VIII.

Der Student der Musik.

[134] Eintritt ins akademische Leben. – Ein Schmollis dem Senior der Saxonia. – Studentische Ausschweifungen. – Rückkehr zur Musik. – Studien bei Weinlig. – Dessen Methode – Persönliche Beziehungen. – Drei Ouvertüren. – Polnische Emigranten-Durchzüge. –D-moll- und C-dur-Ouvertüre im Gewandhaus.


Noch waren diese Eindrücke (der Julirevolution) und (der Begeisterung für das kämpfende Polen) auf meine künstlerische Entwickelung nicht von erkennbarer Gestaltungskraft: so stark war mein Empfängnisvermögen noch von künstlerischen Eindrücken zum Nachahmungstriebe angeregt, daß ich gerade um diese Zeit mich am ausschließlichsten mit Musik beschäftigte, Sonaten, Ouvertüren und eine Symphonie schrieb.

Richard Wagner.


Der Leipziger ›Student‹ war durch die aufgeregten Vorgänge des Jahres 1830 mit einer öffentlichen Glorie umgeben, welche noch diejenige hinter sich zurückließ, mit der ihn bereits der Zauber Hoffmannscher Phantasie in den Augen seines enthusiastischen Lesers anziehend ausgeschmückt hatte. Er hatte sich in den unruhigen Tagen und Wochen als gesetztes und zuverlässiges Glied der bürgerlichen Gesellschaft bewährt, andererseits sein angefochtenes eigenes Recht mit Gemessenheit zu behaupten gewußt. Noch am Tage der Proklamation der Regentschaft des Prinzen Friedrich war durch die aus Dresden entsandten Regierungskommissare die öffentliche Erklärung erlassen, die Studierenden würden fernerhin wieder unter der Aufsicht und dem Einfluß der, unter zweckmäßigen Reformen neu ins Leben zu rufenden Polizei stehen. Nun war dies aber gerade die Ursache ihrer Erregung gewesen: aufgereizt, verließen die jungen Leute die noch von den Tagen der Gefahr her von ihnen inne gehabten Wachstuben, rissen die Plakate von den Mauern und Straßenecken, und zogen bewaffnet, drei- bis vierhundert Mann stark, vor die Wohnung der königlichen Kommissare v. Karlowitz und Meißner. Sechs von ihnen traten als Deputierte aus ihren Reihen und brachten ihre Beschwerden zu ernsthaftem Vortrag, von den auf der Straße sich sammelnden Bürgern angefeuert und unterstützt. Es gelang ihnen, den Widerruf des ihre Würde [135] bedrohenden Artikels zu erzielen; eine neue Bekanntmachung beseitigte den empfangenen störenden Eindruck und beruhigte die Gemüter. Dem tatkräftigen Rektor Krug, der es wohl verstanden hatte, den jugendlichen Tatendrang in die rechten Bahnen zu lenken und in den ordnungsmäßigen Schranken zu erhalten, stiftete die Bürgerschaft zur Feier des Reformationsfestes einen Pokal, den Studierenden wurde bei dem gleichen Anlaß eine von den Leipziger Jungfrauen gestickte Fahne überreicht. Die bisherige, die Würde des Rektors verletzende Stellung des Polizeipräsidenten wurde abgeändert, ein kräftiger Vorstand der Universität aus der Mitte des akademischen Senates ernannt, zur Abhilfe aller Reibungen der Studierenden untereinander aber ein, dem Rektor und akademischen Senat verantwortliches Seniorat aus den Senioren der einzelnen Studentenverbindungen eingesetzt. Kein Wunder, daß das auf die Höhe der zeitgeschichtlichen Vorgänge erhobene Studententum auch auf den jungen Wagner seine unwiderstehliche Anziehungskraft äußerte!

Über seinen ersten Eintritt in das akademische Leben treffen wir bei einem älteren soi-disant-›Biographen‹ des Meisters auf einen Bericht, der uns trotz des leichtfertigen Tones seiner Abfassung auf einer mündlichen Überlieferung zu beruhen scheint.1 Es erhellt daraus, daß Wagner bereits als Schüler mit Vorliebe studentischen Verkehr aufgesucht, ja wohl in dieser das Studententum antizipierenden Übergangszeit dessen Reiz am mächtigsten empfunden habe. Der sogenannte ›Fuchs‹, heißt es in dieser gemütlichen Erzählung, sei dem vollberechtigten Studio an sich schon ein Gegenstand herablassender Geringschätzung, – nun aber gar ein nicht immatrikulierter Universitätsaspirant, also einer, der noch nicht einmal ›Fuchs‹ ist! Unter den Allergraviertesten dieser Art habe sich damals Wagner befunden, drei Monate sei er ›umhergelaufen, ohne seine Matrikel zu lösen‹ (diese drei Monate führen uns eben bis in den November 1830 zurück, wo er faktisch noch Thomasschüler war!) habe sich aber desto flotter in der Kneipe geriert, desto eifriger den Burschen herausgehängt und mit Studentenausdrücken um sich geworfen. Es konnte nicht fehlen, daß er damit anstieß; und als er sich gar so weit vergaß, dem gefürchteten Senior der Saxonia von sich aus ein vertrauliches ›Schmollis‹ anzubieten, ging der Teufel los; d. h. er ward von ihm von Stund an aufs Korn genommen. Doch bald machte dieser Senior die Entdeckung, daß der Junge ein sehr begabter Mensch sei, und nahm nicht länger Anstand seine Brüderschaft zu akzeptieren. Aber er fixierte eine Bedingung: ›Binnen heute und vier Wochen zeigst Du mir Deine Matrikel, oder ich erkläre dich [136] in Verruf‹. Der Vorfall und seine Wendung habe die gute Wirkung gehabt, daß Wagner schon nach acht Tagen triumphierend bei seinem Bruder Senior eintrat, mit den Worten: ›Es ist alles in Ordnung, die Matrikel habe ich in der Tasche‹. – ›Heraus damit‹, versetzte jener, und las: ›zum Studium in der Musik‹. Diese damals in Leipzig – vor Errichtung des Konservatoriums – unerhörte Matrikel habe das schallende Gelächter des bemoosten Hauptes erregt, aber der jetzt als ›Fuchs‹ berechtigte Student sich dadurch nicht irre machen lassen und nunmehr die Fuchstaufein optima forma begehrt und erhalten, von deren solenner Feier sein getreuer Senior ihn erst am hellen Morgen nach Hause geleitete.

