II.

Übersiedelung nach Dresden.

[57] Neue Krankheitssorgen. – Vermählung mit Geyer. – Übersiedelung nach Dresden. – Dresdens Zopfzeit. – Geselligkeit im Geyerschen Hause: Puppenspiele und Lustspiele. – Luisens und Rosaliens erstes Auftreten. – Richards früheste Entwickelung.


›Jede engherzige Berechnung schwieg, im Vertrauen auf Gott und seine Talente reichte er der ganz unbemittelten Witwe des bis zum Tode treu erfundenen Freundes die Hand und wurde Vater von sieben Waisen.‹

K.A. Böttiger (Geyers Nekrolog).


Mit dem herben Verlust des großen Jahres der Entscheidung war für die sorgende Mutter die Zeit der Prüfungen noch nicht abgelaufen. Noch gegen das Ende desselben war der älteste Sohn ebenfalls am Nervenfieber erkrankt; Richards schwache Gesundheit machte ihr Sorgen. Wohl wollte sie unter so schwerem Drucke verzagen; da war es Geyers tröstende Stimme, die ihr auch aus der Ferne Mut einsprach. ›Erhalten Sie sich aufrecht, geben Sie sich, auch wenn das Schicksal noch so sehr auf Sie einstürmt, nicht zu sehr dem Kummer hin; denken Sie, daß Sie noch große Pflichten auf der Welt haben, da Sie Mutter sind und Ihre Kinder Ihrer bedürfen‹. Sein Neujahrsgruß meldete, die Dresdener Kinder befänden sich wohl; ›mögen es auch Albert und Richard bald wieder sein‹. Doch gab es noch bang durchwachte Nächte der Sorge und Pflege, bis sich des ersteren Zustand zur Besserung und zur Genesung wandte. Noch vor Anfang Februar endlich erfolgte der Tod der fast siebzigjährigen Großmutter Johanna Sophia, geb. Eichel (26. Januar 1814), – für jetzt das letzte Glied in der Verkettung mannigfacher Bekümmernisse.

Zur Zerstreuung und Erholung der Schwergeprüften nach allen aufreibenden und niederbengenden Erlebnissen ward ein Ausflug nach Dresden verabredet. Die sächsische gelbe Kutsche, welche sich zwischen Leipzig und Dresden bewegte, brachte sie wohlbehalten ans Ziel: sie sah ihre dortigen Kinder wieder und fand sie gut aufgehoben. Aber auch zwischen ihr und dem Freunde kam es zur entscheidenden Erklärung. In Geyers Seele war in den Monaten [58] seit dem Tode des unvergeßlichen Freundes ein seiner würdiger Entschluß zu voller Klarheit gereist: – in aller Stille vollzog sich seine Verlobung mit der Witwe des Dahingeschiedenen. Der nach kurzem Verweilen nach Leipzig Zurückgekehrten folgte er um die Ostermessenzeit. Er konnte von einer bevorstehenden günstigen Wendung seiner Lage berichten: der bisherige Verband der Secondaschen Truppe sollte unter vorteilhaften Bedingungen in eine staatlich garantierte Besoldung treten. Das war eine ermutigende Aussicht für die Zukunft. Mit der gesicherten Lebensstellung war zugleich die Annehmlichkeit verbunden, daß sich das bisherige nomadische Hin- und Herziehen der Gesellschaft zwischen Dresden und Leipzig seinem Ende näherte.1 Zwar dauerte letzteres noch durch einige Jahre fort; erst im Jahre 1816 zogen die nunmehrigen Königlichen Hofschauspieler zur letzten Ostermesse nach Leipzig; am 20. Oktober desselben Jahres beschlossen sie ihre dortigen Vorstellungen für immer. Dies geschah mit einer Darstellung von Lessings ›Emilia‹: Geyer gab den Marinelli, Frau Hartwig die Orsina; am Schlusse der Vorstellung sprach sie den Abschiedsepilog. Aber die Übersiedelung der Familie nach Dresden war inzwischen bereits erfolgt: es war wieder ein Haus und eine Familie, in deren Mitte der Knabe seine nächsten Lebensjahre verbrachte, nachdem seine ersten Lebensmonate von so viel Aufregungen, Zerstörung und Leiden umgeben gewesen waren Bruder Albert stand im Begriff, die Meißener Schule zu absolvieren und zum Studium der Medizin die Universität zu beziehen; und während die jüngere Schwester Luise zunächst noch unter der liebevollen Obhut ihrer Pflegemutter verblieb, die sich die ihr an vertrauten Rechte nicht so leicht wieder nehmen ließ, war dagegen Rosalie, alsbald nach der Dresdener Niederlassung, in das wieder gewonnene Elternhaus und den blühenden Kreis der Geschwister zurückgekehrt, von denen eines, die fünfjährige Therese, im Jahre 1815 einer Krankheit erlag.

