Schwulst ausartet, sondern mit fließender, wahrer Singbarkeit verbunden bleibt, so ist sie für denjenigen, der sie hervor zu bringen weiß, ein Verdienst mehr, und eigentlich das, was man Originalität nennt, die den einzigen Nachtheil hat, daß sie nicht fürs große Publikum, sondern nur für sehr gebildete Kenner brauchbar ist.

Nicht alle Bachische Melodien sind indessen von dieser Art. Obgleich überall dieselbe Originalität der Gedanken herrscht, so sind doch die Melodien seiner so genannten freyen Compositionen so offen, klar und deutlich, daß sie zwar anders klingen als dis Melodien anderer Componisten, aber dennoch auch von den ungeübtesten Zuhörern verstanden, und ihres inwohnenden Geistes wegen sogar gefühlt werden können. Die meisten[30] Präludien aus seinem wohltemperirten Clavier, so wie die meisten Stücke aus seinen größern und kleinern Suiten sind von dieser Art.

So wie seine Melodie im Ganzen ein solches Gepräge von Originalität hat, so haben es auch seine so genannten Passagen im Einzelnen; sie sind so neu, so ungewöhnlich und dabey so glänzend und überraschend, wie man sie bey keinem andern Componisten antrifft. In allen seinen Claviercompositionen finden sich Beyspiele hiervon; in den großen Variationen, in dem ersten Theil der Clavierübung, in den englischen Suiten und in der chromatischen Fantasie aber die auffallendsten. Es kommt hierbey wiederum auf den Reichthum der Gedanken an. Da alle Passagen nichts als zergliederte Accorde sind, so müssen sie nothwendig desto reicher und fremdartiger an Inhalt werden, je reicher und fremdartiger die ihnen zum Grunde liegenden Accorde sind.

Wie weit Bachs Nachdenken und Scharfsinn in der Behandlung der Melodie und Harmonie ging, wie sehr er geneigt war, alle Möglichkeiten in beyden zu erschöpfen, beweiset auch sein Versuch, eine einzige Melodie so einzurichten, daß keine zweyte singbare Stimme dagegen gesetzt werden konnte. Man machte sich in jener Zeit zur Regel, daß jede Vereinigung von Stimmen ein Ganzes machen, und die zur vollständigen Angabe des Inhalts nothwendigen Töne so erschöpfen müsse, daß nirgends ein Mangel fühlbar sey, wodurch die Beyfügung noch einer Stimme etwa möglich werden könnte. Man hatte diese Regel bis auf Bachs Zeit bloß auf den 2–3 und 4stimmigen Satz, und zwar überall noch sehr mangelhaft angewendet. Er that dieser Regel nicht nur im 2–3 und 4stimmigen Satz volle Genüge, sondern versuchte auch, sie auf den einstimmigen Satz auszudehnen. Diesem Versuch haben wir 6 Soli für die Violine und 6 andere für das Violoncell zu verdanken, die ohne alle Begleitung sind, und durchaus keine zweyte singbare Stimme zulassen. Durch besondere Wendungen der Melodie hat er die zur Vollständigkeit der Modulation erforderlichen Töne so in einer einzigen Stimme vereinigt, daß eine zweyte weder nöthig noch möglich ist.

Nicht Eigenschaft, sondern vielmehr eine Folge ihrer Eigenschaften ist es, daß die Bachische Melodie nie veraltet. Sie bleibt ewig schön und ewig jung, wie die Natur, aus welcher sie entsprungen ist. Alles, was Bach seinen frühern Arbeiten vom damahls herrschenden Zeitgeschmack beygemischt hat, ist nun veraltet; wo er, wie in seinen spätern[31] Werken, die Melodien aus der innern Quelle der Kunst selbst, ohne Rücksicht auf Modeformen, entwickelt hat, ist alles noch so frisch und neu, als ob es erst seit gestern ins Leben gekommen wäre. Man wird wenig Compositionen von gleichem Alter finden, von welchen etwas ähnliches gesagt werden könnte. Selbst die Werke so Geistvoller Componisten, wie z.B. Reinhard Kaiser und Händel waren, sind früher veraltet, als man hätte glauben sollen, und als ihre Urheber wohl selbst geglaubt haben. Als Componisten fürs große Publicum waren sie genöthigt, dem herrschenden Zeitgeschmack nachzugeben, und Werke dieses Geschmacks können nicht länger dauern, als der Zeitgeschmack selbst. Nichts ist aber wandelbarer und veränderlicher, als jede Art des Zeitgeschmacks, so wie überhaupt alles, was Mode heißt. Bey Händel ist jedoch merkwürdig, daß seine Singfugen noch nicht veraltet sind, da hingegen von seinen Arien nur wenige noch anzuhören seyn möchten.