Wir wollten dieser einzigen uns überlieferten Episode aus Wagners Studentenleben hier ihre Stelle nicht versagen, wiewohl ihr die Schwächen aller ähnlichen Anekdoten anhaften: einerseits das unverhältnismäßige Hervortreten des Erzählers, als welchen wir doch wohl in letzter Instanz eben jenen würdevollen ›Senior‹ selbst uns zu denken haben; andererseits die bedauerliche Abwesenheit eines wirklich individuellen Zuges, woraus uns Wagners Persönlichkeit irgend kenntlich entgegenträte. Wir entnehmen ihr demnach nicht viel mehr als die dreifache Tatsache: daß das Studententum mit seiner Herrlichkeit ihm das lebhafteste Interesse eben um die Zeit abgewann, als er eben erst von außen her an dasselbe herantrat; ferner: daß der Senior des angesehensten Korps der damaligen Studentenschaft Leipzigs dem vollbewußten Selbstgefühl des kaum noch ihr angehörigen Neulings gerade gut genug schien, um ihn seiner näheren Vertraulichkeit zu würdigen; endlich: daß die Begier, sich als ›Student‹ zu fühlen, ihn dazu vermocht habe, sich ausnahmsweise frühzeitig (dies steht durch das Inskriptionsdatum des 23. Februar fest!) in die Matrikel aufnehmen zu lassen. Das ›schallende Gelächter des bemoosten Hauptes‹ hingegen war gewiß nicht bloß in der überraschenden Neuheit des erwählten Studienfaches begründet, vielmehr in jenem weit tieferen Mißverständnis, aus welcher selbst Beethoven die ›Musik‹ in den Augen des Laien noch nicht hatte befreien können. ›Zu meiner Zeit‹, erzählt Wagner einmal in heiterer Erinnerung, trieben die Leipziger Studenten ihren Spott mit einem armen Teufel, den sie, gegen Bezahlung seiner Zeche, seine Gedichte sich vordeklamieren ließen. Von ihm besorgten sie ein lithographisches Porträt mit der Unterschrift: ›an allen meinen Leiden ist nur die Liebe schuld‹. Die Anführung dieses Zuges dient ihm dazu, mit einem hellen Schlaglicht das unziemlich Lächerliche in den sentimentalen Überschwenglichkeiten unserer modernen Lyrik aufzudecken: gewiß war aber jenes ›bemooste Haupt‹, mit welchem er es damals zu tun hatte, weit eher geneigt, die Musik jenen vom Studentenwitz verspotteten lyrischen Überschwenglichkeiten, als den ernsthaften und wohlapprobierten Fakultätswissenschaften ebenbürtig an die Seite zu stellen; und erst die Persönlichkeit Wagners hatte, wie in seinem ganzen ferneren Künstlerleben, [137] so auch hier, durch sich selbst den Beweis zu erbringen, daß es sich in ihr um keine weichlich weibische, sondern um eine wahrhaft männliche Kunst handele. Denken wir uns die Wirkungen Wagners aus der nachklassischen Entwickelung deutscher Musik hinweg – was würde diese letztere, trotz Bach und Beethoven, noch heute für den Nichtmusiker bedeuten?

Wir versuchen es an dieser Stelle, aus dem uns verfügbaren Material in wenigen Zügen ein Gesamtbild des damaligen bunten und kampfesfreudigen Leipziger Studentenlebens zu entwerfen, dessen wechselvolle Eindrücke den siebzehnjährigen Richard Wagner eine zeitlang zu fesseln vermochten. Der besonderen Gefälligkeit des Archivbewahrers der ›Saxonia‹ verdanken wir, außer sonstigen dankenswerten eingehenden Notizen, zunächst die Bestätigung der alten Korpstradition, wonach Wagner zeitweilig Mitglied dieser Studentenverbindung gewesen. Daß sein Name trotzdem in den Korpsakten nicht begegnet, begründet sich in dem einfachen Umstande, daß dieses Archiv von jeher bloß die Namen der Korpsburschen im engeren Sinne registriert; während Wagner, wie aus der Kürze seiner Laufbahn als Korpsstudent hervorgeht, zu dieser Rezeption gar nicht erst gelangen konnte. Er ist also, um uns der Studentensprache zu bedienen, bloß als ›krasser Fuchs‹ und ›Renonce‹ Angehöriger der Verbindung gewesen.2 Die Farben der ›Saxonia‹ waren: dunkelblau, hellblau und weiß; den Renoncen war nur ein zweifarbiges Band – dunkelblau und weiß – gestattet. Um jene Periode war die Stammkneipe des Korps die ›grüne Linde‹ am Peterssteinweg außerhalb der Stadt; hier fanden jeden Mittwoch und Sonnabend die regelmäßigen Kneipabende statt, an denen auch Wagner sich beteiligt hat. Hier gingen ausnahmsweise auch Paukereien vor sich, wie z. B. am 11. März 1831 ein Duell auf krumme Säbel zwischen dem hallischen ›Sachsen‹ Ollenroth und dem ›Lusaten‹ Degelow; während das gewöhnliche Lokal für derartige ritterlich-kriegerische Zwecke sich in der Fischerschen Restauration auf der Burgstraße befand. Zu Beginn des Jahres, also um die Zeit, in welcher der noch nicht immatrikulierte Richard Wagner sich zuerst dem bunten Treiben der Studentenschaft anschloß, bestand die Saxonia aus 17 Korpsburschen und einer größeren Anzahl ›Renoncen‹. Senior des Korps war bis zum Schlusse des Sommersemesters Adolf v. Schönfeldt;3 [138] von sonstigen aktiven Korpsburschen treten uns, bei alphabetischer Reihenfolge der Namen, entgegen: Bernhard v. Bismarck-Schönhausen,4 Heinrich Adolf v. Leipziger aus Naumburg, v. Manteuffel, Meixner, Meyer von Knonau, ein tüchtiger Schläger,5 Hermann Müller,6 Bernhard Nake, Karl Edler v. Planitz, Alexander von Seebach,7 Karl Alwill Graf zu Solms-Tecklenburg,8 Weinhold u.a., merkwürdigerweise aber auch Wagners späterer, einflußreichster Widersacher, der nachmalige Staatsminister Karl Louis v. Beust, dessen wir im weiteren Verlauf unserer Erzählung zu gedenken haben werden, ohne für jetzt auch nur konstatieren zu können, ob er – während der kurzen Zeit von Wagners Zugehörigkeit zur Saxonia – in irgend welche persönliche Berührung mit ihm getreten sei. In rüstigen Kämpfen mit ›neupreußischen‹ Hünen und ›lusatischen‹ Recken, mit ›Märkern‹, ›Burschenschaftern‹, ›Markomannen‹, hallischen ›Thüringern‹ usw. zeichnen sich, in den nicht weniger als 55 Paukereien vom 3. Januar bis zum 26. August 1831, durch siegreiche Waffenführung aus: in erster Linie der Korpssenior von Schönfeldt, auf welchen allein mehr als der siebente Teil sämtlicher mit Ort, Datum und Ergebnissen genau in den Korpsakten verzeichneten ›Paukereien‹ entfällt; ferner Meyer von Knonau (5. März 1831: zwölf Gänge ›ohne Hut und Binde‹ mit dem Lusaten Damm, bei welchen letzterer den Kürzeren zieht und fünf Hiebe ins Gesicht bekommt), Nake,9 Weinhold, Meixner, Solms u. a. Unter den Gegnern finden sich am häufigsten die Lusaten Degelow, Stötzer, Tischer, Henschel, dessen Körpergröße besonders hervorgehoben wird, die Neupreußen Gebhard, Schindler, Kölz usw. Doch begegnen auch minder gefährliche Streiter, wie bei der Paukerei vom 1. März: ›In Fischers Restauration‹, heißt es darüber in den Akten, ›paukte sich heute unsere Renonce Amthor mit dem Finken Lippert (ein »Fink« ist in der Studentensprache ein einzeln Dastehender, keiner Verbindung angehöriger Student). In allen 12 Gängen bekam Lippert Hiebe, worunter jedoch nur zwei blutige waren. Spaßhaft war es anzusehen, wie L., Amthors Hieben ausweichend, im Saale herumsprang.‹ Von besonderen [139] Festlichkeiten, außer den regelmäßigen Mittwochs- und Sonnabendszusammenkünften in der ›grünen Linde‹, finden wir aus dieser Periode in den Korpsakten nur notiert: einen Fuchskommers, der am 6. Juni in Kleinzschocher abgehalten worden und dem ›eine solenne Wagenfahrt‹ vorausgegangen ist.10 Ein großer Teil der hier genannten Namen seiner studierenden Zeitgenossen lebte nebst den Taten ihrer Träger in Wagners klarem, nie versagenden Gedächtnis fort, und wie sprudelnd heiter er von den Abenteuern dieser kurzen Taumelzeit des Studententums zu berichten wußte, dessen ist Nietzsche Zeuge, der gleich bei seiner ersten Begegnung mit dem Meister in Leipzig (Herbst 1868) ausführliche Erinnerungen dieser Art von ihm vernahm, an die er noch hinterher nicht ohne Lachen denken konnte.11 In seinen brieflichen oder anderweitigen Erwähnungen kommt sehr natürlicher Weise kaum eine oder die andere Beziehung auf diese Episode seines Lebens vor; nur gelegentlich einer Verlobungsanzeige aus der Pusinellischen Familie (1870), als ihm dabei der Name Nake begegnet, taucht ihm sogleich die Erinnerung an den Jugendbekannten auf: ›Ich war mit zwei Nakes Brüdern in Leipzig als Fuchs, ziemlich nahe befreundet: sogar war ich der Leibfuchs des älteren (ich glaube Bernhard N.), kommt hier etwa ein Deszendent ins Spiel?‹12