Nach allem erduldeten Schweren stellten sich Behagen und Lebensmut wieder ein. Die Familienwohnung lag in der Moritzstraße, im Eckhause am Durchgang durch das Landhaus nach der jetzigen Landhausstraße. Es gehörte dem Schwertfeger Voigt, der einmal ein für Richard zum Weihnachtsfeste [59] bestimmtes Ritterschwert vor seinen Augen blitzen ließ und dann schnell wieder verbarg, – ein Eindruck, der in Wagners Erinnerung noch nach mehr als sechzig Jahren lebendig war. Gegenüber hatte der Konditor Orlandi seinen Laden, bei welchem der Knabe einmal ›Schillers Gedichte gegen Windbeutel umtauschte‹. In seiner, nunmehr ausschließlich auf Dresden beschränkten, Schauspielertätigkeit war Geyer verhältnismäßig nicht überlastet; er hatte, bei einer Besoldung von 1040 Talern, wöchentlich meist nur zweimal aufzutreten und in häufig sich wiederholenden Rollen. Nichtsdestoweniger galt es zur Gewinnung der Mittel für die Erziehung und Bildung der heranwachsenden Kinderschar einer unausgesetzt eifrigen Betätigung. Mit Liebe und Emsigkeit gab er sich des halb neben der Ausübung seines Schauspielerberufs fortgesetzt der Beschäftigung mit der Malerei hin, und sein Atelier war oft von Porträtlustigen ganz angefüllt. Er war rüstig und voller Kraft; seine Gesundheit hoffnungerweckender als je; das Glück gewonnener häuslicher Befriedigung steigerte die natürliche Heiterkeit seines Wesens. Auch ein liebliches dunkellockiges Töchterchen Augusta Cäcilie (geb. 26. Febr. 1815), ward ihm, als Ersatz für das verlorene, aus dem geschlossenen Bunde zu Teil; daneben blieb Richard sein besonderer Liebling.