Die besondere Beschaffenheit der Bachischen Harmonie und Melodie war auch noch mit einem sehr ausgedehnten und in sich mannigfaltigen Gebrauch des Rhythmus verbunden. Bisher war nur vom innern oder logischen Verhältniß der harmonischen und melodischen Gedanken die Rede; diese Gedanken erfordern aber auch ein äußeres oder ein rhythmisches Verhältniß, wodurch ihre an sich schon große Mannigfaltigkeit nicht nur noch mannigfaltiger, sondern auch Charaktervoller wird. Zur zweckmäßigen und leichten Handhabung der mannigfaltigen Rhythmen zu gelangen, hatten die Componisten in Bachs Zeitalter eine vortreffliche Gelegenheit durch die so genannten Suiten, welche damahls statt unserer Sonaten üblich waren. In solchen Suiten kamen zwischen den Präludien und Schluß-Giquen viele Französische Charakterstücke und Tanzmelodien vor, bey welchen es vornehmlich auf den Rhythmus ankam. Die Componisten mußten also von einer großen Menge Takt-Arten, Tonsüßen und Rhythmen, (die jetzt großentheils ganz unbekannt geworden sind) Gebrauch machen, und sehr gewandt darin werden, wenn sie jeder Tanzmelodie ihren bestimmten Charakter und Rhythmus geben wollten. Auch diesen Zweig der Kunst hat Bach viel weiter getrieben als irgend einer seiner Vorgänger oder Zeitgenossen. Keine Art von Zeitverhältniß ließ er unversucht und unbenutzt, um den Charakter seiner Stücke dadurch so verschieden als möglich zu modificiren. Er bekam zuletzt eine solche Gewandtheit darin, daß er im Stande war, sogar seinen Fugen bey[32] allem künstlichen Gewebe ihrer einzelnen Stimmen ein so auffallendes, charaktervolles, vom Anfange dis ans Ende ununterbrochenes und leichtes rhythmisches Verhältniß zu geben, als wenn sie nur Menuetten wären.

Ueberhaupt liegt eben die erstaunliche Kunst Bachs in dieser überall gleich leichten Anwendung der bisher erwähnten Kunstmittel. Die Kunstform, welche er wählte, mochte zu den leichtesten oder zu den schwersten gehören, seine Behandlung derselben war immer gleich leicht, gleich glücklich. Nirgends findet man eine Spur, daß ihm etwas schwer geworden sey. Er erreichte stets das Ziel, nach welchem er strebte. Alles ist vollendet, vollkommen in sich; kein Ton kann vom Kenner anders gewünscht werden, als er gesetzt ist. Ich will das, was bisher gesagt worden ist, auf einige einzelne Kunstformen anwenden.

C.Ph. Emanuel sagt in der Vorrede zu den von ihm herausgegebenen vierstimmigen Choralgesängen seines Vaters, die Welt sey gewohnt gewesen, nichts als Meisterstücke von ihm zu sehen. Dieses Lob wurde zwar von einigen Recensenten für übertrieben gehalten; es ist aber wirklich nicht übertrieben, wenn man es bloß auf diejenigen seiner Werke anwendet, die er von der oben angegebenen Periode an, das heißt in den Jahren seiner Reise gemacht hat. In mancher Gattung haben indessen andere Componisten ebenfalls Meisterstücke gemacht, die den seinigen in eben der Gattung mit Ehren an die Seite gesetzt werden können. So hat man z.B. Allemanden, Couranten etc. von Händel und noch einigen wenigen andern, die nicht minder schön, obgleich minder reich sind, als Bachische. Aber in der Fuge und in allen mit ihr verwandten Arten des Contrapuncts und Canons steht er ganz allein, und so allein, daß weit und breit um ihn herum alles gleichsam leer und wüste ist. Nie ist eine Fuge von irgend einem Componisten gemacht worden, die einer der seinigen an die Seite gesetzt werden könnte. Wer die Bachischen Fugen nicht kennt, wird sich nicht einmahl einen Begriff machen können, was eine wahre Fuge ist und seyn soll. In Fugen gewöhnlicher Art herrscht nichts als ein gewisser sehr unbedeutender Kunst-Schlendrian. Man nimmt ein Thema, giebt ihm einen Gefährten, versetzt beyde nach und nach in verwandte Tonarten, und läßt sie sodann von den ubrigen Stimmen in allen diesen Versetzungen mit einer Art von Generalbaßgriffen begleiten. Dieß giebt eine Fuge; aber was für eine? Es ist sehr begreiflich,[33] daß Jemand, der nur solche Fugen kennen lernt, eben keinen hohen Begriff von der ganzen Gattung bekommen kann. Wie viel Kunst gehört denn dazu, eines solchen Schlendrians mächtig zu werden?