Nach Immermanns treffender Bemerkung ist es in all jenen ›braven, heldenhaften Studenten‹ eigentlich nur der künftige Philister, der innerlich juckt und heraus will, weshalb auch die nachherigen Genies und Lichter der Welt nicht in ihren Reihen zu suchen seien; diese schlichen vielmehr an Universitäten und Akademien als arme, kümmerliche, übersehene Gesellen umher. Zu den letzteren freilich konnte Wagner nimmermehr zählen, dazu war ihm jede Art Duckerei und Muckerei jederzeit zu sehr im Innersten fern und fremd. Von jeher geneigt und gewohnt, das von anderen Geleistete, auf welchem Felde es auch sei, zu überbieten, ließ er es auch in sprudelnder Lebenslust und Ausgelassenheit nicht an sich fehlen. Was der unmusischen Liederlichkeit des nachburschenschaftlichen Studentenlebens an Schwung und Phantasie ab ging, ersetzte er dabei reichlichst aus dem eigenen Innern und überließ sich, damit ihm nichts Menschliches fremd sei, den gewohnten akademischen Ausschweifungen – nach seinen eigenen Worten – ›mit so großem Leichtsinn und solcher Hingebung‹, daß er sie bald in ihren, nicht allzu grundlosen Tiefen erschöpfte. Je rückhaltloser er sich den studentischen Freuden und Genüssen hingab, desto eher lag es offen vor ihm da, daß der nach dem Verfliegen der vorübergehenden politischen Glorie übrig gebliebene enge Zirkeltanz von ›wenig [140] Witz und viel Behagen‹ nicht für seine Bedürfnisse geschaffen sei und nach verpufftem Jugendrausch desto sicherer in den Sumpf des Philistertums führe. Dies einsehen und der Doppelbühne studentischer Ruhmestaten, der Kneipe und dem Fechtboden, für immer den Rücken wenden, war für ihn ein und dasselbe.

Die Seinigen hatten um diese Zeit ›große Not mit ihm gehabt‹. Seine Musik hatte er fast gänzlich liegen lassen. Aber auch von der Gelegenheit, sich durch regelmäßige Anhörung philosophischer und ästhetischer Kollegien zu bilden, profitierte er so wenig, als es z. B. einst Goethe während seiner Leipziger Studienzeit getan. Und wie es scheint, nicht ganz allein durch eigene Schuld. Die damaligen Leipziger Philosophen und Ästhetiker wären ihm für seine Geistesbildung in keinem Fall von wesentlichem Nutzen gewesen. Um eben die Zeit, wo Richard Wagner in Leipzig vergeblich den rechten Lehrer und Führer in der philosophischen Ergründung der Kunst- und Lebensprobleme suchte, um dieselbe Zeit wandte Arthur Schopenhauer sich dauernd von der Berliner Universität und seiner jungen Lehrtätigkeit ab, weil er darauf verzichtete, dort für seine Lehre die rechten Hörer und Schüler zu finden! Blieb somit Wagner in der Philosophie und Ästhetik für jetzt noch ganz auf ein autodidaktisches eigenes Denken, Erleben und Schauen angewiesen, so kam er nun aber dafür, nach allen heftigen Aus- und Abschweifungen, hinsichtlich seiner Kunst zur rechten Besinnung. Er fühlte die Notwendigkeit eines neu zu beginnenden, streng geregelten Studiums der Musik, und die Vorsehung ließ ihn den rechten Mann dazu finden, der ihm neue Liebe zur Sache einflößen und sie durch den gründlichsten Unterricht läutern sollte.

Dieser Mann war Christian Theodor Weinlig, seit 1823 Kantor an der Thomasschule zu Leipzig. Er verstand es, der üppig vorwaltenden Phantasie seines Schülers Zaum und Zügel anzulegen und seinem beweglichen Geiste ein sicherndes Gleichgewicht zu verschaffen. Nachdem sich der junge Musiker wohl auch schon zuvor in der Fuge versucht hatte, begann er jedoch erst bei Weinlig das gründliche Studium des Kontrapunktes, welches dieser die glückliche Eigenschaft besaß, den Schüler spielend erlernen zu lassen. Über den Verlauf seiner Studien berichtet Wagner etwa drei Jahre später,13 aus frischer Erinnerung, in einer brieflichen Skizze seines musikalischen Bildungsganges: Weinlig fühlte wohl richtig, wo es mir zunächst noch fehlte; er setzte das Erlernen des Kontrapunktes erst noch beiseite, um vorher meine Kenntnisse in der Harmonie auf das Gründlichste zu befestigen. So nahm er zunächst den strengen gebundenen Stil der Harmonie mit mir vor, und wich nicht eher davon, als bis er mich darin für vollkommen befestigt hielt; [141] denn nach seiner Ansicht war dieser gebundene Stil die erste und einzige Grundlage sowohl zur Handhabung freier und reicher Harmonien, als wesentlich auch zur Erlernung des Kontrapunktes. Das Studium des letzteren betrieb er nun mit mir nach der festesten Richtung und den strengsten Grundsätzen, und nachdem er mir durch die Vervollkommnung in diesem schwierigsten Teil des allgemeinen Musikstudiums den sichersten Grund gelegt zu haben schien, entließ er mich mit den Worten: ›Ich tue Sie hiermit aus der Lehre, wie der Meister seinen Lehrling, wenn dieser das gelernt hat, was jener ihn lehren konnte‹.

Auf die Frage nach der von seinem Lehrer eingehaltenen besonderen Methode des Unterrichts erwiderte Wagner in späteren Jahren14 mündlich etwa folgendes: ›Weinlig hatte gar keine spezielle »Methode«, aber er war ein klarer Kopf und griff die Sache praktisch an. In Wahrheit läßt sich das Komponieren nicht lehren; man kann nachweisen, wie die Musik das geworden ist, was sie ist; aber das ist historischer Kritizismus und kann nicht direkt zur praktischen Anwendung leiten. Alles, was man tun kann, ist, auf ein tatsächliches Beispiel, ein bestimmtes einzelnes Werk Bezug nehmen, eine Aufgabe in dieser Richtung zu stellen und des Schülers Arbeit zu korrigieren. So hat es Weinlig mit mir gemacht. Er wählte ein bestimmtes Werk, meist eines von Mozart, lenkte die Aufmerksamkeit auf dessen gesamten Aufbau, den Umfang und das Verhältnis der einzelnen Abschnitte, die vorkommenden hauptsächlichen Modulationen, die Zahl und Beschaffenheit der Themen und den allgemeinen Charakter ihrer Bewegung und Durchführung. Dann stellte er die Aufgabe: »Sie sollen jetzt ungefähr so und so viele Takte schreiben, sie in so und so viele Abschnitte mit entsprechenden Modulationen einteilen; es sollen so und so viele Themen sein und von dem und dem Charakter«. Ähnlich ließ er kontrapunktische Übungen, Kanons und Fugen setzen: er analysierte ein Musterbeispiel bis ins einzelne, und gab dann einfache Anweisungen, wieder Schüler bei der Ausführung zu Werke gehen sollte. Aber seine hauptsächliche Unterweisung bestand in der geduldigen und eingehenden Durchsicht des Geschriebenen. Mit unendlicher Sorgfalt erfaßte er jede einzelne, noch so geringe Mangelhaftigkeit, und wies nach, weshalb und zu welchem Endzweck hier eine Änderung nötig sei. Sogleich begriff ich, worauf er es abgesehen hatte und richtete die Stelle bald zu seiner Zufriedenheit ein. Nach einem so einfachen Plane sollte die Musik überhaupt einzig gelehrt werden: beim Gesang, beim Spielen und Komponieren, und auf welcher Stufe es auch sei, ist nichts so gut, als ein einfaches Beispiel und die sorgfältige Korrektur der Versuche in der Befolgung derselben‹.