Für eine lebensprühende künstlerische Natur, wie Geyer, waren im übrigen die damaligen Zustände der sächsischen Residenz nur gar wenig erhebend. Stand doch Dresden in jenen Tagen, nach der Rückkehr seines angestammten Königs (7. Juni 1815), unerschüttert und unerneut durch die großen Vorgänge des Befreiungskampfes, als eine wahre Kolonie von ›Hofräten erster bis vierter Klasse‹ in der allerschönsten Blüte seiner Zopfzeit! Unter Cäciliens Taufpaten befindet sich ein ›Hofrat‹ (der gleich zu nennende Theodor Hell), ein ›Hofmaler‹ (Georg Friedr. Winkler) und ein ›Hofschauspieler‹ (Friedrich Canow). Alles hing vom ›Hofe‹ ab, und dieser gab nach wie vor das bestimmte Losungswort zur Unterdrückung jedes wahrhaft deutschen Atemzuges in Leben und Kunst. Selbst hinsichtlich der Konfession war es gern gesehen, daß bei Hofe angestellte oder irgend in dessen Diensten stehende Personen, vom Hofmarschall und Zeremonienmeister bis zum Hofbratenwender und der Hofsilberwäschersfrau, das römisch-katholische Bekenntnis der kgl. Familie teilten. Ein süßlich fader Geschmack war den Dresdener literarischen Typen und Größen eigen, an ihrer Spitze den bekannten Vielschreiber und artistischen Fapresto, den unter dem Schriftstellernamen ›Theodor Hell‹ vielberufenen Hofrat Winkler, geschäftig als Bearbeiter und Übersetzer, Kritiker und Vorredner, Redakteur und Regisseur (der italienischen Oper), Mäcen und Ratgeber einer großen Menge kleiner Geister, Faktotum verschiedener Zirkel und Vereine, – sämtliche Schöngeister Dresdens aber durch seine außerordentliche Häßlichkeit überragend, die ja Tieck veranlaßte, ihn in seinem gestiefelten Kater als Vogelscheuche aus gebranntem Leder zu schildern. Daneben der stets ›verkannte‹, [60] seiner Dichterwürde um so mehr sich bewußte Friedrich Kind, und jene ganze Schar empfindsamer Novellisten und süßlicher Lyriker, die ihr Hauptquartier in der von Th. Hell redigierten ›Abendzeitung‹ aufgeschlagen hatte. Richard Wagners spätere Bezeichnung dieser Epoche als einer solchen, die sich, ganz offen als eine papierne bekannt habe, steht in genauestem Einklang mit anderweitigen Schilderungen der damals in Dresden verbreiteten seltsamen Lesewut: die ganze Stadt las und ›selbst die rotröckigen Grenadiere, die am Schloß, die Beine zum Fenster hinaushängend, Strümpfe strickten, hatten einen Roman auf dem Schoße liegen‹.2 Die Pietät für König und Hof übertrug sich auf alle Angehörigen des letzteren; so war es (nach M. M. v. Weber) möglich, daß ein tüchtiger Kammermusikus, später Webers braver Freund, besonders deshalb geschätzt wurde, weil sein Bruder – königlicher Kammerdiener war. Leises Auftreten, vorsichtige Rücksichtnahme zeichneten den Dresdener aus; selbst im Theater scheute man sich, das Verdienst, dem man wohlwollte, durch geräuschvolle Bezeigungen der Anerkennung zu belohnen. So lesen wir bezüglich einer Darstellung Geyers, des Jefferies in Zieglers ›Parteienwut‹, wobei er trotz aller naiven Antipathie des Publikums gegen die Rollen der Bösewichter, unter lautem Beifall hervorgerufen worden war, die an diesen Vorgang geknüpfte Betrachtung: ›Unser Publikum bis zu diesem Grade aufzuregen, will viel sagen, und immer bleibt es nur eine Sonntagserscheinung; an den Wochentagen, wo der Hof das Haus mit seiner Gegenwart beehrt, ist man der Meinung, daß sich das nicht schicke, da der König Beifallsbezeigungen dieser Art nicht gern höre‹3.