Ganz anderer Art ist die Bachische Fuge. In ihr sind alle Forderungen erfüllt, die man sonst nur an freyere Compositionsgattungen zu machen wagt. Ein charaktervolles Thema; ununterbrochen bloß aus demselben hergeleiteter, eben so charaktervoller Gesang vom Anfange bis ans Ende; nicht bloß Begleitung in den übrigen Stimmen, sondern in jeder ein selbstständiger mit den andern einverstandener Gesang, wiederum vom Anfange bis ans Ende; Freyheit, Leichtigkeit und Fluß im Fortgang des Ganzen; unerschöpflicher Reichthum an Modulation, mit untadelhafter Reinheit verbunden; Entfernung jeder willkührlichen, nicht zum Ganzen nothwendig gehörigen Note; Einheit und Mannigfaltigkeit im Styl, im Rhythmus und in den Tonsüßen; und endlich ein über alles verbreitetes Leben, wobey es dem Spieler oder Hörer bisweilen vorkommt, als wenn alle Töne in Geister verwandelt wären, dieß sind die Eigenschaften der Bachischen Fuge, Eigenschaften, die bey jedem Kenner, welcher weiß, was für ein Maaß von Geisteskraft zur Hervorbringung solcher Werke erforderlich ist, Bewunderung und Staunen erregen müssen. Sollte auch ein solches Kunstwerk, in welchem sich alles vereinigt, was in andern Compositionsgattungen, ihren veränderten Bestimmungen nach, vereinzelt wird, nicht vorzügliche Bewunderung verdienen? Ich muß noch mehr sagen. Alle Bachische Fugen aus den Jahren seiner vollendeten Bildung haben die genannten Eigenschaften mit einander gemein, alle sind mit gleich großen Vorzügen ausgestattet, aber jede auf eine andere Art. Jede hat ihren eigenen, genau bestimmten Charakter, so wie ihre eigenen davon abhängenden Wendungen in Melodie und Harmonie. Wenn man daher eine kennt und vortragen kann, so kennt man wirklich nur eine, und kann auch nur eine vortragen, anstatt daß man Folianten voll Fugen vieler andern Componisten aus Bachs Zeitalter kennt und vortragen kann, sobald die Wendungen einer einzigen begriffen und der Hand geläufig geworden sind.

Zu solchen Eigenschaften und Vorzügen führen die contrapunctischen Künste, wenn sie recht, das heißt: wenn sie so gebraucht worden, wie sie Bach gebraucht hat. Durch sie lernte er aus einem gegebenen Satz eine ganze Folge gleichartiger und doch verschiedener[34] Melodien in allen Arten des Geschmacks und in allen Figuren entwickeln; durch sie lernte er nicht bloß gut anfangen, sondern auch gut ausführen und vollenden; durch sie wurde er der Harmonie und ihrer unendlichen Versetzungen so mächtig, daß er ganze Stücke von Note zu Note in allen Stimmen umkehren konnte, ohne dem fließenden Gesang oder dem reinen Satz den mindesten Abbruch zu thun; durch sie lernte er die künstlichsten Canones in allen Intervallen und in allen Arten der Bewegung so leicht und fließend machen, daß nichts von der dabey angewendeten Kunst merkbar wird, daß sie vielmehr völlig wie freyere Tonstücke klingen; durch sie ist er endlich in den Stand gesetzt worden, der Nachwelt eine große Anzahl von Kunstwerken der verschiedensten Art zu hinterlassen, die sämmtlich Muster der Kunst sind, und bleiben werden, so lange die Kunst selbst nicht untergehen wird.2

Das bisher Gesagte betrifft hauptsächlich Bachs Clavier- und Orgelcompositionen. Da sich aber die Kunst ihrer Anwendung nach in zwey Hauptzweige theilt, nehmlich in Instrumental- und Vocal-Musik, und Bach beyde bearbeitet hat, so wird man vielleicht gern auch noch einige Worte über seine Singcomposition lesen.

In Weimar fand er die erste Veranlassung, sich mit der Composition für den Gesang zu beschäftigen, als er zum Concertmeister ernannt wurde, und als solcher die Kirchenmusik in der dasigen Hofkirche zu besorgen bekam. Der Styl, dessen er sich in seinen Kirchenmusiken bediente, war wie der Styl seiner Orgelsachen, andächtig, feyerlich und völlig so, wie der Kirchenstyl seyn muß. Dabey hatte er den sehr richtigen Grundsatz, sich nicht auf den Ausdruck einzelner Worte, wodurch bloße Spielereyen entstehen, sondern nur auf den Ausdruck des ganzen Inhalts einzulassen. Seine Chöre sind durchgehends[35] voll Pracht und Feyerlichkeit. Sehr häufig wählte er eine Choralmelodie dazu, und ließ nach Motetten-Art die übrigen Stimmen um sie herum fugiren. Derselbe Reichthum der Harmonie, den man in seinen übrigen Werken findet, herrscht auch hier, nur den Singstimmen und der gewählten Instrumental-Begleitung angemessen. Seine Recitative sind gut declamirt und mit reichen Bässen versehen. Bey seinen Arien, unter welchen sich viele von der feinsten und ausdrucksvollesten Melodie finden, scheint er sich oft eingeschränkt und nach den Kräften seiner Sänger und Spieler gerichtet zu haben, die aber dessen ungeachtet ewige Klagen über die Schwierigkeiten derselben zu führen hatten. Wäre er so glücklich gewesen, lauter gute Ausführer seiner Kirchenarbeiten zu haben, so würden sie gewiß Eindrücke ihrer Vortrefflichkeit hinterlassen haben, und so wie seine andern Werke noch jetzt bewundert und genutzt werden. Der unerschöpfliche Schatz von Kunst, welcher in ihnen liegt, wäre einer längern Aufbewahrung gewiß werth gewesen.