[142] In dieser seiner Lehrzeit bei Weinlig lernte Wagner auch Mozart vollends innig kennen und lieben. Zwar verstärkte sich dadurch in ihm nur der Eindruck der Unbefriedigung, den er aus den Orchestervorträgen der Mozartschen Instrumentalwerke in den Gewandhauskonzerten davontrug; namentlich war er jedesmal durch die Mattigkeit der Kantilene erstaunt, die er sich zuvor so gefühlvoll belebt eingeprägt hatte. ›Was mir am Klaviere, oder bei der Lesung der Partitur, im Ausdrucke so seelenvoll belebt erschienen, erkannte ich dann kaum wieder, wie es meistens ganz unbeachtet flüchtig an den Zuhörern vorüberging‹. Die Gründe dieser Unbefriedigung wurden ihm erst später völlig klar, als er selbst Gelegenheit fand, diese Werke zu dirigieren und hierbei es sich verstattet fand, seinem Gefühle für den belebten Vortrag der Mozartschen Kantilene zu folgen Unter seinen eigenen Übungsarbeiten aus dieser Lehrzeit ist vor allem jene, höchst einfache und bescheidene viersätzige Klaviersonate in B dur zu nennen, in der er sich den Vorschriften seines Lehrers gemäß zunächst nur ›von allem Schwulst losmachte‹ und von jeder freieren Entfaltung seines eigenen Inneren absah. Sie erschien auf Weinligs Veranlassung bei Breitkopf und Härtel im Druck, gleichzeitig mit einer Polonaise in D dur für Klavier, zu vier Händen.15 Beide Werke, in denen man vergeblich eine Spur von Wagner suchen würde, sind trotzdem nicht allein die ersten unter seinem Namen publizierten, sondern sie sind sogar, nach hergebrachter Musikersitte, mit sogenannten ›Opusnummern‹ (1 und 2) versehen, deren sich Wagner bei seinen späteren Veröffentlichungen nie wieder bedient hat. Eine geistige Verwandtschaft des Verfassers dieser Sonate mit dem Autor jener früheren, ungeheuerlichen, aber von allem Gewohnten und Gewöhnlichen abweichenden Ouvertüre, hätte – nach Dorn – wohl niemand herausgefunden. Da müssen wir es nun wohl doppelt bedauern, daß uns von den sibyllinischen Blättern der Wagnerschen Erstlingswerke gerade die Sonate, nicht aber jene Ouvertüre erhalten ist! Als Entschädigung für den Zwang, den er sich in beiden Produktionen angetan, gestattete ihm Weinlig, etwas nach seinem Gefallen zu schreiben. So entstand eine Fantasie für Klavier in Fis moll, 12/8 Takt, nach dem Urteil W. Tapperts ›bei weitem interessanter und eigentümlicher, als die Sonate und die Polonaise‹, aber bis hiezu unveröffentlicht.

Sein Studium war in weniger als einem halben Jahre beendet. Während dieser Zeit soll, nach den Erinnerungen der Schwester Cäcilie, Weinlig eines[143] Tages der Mutter eine Visite gemacht haben. Von den früheren Lehrern ihres Sohnes her gewohnt, daß sie bloß über ihn klagten, habe die Mutter denn auch diesmal seine ernste Miene sich unwillkürlich dahin gedeutet, er käme, wie die andern, um über Richard Beschwerde zu führen. Statt dessen habe ihr aber der würdige Mann zu ihrer wahren Ergriffenheit erklärt: ›er habe es für seine Pflicht gehalten, ihr einen Besuch zu machen, um ihr über die Fortschritte seines Schülers zu berichten. Es sei ganz merkwürdig, aber was er dem jungen Manne habe lehren können, das wisse er alles schon von selbst.‹ Der treffliche Thomaskantor entließ ihn aus der Lehre, nachdem er ihn soweit gebracht, daß er die schwierigsten Aufgaben des Kontrapunkts mit Sicherheit und Leichtigkeit zu lösen imstande war. Seine Abschiedsworte bezeichneten ihm als die Frucht so anhaltender trockener kontrapunktistischer Beschäftigung die dadurch erlangte Selbständigkeit. ›Wahrscheinlich‹, so sagte er zu Wagner ›werden Sie nie in den Fall kommen, eine Fuge zu schreiben; allein, daß Sie sie schreiben können, wird Ihnen technische Selbständigkeit geben und alles übrige Ihnen leicht machen‹. Weinlig starb als ein rüstiger Sechziger im März 1842 und erlebte demnach wohl die Vollendung, nicht aber den Triumph des ›Rienzi‹; gewiß hätte er aber dem Schaffen seines Schülers, auch zu dem Zeitpunkte, als dessen prophezeite ›Selbständigkeit‹ und Eigenart mit Allgewalt zum Durchbruch gelangte, nach einigem Kopfschütteln ein besseres Verständnis entgegengebracht, als sein, durch das volle Gegenteil eines solchen Verständnisses ziemlich bekannt gewordener Nachfolger an der Thomaskirche, – Moritz Hauptmann!

Es scheint, daß auch die Gattin Weinligs an dem strebsamen jungen Musiker bei seinen fast täglichen Besuchen in ihrem Hause ihr Wohlgefallen gehabt habe. Die dankbare Anhänglichkeit, welche ihr Richard Wagner über den Tod des verehrten Lehrers hinaus bewahrte, bekundet sich noch zwölf Jahre später in der Dedikation seines ›Liebesmahls der Apostel‹ an ›Frau Charlotte Emilie Weinlig, die Witwe seines unvergeßlichen Lehrers‹.