Geyers gastliches Haus in der Moritzstraße war stets gern ein Mittelpunkt fröhlicher Geselligkeit, er selbst die Seele eines Kreises von Freunden und Freundinnen, die er am liebsten bei sich selbst bewirtete, und durch die sprühenden Funken seines Witzes erheiterte. ›Ernst war ihm die Kunst, aber fröhlich das Leben, solange noch frischer Mut und volle Lebenskraft in seinen Adern floß‹4. Zu diesem geselligen Kreise gehörte u. a. als nächster Freund des Hauses der joviale Kriegsrat Georgi, der in den Erinnerungen Richard Wagners bis zuletzt lebendig fortlebte; der vielseitig begabte junge Ferdinand Heine, anfänglich Orchestermusiker der Dresdener Hofkapelle, dann in den Verband der kgl. Schauspieler eintretend, bis in späteste Zeiten der Familie treu anhänglich und ergeben, insbesondere dem ihm seit dessen ersten Kinderjahren bekannten Richard. Dazu die Kollegen Christ und Haffner, beide noch Veteranen aus der alten Secondaschen Periode; der Heldenspieler Fr. Julius, einst Geyers Genosse in Breslau, dessen schon damals beliebter Tellheim und Romeo in der Folge das uneingeschränkte Lob Tiecks erhielt; [61] Frau Hartwig, immer noch in voller pulsierender Jugendfrische, in dem buchstäblichen Sinne, daß sie, die Vierzigerin, mit der ihr eigenen munteren, reizbaren Beweglichkeit vorkommenden Falls die Rolle eines sechzehnjährigen Mädchens mit aller schelmischen Laune und allbeweglichen Lebendigkeit ausstatten konnte. Jedenfalls verdiente sie es nicht, daß ihr einst der kurzsichtige Böttiger, Dresdens geschwätzige kunstkritische und archäologische Autorität, bei ihrer Geburtstagsfeier im Kreise der Freunde und Berufsgenossen, als Sinnbild ihrer unvergänglichen Jugend eine im Feuer der Rede entblätterte Rose überreichte, worauf sie ihm denn lachend erwiderte: sie sehe erst jetzt, daß die Liebe blind mache! In diesem lebensvollen Kreise gestalteten sich Familienfeste des Geyerschen Hauses nicht selten zu geistreichen Puppenspielen oder zu dramatischen Aufführungen, wobei er selbst alles anordnete, dichtete, kostümierte. Gar manches heitere Gelegenheitsprodukt seines regen Geistes, seiner unerschöpflichen Laune entstand bei solcher Veranlassung, voll witziger Kombinationen, gewürzt durch reichliche Orts- und Personenbeziehungen. Zu solchen Augenblicksschöpfungen, die sich bis auf unsere Tage erhalten haben, gehört u.a. sein satirisches Lustspiel – ursprünglich Puppenspiel – ›die neue Delila5, worin sich Richard Wagner noch i. J. 1878 entsann, die beiden Hirten Damöt und Philemon von Geyer selbst und dem Kriegsrat Georgi dargestellt gesehen zu haben. ›Der lügt ja ärger noch als Bösenberg in Dräsen‹, läßt Geyer den Schäfer Damöt von dem bramarbasierenden nordischen Ritter Sigurd Rottenbrecher sagen, mit Anspielung auf seinen Kollegen, den unverwüstlichen Komiker Bösenberg, der, i. J. 1750 geboren, um jene Zeit, bald nach Beginn der neuen Dresdener Theaterära, sein fünfzigjähriges Schauspielerjubiläum feierte und in den Mitteilungen aus seinem bewegten Leben, wie er sie im Konversationszimmer des Theaters zum besten gab, sich den Baron Münchhausen zum Muster genommen hatte. Reichen Stoff zu launiger Satire bot ihm, unter den öffentlichen Kunstvorgängen Dresdens, im Schauspiel das Vorwalten der Schicksalstragödie (›König Yngurd‹ und ›die Ahnfrau‹), in der Oper das durch den Geschmack des Hofes begünstigte Eindringen Rossinis mit der ›diebischen Elster‹ und ›Tancredi‹, worin der berühmte männliche Sopranist Sassaroli die Titelrolle, Signora Sandrini die Amenaide sang. Geyer verherrlicht ihn in den heiteren Versen:


›Rossini! ruft die Welt – Rossini! nie, nie, nie

Kommt wieder solch Genie: di tanti palpiti

Hat ihn berühmt gemacht, muß ihn unsterblich machen.

Rossini ringt, auch wenn der Erde Pfosten krachen,

Die »Elfter« in der Hand, kühn mit dem Weltensturz –

Und was den Lärm betrifft, da kommt er nicht zu kurz‹.