Unter sehr vielen Gelegenheits-Musiken, die er in Leipzig verfertigt hat, gedenke ich nur zweyer Trauer-Cantaten, deren eine bey der Begräbniß-Feyer seines geliebten Fürsten Leopold zu Cöthen, die andere aber bey der Trauerrede auf den Tod der Königin von Pohlen und Churfürstin zu Sachsen, Christiane Eberhardine in der Paulinerkirche zu Leipzig aufgeführt wurde. Die erste enthält Doppelchöre von ungemeiner Pracht und vom rührendsten Ausdruck; die zweyte hat zwar nur einfache Chöre, aber so anziehende, daß wer einmahl angefangen hat, einen durchzuspielen, nicht davon kommen wird, ohne ihn geendigt zu haben. Sie ist im October 1727 componirt.

Außer den bisher angezeigten Werken für den Gesang hat Bach auch sehr viele Motetten, hauptsächlich für das Chor der Leipziger Thomas-Schule gemacht. Dieses Chor hat stets gegen 50, auch wohl bisweilen mehrere Sänger enthalten, für deren musikalische Bildung Bach väterlich sorgte, und ihnen durch ein-zwey- und mehrchörige Motetten so viel Uebung verschaffte, daß sie wenigstens sichere Treffer und reinliche Chorsänger werden konnten. Unter den zu diesem Zwecke bestimmten 2chörigen Motetten finden sich mehrere, die an Pracht, an Reichthum der Harmonie und Melodie, und an Leben und Geist alles übertreffen, was man von dieser Art hören kann. Sie sind aber, wie alle Bachische, oder vielmehr wie alle reiche, große Kunstwerke, schwer auszuführen, und müssen noch überdieß stark besetzt seyn, wenn sie ihre volle Wirkung thun sollen.[36]

Dieß ist das Wichtigste von Bachs Werken für den Gesang. Für die kleinere, der geselligen Unterhaltung gewidmete Kunst hat er nichts, wenigstens gewiß nicht viel gethan, ein so geselliger und freundlicher Mann er auch sonst war. So soll er z.B. nie ein Lied gemacht haben. Dazu bedurfte es aber auch seiner nicht. Diese kleinen lieblichen Kunstblümchen werden deswegen doch nie ausgehen; die Natur treibt sie allenfalls auch ohne besondere Pflege von selbst hervor.

1

Viele halten dafür, die beste Melodie sey diejenige, welche sogleich von Jedermann gefaßt nachgesungen werden könne. Als Grundsatz kann diese Meynung gewiß nicht gelten. Denn sonst müßten die Volksmelodien, die häufig von Süden bis Norden von allen Menschenclassen bis zu Knechten und Mägden herunter gesungen werden, die schönsten und besten Melodien seyn. Ich würde den Satz umkehren, und sagen: diejenige Melodie, die von Jedermann sogleich nachgesungen werden kann, ist von der gemeinsten Art. So könnte er vielleicht eher als Grundsatz gelten.

2

Es gibt Personen, die der Meynung sind, Bach habe nur die Harmonie vervollkommnet. Wenn man aber den richtigen Begriff von Harmonie hat, nach welchem sie ein Erweiterungs- oder Vermehrungsmittel der Kunstausdrücke ist, so kann sie nie ohne Melodie gedacht werden. Wenn sie nun gar so wie die Bachische eine vervielfältigte Melodie ist, so sehe ich nicht ein, wie man obiger Meynung seyn kann. Nach meinen Begriffen könnte man weit eher sagen, dieser oder jener habe nur die Melodie vervollkommnet, weil sogar schöne Melodie ohne Harmonie, aber keine schöne und wahre Harmonie ohne Melodie bestehen kann. Wer demnach die Harmonie vervollkommnet hat, hat das Ganze vervollkommnet, der Melodist aber nur einen Theil des Ganzen.

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 29-37.
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