Zwei auf uns gekommene Briefe des jungen Meisters an Musikverleger, beide vom 6. August 1831 datiert, zeigen, wie schwer es ihm damals noch fiel, für eine lohnende Verwertung seiner musikalischen Arbeiten eine Anknüpfung zu finden und wie er sich doch darnach umsah. Das eine derselben, an das Bureau de Musique (C. F. Peters) in Leipzig gerichtet, betrifft die Bitte um Korrekturen und Arrangements für das Klavier. Er wünscht ›aus Mangel an Beschäftigung‹ in eine Tätigkeit dieser Art zu gelangen und erbietet sich zu unentgeltlichen Probearbeiten in beiden Fächern, unter Zusicherung der Pünktlichkeit und Korrektheit seiner Arbeiten. Unterzeichnet ist es ›Richard Wagner, stud. mus.‹16 Das andere, vom gleichen Datum, bezieht sich hingegen auf [144] das von uns (S. 131/32) bereits erwähnte Arrangement der neunten Symphonie Beethovens. Wir entsinnen uns, daß er auf seine damalige Offerte, vermutlich wegen der großen Unpopularität des Werkes selbst, keine feste Zusage, sondern erst nach längerer Zwischenzeit eine ausweichende Antwort erhielt. Anscheinend hatte ihn dieses Erwiderungsschreiben auf eine mündliche Besprechung der Angelegenheit um die Zeit der nächsten Ostermesse vertröstet. Tatsächlich hat eine solche mündliche Auseinandersetzung zwischen Wagner und dem einen der beiden Brüder Schott, als dieser um die Ostermesse 1831 in musikhändlerischen Angelegenheiten als Vertreter der Firma in Leipzig verweilte, stattgefunden und nahm Johann Schott bei dieser Gelegenheit das ihm angetragene Manuskript mit sich nach Mainz ›mit der Weisung, wegen des Andranges der Meßgeschäfte das übrige schriftlich abzumachen.‹ Seitdem aber war mehr als ein Vierteljahr verstrichen, ohne daß ein Anerbieten seitens der Schottschen Firma bei ihm eingelaufen wäre. Er mußte demnach der Meinung sein, daß Schotts irgend eine Initiative seinerseits erwarteten, und legt ihnen daher, eben unter dem 6. August, seine Bedingungen vor. ›Ew. Wohlgeboren‹, heißt es in diesem Briefe,17 ›wird es unmöglich für unbillig halten, wenn ich für diese langwierige mühsame und wichtige Arbeit, an die sich bis jetzt noch niemand wegen der ungemeinen Schwierigkeit gewagt hat, für den Bogen 1 Louisdor, also 8 Louisdor fordere, die sicher der Abgang dieses wichtigen Werkes zehnfach einbringen wird.‹ Um eine Antwort und womöglich um baldige Übersendung des Honorars ersucht er um so dringender ›je näher die Zeit meiner Abreise von hier heran kommt, wozu ich dieser unbedeutenden Zahlung äußerst nötig bedarf‹. Auf was für eine, damals beabsichtigte Reise in diesem Passus hingedeutet wird, läßt sich vorläufig aus Mangel an jedem bestimmten Anhalt unmöglich erkennen Müssen wir die Motive ehren, welche den jungen Musiker dazu bestimmten, durch Erwerbung eines eigenen kleinen Taschengeldes für seine äußeren Lebensbedürfnisse desto weniger auf die Unterstützung seiner Familie angewiesen zu sein, so war es für ihn doch sicher in höherem Grade gewinnbringend, von Lohnarbeiten jeder Art – auch trotz wiederholter Bewerbung – frei erhaltenzu werden. Charakteristisch genug ist denn auch der, bereits von uns hervorgehobene Umstand, daß beide geschäftlichen Schreiben, nach verschiedenen Richtungen hin, an einem und demselben Tage abgefaßt sind. ›So, das war ein grauer, d. h. ein Geschäftstag‹, heißt es späterhin in einem ähnlichen Falle einmal in seinen Briefen an Uhlig, und wiederholt können wir beobachten, wie er dergleichen verhaßte Dinge möglichst in einem Zuge erledigt, um sich wieder seiner geliebten Kunst zuwenden zu können.

[145] In der gleichen Tonart des überschwänglich gewaltigen Werkes, dessen Klavierbearbeitung er – vergeblich – der Schottschen Firma antrug, und die ihn auch über dieses ihm gewidmete Arrangement hinaus in ihrem magisch fesselnden Einfluß erhielt, komponierte er noch in demselben halben Jahre (außer der Sonate, Polonäse und Fantasie) auch eine Konzert-Ouvertüre in D moll, – ›nach dem jetzt etwas besser von mir verstandenen Vorbilde Beethovens.‹ Die im Besitz des Hauses Wahnfried befindliche Originalpartitur weist die nachstehenden Daten auf: in der Komposition vollendet 26. September 1831, in einer bald darauf vorgenommenen Umarbeitung 4. November 1831. Dagegen fehlt es uns einstweilen wiederum an einem festen Anhaltspunkte, um zu entscheiden, aus welchem Anlaß diese Umarbeitung vor sich gegangen sei? ob etwa auf den Rat Weinligs oder aus eigenem Antriebe, nach vorausgegangener Einsicht in etwaige Schwächen oder Breiten der ursprünglichen Ausführung? In einer zweiten ›Großen Konzertouvertüre‹, mit langsamer Einleitung, einer ausdrucksvollen Violoncell-Cantilene, und einem weitausgebauten fugierten Allegrosatze, trat er alsdann aus dem düsteren D moll in das heitere Tageslicht eines hellen C dur über. Wir kommen weiterhin auf dieselbe zurück, nachdem wir zuvor noch einige der dazwischen liegenden Lebenseindrücke vorbereitend registriert haben.

So sehr seine produktive Tätigkeit in dieser ganzen Zeit ausschließlich der reinen Musik angehörte, füllte sie dennoch mit nichten den gesamten Kreis seiner Interessen aus. Nach wie vor übten die gleichzeitigen geschichtlichen Vorgänge der bewegten Epoche die größte Anziehungskraft auf seinen feurig regsamen Geist. ›Ich entsinne mich jedoch‹, fügt er in späterem Rückblick einschränkend hinzu ›den Erscheinungen der politischen Welt vorzüglich in dem Maße Aufmerksamkeit zugewendet zu haben, als in ihnen der Geist der Revolution sich kundtat, nämlich, als die reine menschliche Natur sich gegen den politisch-juristischen Formalismus empörte. Stets konnte ich nur für den Leidenden Partei nehmen, und zwar ganz in dem Grade eifrig, als er sich gegen irgendwelchen Druck wehrte‹. ›Namentlich war, nach großer Begeisterung für das kämpfende, meine Trauer um das gefallene Polen sehr lebhaft. Noch aber waren diese Eindrücke auf meine künstlerische Entwickelung nicht von erkennbarer Gestaltungskraft; sie waren in bezug hierauf nur allgemeinhin anregend‹. Auch war seine lebensprühende Natur, voll regen Witzes, ausgelassener Lebenslust und Munterkeit, weit davon entfernt, sich – zwischen den ernstlichsten Studien und Arbeiten – dem frischen lebendigen Verkehr mit Altersgenossen zu entziehen. Seiner Beziehungen zu Dorn, dessen Schüler damals Robert Schumann war, und dessen jüngerem Stiefbruder Schindelmeißer ward bereits zuvor gedacht; unter seinen Studiengenossen ist besonders der nur um zwei Jahre ältere Guido Theodor Apel (geb. 10. Mai 1811) zu nennen, der von der Nikolaischule aus, gleichzeitig mit Wagner, als Student [146] der Rechte zur Universität Leipzig übergegangen war. Er hatte ›nach seines Vaters – August Apels – allzufrühem Tode im Hause seiner feingebildeten Mutter durch den als musikalischer Schriftsteller (und Redakteur der Allg. musikal. Ztg.) bekannten Gottfried Fink eine sorgfältige Erziehung erhalten. Vom Glück mit irdischen Gütern reich gesegnet und mit einer lebhaften Phantasie begabt, pflegte er mit besonderer Vorliebe der Dichtkunst und Musik und wurde darin durch die innigste Freundschaft Richard Wagners und anderer Komponisten gefördert‹.18 Von den Schwestern war Rosalie der anziehende Mittelpunkt der Familie geblieben, die blonde Ottilie und die dunkellockige Cäcilie standen in reizvoll blühendem Mädchenalter (Klara war bereits vor zwei Jahren in Augsburg, wohin ihre Sängerinnenlaufbahn sie geführt, mit dem Sänger und Opernregisseur Wolfram verheiratet und zur Zeit mit ihrem Gatten in Magdeburg tätig), und das Haus der Mutter mit seinen gastlichen Traditionen übte nach wie vor seine Anziehungskraft auf manche interessante Erscheinung in Kunst und Literatur aus. Es fehlte demnach nach allen Seiten hin nicht an anregendem und fesselndem freundschaftlichen Verkehr, geselligen Vergnügungen und Ausflügen, und bis vor zehn Jahren stand – und steht vielleicht heute noch – in Eutritzsch bei Leipzig ein altes Gasthaus, welches damals durch den Besitz eines Klaviers zu der populären Benennung ›Klavierschenke‹ (später: alte Oberschenke) gelangt war und worin Wagner als Student getanzt und zum Tanze als Improvisator aufgespielt zu haben sich entsann. Zu dem Hause der Schwester Luise Brockhaus, die seither auch schon die glückliche Mutter eines reizenden Töchterchens (Marianne) geworden war, blieben die Beziehungen stetig und rege. Mit interessanten Erzählungen von Richard Wagners ›erster Liebe‹ können wir dagegen dem Leser an dieser Stelle beim besten Willen nicht dienen, weil wir darüber nichts wissen und weder Wagner selbst (etwa nach dem Vorgang Goethes!) es für gut befunden hat, die Nachwelt in die Geheimnisse seiner ersten zarten Gemütsregungen einzuweihen, noch auch von anderer Seite her die mindesten beglaubigten Nachrichten darüber vorliegen. Wer es also trotzdem immer wieder versucht, um einer wohlfeilen Sensation willen den schlüpfrigen Weg romanhafter oder novellistischer Erdichtungen zu beschreiten, der hat es zugleich vor seinem eigenen Gewissen und dem dadurch getäuschten Leser zu verantworten.