[62] Andere Anlässe zur Betätigung seiner dichterischen Muse gab dem rastlose Künstler seine zärtliche Vaterliebe, wenn er bald nacheinander zweien der Töchter bei ihrem ersten Betreten der Bretter das Geleit auf die Bühne zu geben hatte, indem er selbst ihnen die Stücke dazu schrieb und die Rollen schuf, in denen sie an seiner Seite zum erstenmal vor das Publikum treten sollten. Einen allerersten darstellerischen Versuch hatte Luise, als Zögling von Frau Hartwig, bereits im überfrühen Alter von zehn Jahren gemacht, in einer kleinen Rolle eines einaktigen Lustspiels; sie machte darin ihrer Lehrerin Ehre und wurde mit lautem Beifall bedacht. Zwischen Frau Hartwig als Pflegemutter Luisens und Geyer als Pflegevater Rosaliens bestand hinsichtlich ihrer Schützlinge eine liebevolle Eifersucht, welche letzterer gelegentlich mit Ernst zu beschwichtigen hatte Insbesondere war er gegen ein allzuzeitiges öffentliches Auftreten der Kinder. Auch Rosalie war, nach dem ausgesprochenen Willen des Vaters, für den Schauspielerberuf bestimmt. Er hatte sie für das Theater bilden wollen, doch sollte sie nach seinen klaren und zweckmäßigen Ansichten nicht früher als im fünfzehnten oder sechzehnten Jahre die Bühne betreten. In Übereinstimmung mit diesem, ihm als unverbrüchliche Richtschnur dienenden Wunsche Wagners konnte sich Geyer bei dessen Tode auch nicht dazu entschließen, gerade Rosaliens Erziehung der sonst hochgeschätzten Freundin anzuvertrauen, da er in diesem Punkte doch ein Abweichen befürchtete. Wirklich hatte er ein solches hinsichtlich Luisens nicht verhindern können; er ließ es sich nun wenigstens nicht nehmen, für ihr bevorstehendes abermaliges Auftreten im folgenden Jahr eigens ein Stück zu verfassen: ein Lustspiel in gereimten Alexandrinern: ›Das Mädchen aus der Fremde6, welches er unter dem angenommenen Autornamen E. Willig zur Aufführung brachte (11. Mai 1817). Er selbst erwarb sich darin als Darsteller vielen Beifall; neben ihm spielte Luise mit Glück die Rolle des darin vorkommenden zehnjährigen Kindes. Für Rosaliens erstes Auftreten wartete Geyer genau die von dem Vater dafür angesetzte Zeit ab; in der ihr gewidmeten lieblichen [63] Dichtung ›Das Erntefest‹ ist die ihr bestimmte Rolle nach ihr selber benannt, und Geyers eigene väterliche Liebe zu der anmutig zarten Mädchenblüte gelangt darin zu innigem Ausdruck.7 Rosaliens Debüt fand am 2. März 1818 statt; zwei Tage danach trat sie in ihr sechzehntes Lebensjahr. Ein Brief des Onkels Adolf brachte ihr dazu dessen beste Wünsche: ›sie möge blühen und gedeihen‹, heißt es darin, ›und sich von dem Schein- und Lügenleben, das sie wählt, oder findet, bestricken und belügen lassen um ihr wahres Sein, ein reines demütiges Herz voll Liebe, Zucht und Frömmigkeit‹. Rosalie gab ihre Rolle mit gewinnender Kindlichkeit; Geyer, dessen Autorname diesmal auf dem Theaterzettel bekannt gegeben war, spielte selbst nicht mit, die Hauptpartien des Stückes waren in den Händen der Kollegen Julius, Burmeister und Frau Hartwig wohl aufgehoben. Die Aufnahme von seiten des Publikums, wie der sonst in Betracht kommenden Öffentlichkeit Dresdens, war die freundlichste und teilnehmendste; Geyers allgemeine Beliebtheit und die Anmut der jugendlichen Debütantin trugen in gleichem Maße zu diesem Erfolge bei.