Ohne jeden Zweifel hat Wagners feurig lebhaftes Wesen, dem in keiner Beziehung etwas Menschliches fremd blieb, gerade um diese Zeit nach mehr als einer Richtung hin zarteren Empfindungen offen gestanden, um so mehr als sein künstlerisch produktives Naturell ihm gewiß schon damals – und damals erst recht – den Streich spielen mochte, den etwaigen Gegenstand seiner Neigung weit über seinen wirklichen Wert hinaus zu erheben; woraus [147] es sich denn erklärt, daß die Ehre, zu solchen Empfindungen der Anlaß gewesen zu sein, späterhin von dieser oder jener Seite her reklamiert worden ist. Wir wollen hier nur der Frau Marie Lehmann, der vortrefflichen Mutter der beiden Sängerinnen Lilly und Marie Lehmann, gedenken, die unter ihrem Mädchennamen Marie Löwe19 als Sängerin dem damaligen Leipziger Hoftheater angehörte und von Dorn20 unter seinen engeren Theater-Kunstgenossen erwähnt wird. Sie war um das Jahr 1830 als Anfängerin nach Leipzig gekommen und durch Wagners Schwestern mit ihm bekannt geworden, und ließ sich gelegentlich bei ihren Gesangsstudien von ihm auf dem Klavier begleiten. Zu ihr soll Richard eine ›schwärmerische Neigung‹ gefaßt haben, an deren Nichterwiderung aber seine damals angeblich, sehr verbitterte und melancholische Gemütsstimmung (?!) schuld gewesen sein. Sicher ist, daß die nachmalige Frau Lehmann dem Meister jederzeit in wirklich freundschaftlicher Ergebenheit zugetan geblieben ist, während sie in ihrer späteren Laufbahn dem Kasseler Hoftheater in seiner Blütezeit unter Spohr, und nach ihrem Rücktritt von der Bühne als tüchtige Harfenspielerin dem Orchester des deutschen Landestheaters zu Prag angehörte, sowie daß Wagner ihr eine besondere Achtung und Anhänglichkeit bewahrt hat. Sie war es, welche ihm von Prag über die dortigen Erfolge seines ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ nach Zürich treulichen Bericht erstattete und ihn u. a. auf die bedeutungsvolle Leistung der Frau Dustmann (damals Frl. Luise Meyer) als Elsa aufmerksam machte. Und als dann zu Beginn der siebziger Jahre die ersten Vorbereitungen der Bayreuther Unternehmung den Meister beschäftigten, unterließ er es nicht, sich wegen der Mitwirkung ihrer beiden vorzüglichsten Schülerinnen, nämlich ihrer beiden Töchter, an die alte Freundin zu wenden.

Kehren wir von diesen persönlichen Beziehungen zu den sonst auf den jungen Meister wirkenden Einflüssen zurück, so finden wir, daß seine demnächstigen künstlerischen Taten und Erfolge sich, wie bereits angedeutet, mit den Eindrücken der Zeitgeschichte innig durchflechten. Auch diesmal handelte es sich um Ereignisse, die, anfänglich bloß aus der Ferne auf ihn wirkend, bald darauf durch lokale Vorgänge plötzlich und unvermutet ihm unter den Augen greifbare Gestalt gewannen. Ganz wie die fernen Erschütterungen der Julirevolution ihm in den Leipziger Unruhen verkörpert unter die Augen traten, ging es ihm auch mit der lebhaft erregten Sympathie mit dem kämpfenden und leidenden Polen. Sie war die Vorläuferin eines eindrucksvollen Erlebnisses: der zu Beginn des Jahres 1832 scharenweise durch Deutschland, der französischen Grenze zu, sich bewegenden polnischen Emigrantendurchzüge. Wohlverstanden handelte es sich dabei allerdings für jetzt [148] nur um eine bedeutsame Gleichzeitigkeit innerer und äußerer Vorgänge, ohne direkte Einflüsse der letzteren auf seinen künstlerischen Gestaltungs- und Schaffenstrieb.

Die letzten tragischen Zuckungen der so hoffnungsvoll begonnenen polnischen Erhebung im Kampf mit der russischen Übermacht fallen in den Herbst und Winter 1831. Warschau war durch die russische Armee unter Paskewitsch eingenommen; ein Teil des polnischen Heeres hatte, von den Russen gedrängt, an der galizischen Grenze die Waffen gestreckt, der Rest des Hauptheeres, einundzwanzigtausend Mann, die preußische Grenze überschritten. Die bärtigen Reiter umarmten unter Tränen zum letztenmal ihre Rosse, sie zerbrachen den Degen oder zerschmetterten die Flinte, die sie für ihr Vaterland nicht mehr brauchen durften; andere warfen sich laut schluchzend zur Erde nieder. Seit dem Falle von Warschau beschlossen Tausende von Polen, in fremden Landen eine neue Heimat zu suchen, ja von da aus die Teilnahme der Völker für ihre Nation zu erregen: die meisten fanden in Frankreich eine gastliche Aufnahme, andere gingen nach England und Amerika, nach Belgien und nach Algier; die übrigen zerstreuten sich durch andere Länder. Gegen Ende des Jahres kamen die ersten polnischen Auswanderer durch Deutschland; am 8. Januar 1832, einem heiteren Wintertage, wurde Leipzig durch die Ankunft der flüchtigen Polenhelden in eine stürmische Erregung versetzt, die sich durch täglich folgende frische Durchzüge erneute. Schon eine Stunde Weges von der Stadt wurden sie von vielen, welche die Ungeduld so weit hinausgeführt hatte, mit Jubel und Vivatrufen begrüßt, und am äußeren Grimmaischen Tore scholl ihnen gleicher vieltausendstimmiger Jubel entgegen. Der ganze lange und breite Steinweg war mit Menschen übersät, die für den Augenblick an nichts anderes dachten und für nichts anderes Sinn hatten, als wie sie den unglücklichen Heimatlosen ihre innigste Teilnahme bezeigen könnten. Die Polen ihrerseits wußten ebenfalls ihre Freude und Dankbarkeit nicht sattsam zum Ausdruck zu bringen. Es war herzerhebend, hier wie dort die Tränen der Rührung fließen zu sehen.

Unter ununterbrochenem Zujauchzen des Volkes fuhren die Ankömmlinge durch die Stadt, nach den zu ihrer Aufnahme bestimmten Gasthäusern; ein aus der wohlhabenden Bürgerschaft gebildetes, opferwillig wirkendes ›Polen-Komitee‹ hatte im voraus ergiebig für ihr Unterkommen gesorgt. Bei der allgemeinen Exaltation der Bevölkerung wurde für die folgenden Kolonnen die vorbeugende Anordnung getroffen, daß sie nicht mehr durch die Stadt fahren durften, sondern genötigt waren, in einem großen Bogen die Stadt zu umfahren, nach dem Rannstädter Tore zu, in dessen Nähe das Gasthaus sich befand, welches den meisten von ihnen zur Verpflegung diente. Die Zahl der Familien, welche sich bei dem Polenkomitee zur Aufnahme einzelner Flüchtlinge für die ihnen bewilligten vierundzwanzig Stunden in ihre Wohnungen [149] bereit erklärten, wuchs täglich, und es gab Tage, wo von einer – gewöhnlich einige 90–120 Mann starken – Kolonne nur wenige der Bewirtung und Verpflegung in den öffentlichen Gasthäusern zurückgelassen wurden. Als begeisterte Polenfreunde bewiesen sich die Studierenden; viele von diesen tauschten mit den Fremden Andenken um Andenken, Bruderkuß um Bruderkuß, und schlossen mit ihnen Freundschaftsbündnisse. Wer von ihnen weder Vermögen noch geräumige Wohnung dazu hatte, einen der Heimatlosen bei sich aufzunehmen, suchte wenigstens die Gesellschaft eines solchen zu genießen und aus dessen Erzählungen Stoff für die Bewunderung eines neuen, unerhörten Heldentumes zu sammeln. ›Polnische Emigranten, stolze, schöne Gestalten, die mich entzückten und für das traurige Schicksal ihres Vaterlandes mit tiefem Mitleid erfüllten, wurden mir persönlich bekannt‹, berichtet Wagner von sich selbst.21 Alle Nachmittage sah man die polnischen Fremdlinge nach dem Gerhardschen Garten zu den Denkmälern Poniatowskys wallfahren. Blumenkränze zierten die einfachen Steine, und als wären diese Blumen auf dem Grabhügel des verunglückten Fürsten selbst erblüht, so sorgfältig wurden sie von den Besuchern als heilige Erinnerungszeichen in Brieftaschen aufbewahrt Augenzeugen berichten von dem ergreifenden Eindrucke, den es gemacht, aus ihren beredten Mienen und unverständlichen polnischen Worten die heiß erregten Gefühle ihres Herzens zu lesen. An allen öffentlichen Orten, wo sie erschienen, erwies man ihnen jede mögliche Achtung; ihnen zu Ehren und zu ihrem Besten wurden nicht allein Gesellschaften und Bälle gegeben, sondern auch ein großes Konzert im Gewandhaus veranstaltet, das sehr beträchtliche Summen für den Unterstützungsfonds einbrachte und in welchem das ›Denkst du daran‹ als Konzertpièce figurierte. Als höchst eigentümlicher und belebter Vorgang wird uns der jedesmalige Aufbruch der Polen, früh um sieben Uhr am Tage nach ihrer Ankunft, von ihrem Hauptquartier, dem Gasthaus ›Zum grünen Schilde‹ aus, beschrieben. Da gab es ein geschäftiges Drängen und Treiben, ein An- und Zurufen, ein unaufhörliches Fragen und Antworten bald in polnischer, bald in französischer, bald in deutscher Sprache, welche letztere auffallend viele der Fremden sprachen; da bildeten sich Gruppen, in denen man von herzlicher Dankbarkeit, von innigen Glückwünschen, von oft wiederholten Versprechen, den neuen Freunden von da oder dort Nachricht zu geben usw. hörte.

So ging es den größten Teil des Monats Januar hindurch. Im Februar zogen fast nur einzelne Flüchtlinge durch die Stadt, doch erwartete man noch die bevorstehende Ankunft einiger Kolonnen Offiziere und mehrerer Tausende von Gemeinen, in Haufen zu fünfhundert Mann, über deren Durchzug der [150] von Ostrolenka her berühmte allgefeierte Artilleriegeneral Bem mit den Landesbehörden in Verhandlung stand. Aus diesen bewegten Tagen, deren ins Rollen geratene Wogen noch durch die nächstfolgenden Monate nachrauschten, ehe sie sich völlig beruhigten (›in Leipzig glüht und brennt und flammt alles für die Polen‹, lesen wir noch in einer auswärtigen Korrespondenz vom März 1832), stammt die erste Anregung zu Wagners, erst später wirklich komponierten, Ouvertüre ›Polonia‹. So lebhaft alle diese Eindrücke auf ihn wirkten, verdanken doch seine gleichzeitigen, tatsächlich ausgeführten, musikalischen Arbeiten ihre Entstehung Anlässen von ganz anderer Beschaffenheit. Unter diesen reiht sich zunächst an die schon erwähnte Ouvertüre in D moll (S. 146) noch eine andere, die ihren Ursprung seltsamer Weise an Raupachs eben damals über die deutschen Bühnen ziehendes, mondschein- und grausengewürztes Trauerspiel ›König Enzio‹ anknüpft. Sie trägt im Manuskript das Datum des 3. Februar 1832. Das Raupachsche Stück, worin Rosalie die Lucia di Viadagoli spielte, hatte demnach bei seinen mehrfachen Leipziger Aufführungen (seit Mitte Februar) die Ehre, durch eine eigens dafür verfaßte Wagnersche Ouvertüre eingeleitet zu werden. An diese schloß sich ihrer Entstehung nach die von uns ebenfalls schon genannte ›Große Konzertouvertüre in C dur‹, mit dem fugierten Allegrosatz. Sie trägt das Schlußdatum: ›Leipzig, 17. März 1832‹ und ist in der in Wahnfried aufbewahrten Originalpartitur mit den beiden anderen, ihr vorausgegangenen Ouvertüren in einem Bande vereinigt.22 Das nächste umfassendere Werk, welches um diese Zeit in seinem Innern reiste und im gleichen Frühjahr komponiert worden ist, war eine große viersätzige Symphonie in C dur, – das erste und einzige (vollendete) Tonwerk dieser Gattung, welches Richard Wagner überhaupt geschaffen hat. Am 23. Februar eröffnete inzwischen das Gewandhaus sein 16. Abonnementskonzert mit der D moll-Ouvertüre als erster Programmnummer.23 ›Eine große Freude hatten wir durch eine neue Ouvertüre eines noch sehr jungen Komponisten, Herrn Richard Wagner‹, schrieb darüber die Allgemeine Musikalische Zeitung. ›Das Stück erhielt volle erwünschte Würdigung, und in der Tat, der junge Mann verspricht viel: die Arbeit ist nicht bloß klingend, sie hat Sinn, und ist mit Fleiß und Geschick, mit sichtbarem und glücklichem Streben nach dem Würdigsten gefertigt. Wir sahen die Partitur.‹ An freundlicher Anerkennung fehlte es auch seitens der[151] Zuhörer nicht, und der strebende junge Künstler konnte sich durch solche Vorführungen seiner Werke eines doppelten Vorteils erfreuen: sich durch ihre Anhörung für seine eigene Person immer mehr über die Mitel klar zu werden, die ihm zur Erreichung seines Zweckes nötig waren, als auch des anderen Gewinns, die Augen des Publikums seiner Vaterstadt mit Teilnahme auf sich gerichtet zu sehen.