Um die ernsten Mahnungen recht zu verstehen, die aus den Worten Adolf Wagners mitten in die Vorbereitungen zu dem für Rosaliens weitere Laufbahn entscheidenden Vorgang hineinklingen, ist seine innere Abneigung gegen alles Theaterwesen und Schauspielertum in Betracht zu ziehen. Durch Friedrich Wagners begeisterte Vorliebe gleichsam im voraus auf die Bühne hingewiesen, war die heranwachsende Familie durch Geyers direkte Beziehung [64] zum Theater erst vollends einer allzunahen Berührung mit ihren gefährlichen Reizungen ausgesetzt. In diesem Sinne war dem Onkel und Schwager die Verbindung der Witwe mit Geyer, bei aller persönlichen Schätzung des letzteren als Mensch und Künstler, von vornherein bedenklich und unerwünscht erschienen; ja er würde – darüber befragt – entschieden davon abgeraten haben Insbesondere gegen die Bestimmung der Töchter des Bruders für die Bühne hat er sich jederzeit offen erklärt. ›Ich kann einmal‹, pflegte er zu sagen ›wie ich diesen Stand mit tieferem Blick durchschaue, nicht anders als ein Leben, das daran hingegeben wird, für weggeworfen erkennen. Es bedarf für den, der das Schauspielerwesen kennt, keiner großen Erörterung darüber, wie sehr es den Menschen ausbrennt, aushöhlt und verflacht, daß es sogenannte Schicksale und Abenteuer herbeiführt, zu geringfügig, um Bildungsmittel für einen Mann zu werden, auf alle Fälle aber hinlänglich bedeutend, um ein Weib zu verbilden. Die wilden Wirbel und Strudel des äußeren Lebens, wie das lügenhafte Gaukeln des inneren, sind ein zu greller Gegensatz, eine zu arge Spannung, als daß ein weibliches Wesen zumal nicht davon auseinandergerissen und zerstört werden sollte.‹ War doch in Wahrheit Geyers eigene Ansicht über seinen Stand davon nicht sehr abweichend, wenn er ihn gelegentlich als einen solchen bezeichnet ›den er gern täglich verlassen möchte, der ihm alle Freude, Ruhe und Gesundheit raube‹; und nicht leichten Herzens gab er die ihm anvertrauten Kinder den Gefährdungen des gleichen Berufes preis. So geschah es wahrlich nicht auf sein Anraten, daß Albert von dem bereits ergriffenen Studium der Medizin nachträglich noch in die Sängerlaufbahn übertrat. ›Bequemlichkeit, nimm mir's nicht übel, hat dich zur Wahl dieses Standes veranlaßt‹, ruft er ihm einmal mahnend zu und warnt ihn eindringlich vor dem ›Strom des Komödiantentums‹. Und für den jüngeren Bruder Julius meinte er nicht besser sorgen zu können, als indem er ihn zu seinem, in Eisleben ansässigen, unverheirateten jüngeren Bruder, dem Goldschmied Geyer, in die Lehre tat.

Nichtsdestoweniger hatte er es in der Folge auch noch an der dritten Tochter, Klara Wagner (geb. 1807) zu erleben, daß sie, durch Anlage, Neigung und Beispiel dazu bestimmt, dem Vorgang der beiden älteren Schwestern folgte. Wenigstens die drei jüngsten Kinder, Ottilie, Richard und Cäcilie, sollten nach dem Wunsche der Eltern dem Theater fern bleiben. An dem kleinen Richard hing der Stiefvater, wie die Mutter, mit der zärtlichsten Liebe. Seine schwächliche Gesundheit verlangte besondere Sorgfalt: er war, so wird uns nach mündlichen Berichten über des Meisters Jugend gemeldet, schon damals von einem irritierenden Hautübel verfolgt, das ihm, in periodischer Wiederkehr als Gesichtsrose, bis ans Ende seines Lebens zu schaffen machte. Es war jedoch nicht nur seine Schwächlichkeit, welche ein besonderes Interesse für ihn einflößte, sondern auch die erstaunliche Beobachtungsschärfe [65] und die originellen Vergleiche, die der begabte Knabe anstellte und welche weit über sein kindliches Alter hinausreichten. Bis zu seinem sechsten Jahre hatte Richard weder regelmäßigen Haus- noch Schulunterricht; die Mutter wollte ihm wegen seiner Kränklichkeit Zeit zum Heranwachsen lassen und ihn nicht mit Schularbeit plagen. Zu Hause bemühten sich die Schwestern, ihm allerlei Wissen beizubringen; auch vom Vater und der sorgfältigen Mutter lernte er manches spielend. Von einem ›Wunderkinde‹ hatte er nach eigenem Zeugnis weder in dieser frühesten Jugendperiode, noch in den nächsten ihr folgenden Jahren etwas an sich; dagegen läßt die treuliche Überlieferung gewisser an sich unbedeutender Vorfälle aus dieser frühesten Kinderzeit durch die Bestimmtheit, mit der sie in dem Gedächtnis der Angehörigen fortlebten, einen Schluß auf die individuelle Lebendigkeit ziehen, die dem an sich nichtssagenden Faktum ihren eigenartigen Stempel eingeprägt haben muß und sich für unser Gefühl daraus wieder erneut.

Ein zarter, blasser, schmächtiger Gesell im kurzärmeligen Röckchen, aber doch schon wild genug, so tritt uns in diesen Überlieferungen der kleine Richard entgegen. Bei seinen Besorgungen beim Kaufmann Klepperbein pflegt er seinen Auftrag ob der freigebig gespendeten Rosinen zu vergessen. Von den beim Konditor Orlandi (gegenüber der Familienwohnung) gegen Schillers Gedichte eingetauschten ›Windbeuteln‹ war schon oben (S. 60) die Rede. Die Mutter begleitet er gern in die Küche; nun brodeln soeben die Koteletten mit so einladendem Duft auf dem Herde, da wird sie unerwartet durch einen Besuch abgerufen; zurückgekehrt, findet sie den Tiegel leer, Richard aber sich aus der Küche entfernend, indem er sich krampfhaft und weinerlich an den Körper faßt. Die Untersuchung ergibt, als die Ursache der Schmerzen, im Hosentäschchen ein heißes Kotelett, – wo aber sind die übrigen geblieben? Es bedarf erst einiger mütterlicher Drohungen, um das Geständnis hervorzulocken, daß er in ihrer Abwesenheit sämtliche Kotelettes angebissen, da er sie aber der Hitze halber nicht eilig verzehren können, sie eines nach dem andern unter den Herd geworfen habe. Ein anderes Mal läuft er dafür um so eifriger, durch die ganze Stadt bis auf den Markt, einem Hunde nach, der einen Braten gestohlen, und erhält dabei von einem Pferdehuf einen Stoß vor die Brust, für dessen Folgen man lange besorgt war. Die hier aufgezeichneten Erinnerungen aus Richards viertem bis sechstem Lebensjahr – Schmetterlinge mit abgestreiftem Flügelstaub! – stammen von der Schwester Cäcilie, die sie aber, da sie selbst jünger war, natürlich nicht von sich selber hat, sondern von den älteren Geschwistern, in deren Gedächtnis tausend kleine Eulenspiegeleien eines früh zutage tretenden lebhaften Temperaments durch Überlieferung früh sich fixierten, von denen einige durch den kunstreichen Stift des befreundeten Malers Ernst Kietz noch in späteren Jahren nachträglich festgehalten worden sind.

Fußnoten

1 Recht übel erging es dabei nur dem ehrlichen Franz Seconda. Zunächst begegnete ihm der persönliche Unfall, aus Mißverständnis als angeblicher französischer Spion, während sich seine Gesellschaft soeben in Leipzig befand, vor den russischen Gouverneur Fürst Repnin gefordert zu werden: mit genauer Not entging er dem Tode durch Erschießen und wurde als militärischer Arrestant nach Dresden ins Polizeihaus befördert. Erst nach zweimaligem Verhör erhielt er am fünften Tage die Freiheit wieder. Dann wurde er, bei der Vereinigung des bisher von ihm geleiteten Schauspielerverbandes mit der italienischen Oper als nunmehrige Staatsanstalt, vollends ganz seines Postens entsetzt und sein auf mehrere Jahre lautender Kontrakt annulliert, bis er endlich, neben Theodor Hell als provisorischem Intendanten, als Ökonomierat des nunmehrigen Hoftheaters für seine letzten Lebensjahre eine bescheidene Installation fand.


2 Fr. Pecht (Skizze über ›Gottfried Semper‹).


3 ›Der Freimütige‹ 1816, Nr. 27 vom 6. Februar.


4 Böttiger, in Geyers Nekrolog (Dresd. Abendzeitung 1821, Nr. 259/60).


5 Gedruckt ist es zweimal, aber erst nach Geyers Tode 1) in 8°: ›Die neue Delila, ein anfangs lustiges, aber gegen das Ende höchst trauriges Schäfer- und Ritterspiel‹ (Leipzig, 1823); und 2) in 16° im fortgesetzten ›Kotzebueschen Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande‹, Jahrgang 21 (Leipzig, P. G. Kummer).


6 Unter diesem Titel gelangte das zweiaktige Stück am 11. Mai 1817 in Dresden zur Aufführung; zitiert wird es auch als ›Braut aus der Fremde‹ (Dresd. ›Abendzeitung‹ v. 30. Okt. 1817). Der Inhalt des harmlosen Lustspiels ist in Kürze der folgende: Ein junger Offizier bringt ein zehnjähriges Mädchen aus dem Felde mit und neckt seine Geliebte, indem er ihr dieses in einem Briefe ohne nähere Bezeichnung als ein Mädchen ankündigt, das immer um ihn sei, ihm die müßigen Stunden vertreibe, das er küsse, das er sehr liebe usw. Darüber gerät der Vater der Braut mit dem Vater des Offiziers in Streit und Duell, das aber schnell und friedlich endet, und der böse Traum wird durch ein schönes Erwachen belohnt. Mit Laune sind auch die Nebenpersonen gezeichnet : ein Prätendent auf die Hand der Geliebten, dessen Name (Baron von Hopfensack) seine bäurische Art und Weise ankündigt; eine böse Stiefmutter, die bei der Gutmütigkeit des Vaters das Regiment im Hause führt; der Reitknecht des Offiziers usw.


7 Auch für dieses Stück findet sich in Erwähnungen der Nebentitel ›Der Erntekranz‹; aufgeführt und gedruckt (im Kotzebueschen Almanach für 1822) ist es aber unter dem obigen Namen. Bei der Seltenheit der alten Druckausgabe geben wir auch von dieser Dichtung die Inhaltsangabe. Graf Werben war früher mit Theresen vermählt; der Stolz seiner Mutter hat die Ehe des Grafen in seiner Abwesenheit getrennt, und Therese ist mit der schönen Hoffnung unter ihrem Herzen entflohen. Nie wieder hat Werben etwas über sie erfahren können. Da kommt er als Gesandter in ein fremdes Land; in den Zügen eines ihm dort begegnenden vierzehnjährigen Mädchens – Rosalie – glaubt er die Züge der verlorenen Gattin wiederzuerkennen. Die Ahnung seines Herzens wird durch die Auskunft enttäuscht, das Mädchen sei die Tochter des Ökonomierats Ehrenberg; nichts anderes kann er nun glauben, als daß seine Gattin in der Zeit ihrer erzwungenen Trennung dieses neue Band geschlungen habe. Aber die Neigung für die Heißgeliebte, lange vergebens Gesuchte schlägt hoch empor; er entschließt sich das Kind zu seinen Eltern zu begleiten, ihrem Vater seine Gefühle zu entdecken, ihn zu einem Verzicht auf Theresen zu beschwören, damit sie wieder die Seinige werde. Rosalie ist nicht das Kind Ehrenbergs; die Stimme des Herzens hat den Grafen nicht getäuscht. Die Gattin Ehrenbergs hat in seiner Abwesenheit Theresen mit ihrer Tochter aufgenommen und, um den Heimkehrenden nicht durch die Nachricht von dem Verluste seines eigenen Kindes zu betrüben, Rosalien für das verstorbene ausgegeben, die wahre Mutter als Freundin im Hause behaltend. Der Knoten löst sich durch dieses Geständnis, und da der Graf das Gut ankauft, bleiben beide Familien vertraut zusammen. Alles dieses geht am Tage des Erntefestes vor sich und die Feier desselben beschließt das Stück.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 57-66.
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