Neben den vornehmeren Gewandhauskonzerten gab es damals in Leipzig noch eine zweite stehende Konzertinstitution, indem eine Anzahl jüngerer und älterer Musiker zu eigener Vervollkommnung und zur Heranbildung geeigneter dilettantischer Kräfte unter dem Namen ›Euterpe‹ eine wohlorganisierte Orchestergesellschaft begründet hatten, die ihre Leistungen allwöchentlich im, alten Schützen ›hause‹ vor dem Peterstor vor einem anspruchsloseren, aber immer wieder mit lebhafter Erwartung sich versammelnden und immer befriedigt auseinandergehenden Publikum produzierte. Jene, der musikalische Stolz Leipzigs, standen – in der vor-Mendelssohnschen Epoche – unter der Leitung des wackeren, gegen aufstrebende Talente sehr wohlgesinnten August Pohlenz,24 der die aufzuführenden Stücke in Vorschlag brachte, deren Bestätigung durch die Mitglieder der Vorsteherschaft erfolgte; die Leitung der letzteren25 hatte seit kurzem Wagners eigener früherer Lehrer, der Musikdirektor Chr. Gottlieb Müller (zugleich bewährtes Mitglied des Theaterorchesters) übernommen und diesen Konzertverein durch seine eifrige Betätigung auf die Höhe gebracht, daß er durch die Tüchtigkeit seiner Leistungen für eine Art ›populären Gewandhau ses‹ gelten konnte. Für die Vorführung von Wagners Erstlingswerken waren die Konzerte der ›Euterpe‹ wiederholt die Zwischen- und Probestation, über welche er sie vor dem höheren Forum des Gewandhaussaales zu Gehör brachte. ›Ich stand gut mit diesem untergeordneten Orchesterverein‹, erzählt Wagner selbst, ›welcher bereits im »alten Schützenhause« eine ziemlich fugierte Konzertouvertüre von mir freiwillig aufgeführt hatte‹. Dies war die C dur-Ouvertüre mit der ausgearbeiteten großen Fuge am Schluß. Aber noch bevor diese auch im Gewandhause zur Vorführung gelangte, müssen wir hier noch, der Zeitfolge nach, einer ›Szene und Arie‹ gedenken, womit der junge Tondichter zum ersten Male öffentlich das Gebiet der dramatischen Gesangskunst betrat. Am 22. April veranstaltete der greise Deklamator Solbrig (S. 109) im Hoftheater ein, ziemlich reichlich mit Musik ausgestattetes, ›Deklamatorium‹. Der instrumentale Teil war durch Spontinis ›Nurmahal‹-Ouvertüre und eine Ouvertüre Dorns zu ›Julius Cäsar‹ bestritten; unter den Gesangsvorträgen finden wir eine ›Szene und Arie von Richard Wagner, trefflich vorgetragen von Dem. Wüst d.j.‹ (der bereits genannten Henriette Wüst, damals Schülerin Dorns, [152] später Wagners erster Irene) hervorgehoben. Über Gegenstand und Zusammenhang dieser Arie ließ sich leider nichts näheres ermitteln; auch scheint sie nicht bis auf unsere Tage gekommen zu sein.26 Wohl aber reiht sich diesem ersten dramatischen Versuche eine wohlerhaltene, ganze Folge von Gesangskompositionen zu Goethes ›Faust‹ an. Der Titel des, im Hausarchiv von Wahnfried befindlichen Originalheftes, welches diese Arbeiten umfaßt, lautet, wie folgt: ›Sieben Kompositionen | zu Goethes »Faust« | von Richard Wagner. | Opus 5. | Leipzig 1832.‹ Die einzelnen Musikstücke sind:


1) Lied der Soldaten (›Burgen mit hohen Zinnen‹). Marschmäßig, B dur, 2/4.

2) Bauern unter der Linde (›Der Schäfer putzte sich zum Tanz‹). Rasch und lebhaft, F dur, 2/4. Für Tenorsolo, Sopransolo und Chor.

3) Branders Lied (›Es war eine Ratt' im Kellernest‹). D dur, 2/4.

4) Lied des Mephistopheles (›Es war einmal ein König‹). Mit affektiertem Pathos, G dur, 2/4.

5) Lied des Mephistopheles (›Was machst du mir vor Liebchens Tür‹). Mäßig geschwind, E moll, 2/4.

6) Gesang Gretchens (›Meine Ruh' ist hin‹). Leidenschaftlich, doch nicht zu schnell, G moll, 2/4.

7) Melodram Gretchens (›Ach neige, du Schmerzensreiche‹). Nicht schnell, doch sehr bewegt, G moll4/4.


Mit Recht dürfte der Leser hier einige nähere Angaben über diese Kompositionen erwarten, welche wir ihm jedoch für jetzt noch nicht zu bieten im stande sind. Es scheint außer Zweifel, daß die musikalischen Ausführungen zu Goethes Werk, in welchem Rosalie das Gretchen dauernd mit großem Erfolge verkörperte, zur Zeit ihrer Entstehung in Gedanken unmittelbar für eine wirkliche Benutzung auf der Bühne, zunächst bei den Leipziger, ›Faust‹-Aufführungen, bestimmt gewesen seien; worauf vielleicht insbesondere auch der Umstand einer bloß melodramatischen Behandlung des einen der beiden Gretchengesänge hinweist. Vermutlich sind sie nur deshalb nicht zur Verwendung gelangt, weil dem Autor selbst, in seiner damaligen Entwickelungsperiode, zu seiner Förderung und Belehrung zunächst mehr an der Vorführung seiner orchestralen Versuche gelegen war, und er zudem ja überhaupt nicht die Gewohnheit hatte, sich mit allem von ihm Geschaffenen an die Öffentlichkeit zu drängen. Daß er sie aber fast ein Vierteljahrhundert später doch nicht aus dem Gedächtnis verloren hatte, das beweist ein Brief an den alten Fischer aus London vom 2. März 1852. Er erbittet sich darin die Zusendung eines in Dresden unter ungenügender Obhut zurückgebliebenen Vorrates an Musikalien, [153] die sonst vielleicht Gefahr gelaufen wären ganz verloren zu gehen: darunter befinden sich (sub Nr. 14) eben diese, dem Jahre 1832 entstammenden ›sieben Kompositionen zu Goethes Faust‹, sowie die sonstigen bisher von uns erwähnten Kompositionen aus der Zeit nach Absolvierung seiner Studien bei Weinlig.27 Verfolgen wir zunächst an der Hand der gleichzeitigen Nachrichten die weiteren Schicksale seiner Instrumentalwerke.

Am 30. April 1832 hielt auch die C dur-Ouvertüre ihren Einzug in den Gewandhaussaal. Dies geschah außerhalb der regulären Abonnementskonzerte (deren alljährlich zwanzig stattfanden) gelegentlich einer sogenannten ›musikalischen Akademie‹ der italienischen Sängerin Mathilde Palazzesi, welche nach soeben erfolgter gänzlicher Auflösung der italienischen Hofoper zu Dresden mit dem Ehrentitel einer Kgl. Sächsischen Kammersängerin in ihre Heimat entlassen war, und auf der Rückkehr dahin sich zuvor noch in Leipzig, Hannover und anderen Städten in Konzerten vernehmen ließ.28 In dieser Konzertaufführung bildete die Ouvertüre, wie W. Tappert auf Grund eines altersgrauen Programmzettels, den er unter des Meisters Papieren gefunden, mitteilt, die erste Nummer der zweiten Abteilung, mit dem ausdrücklichen Zusatz ›neu‹. Aus der wohlerhaltenen Partitur gelangte dieses Tonwerk fünfundvierzig Jahre später, am 30. November 1877, in der deutschen Reichshauptstadt durch die Bilsesche Kapelle nochmals zu öffentlicher Produktion. Aber schon zuvor war es am 22. Mai 1873 bei bedeutungsvollem Anlaß, zur sechzigsten Geburtstagsfeier des Meisters, der Vergessenheit entzogen und in Bayreuth bei einer Theaterfestvorstellung im alten markgräflichen Opernhause – zur Überraschung des Gefeierten – ihm aufs neue vergegenwärtigt worden. ›In dieser Ouvertüre tut sich der tiefe Einfluß Beethovens auf das noch jugendliche Gemüt Wagners in schönster Weise kund‹, lautet ein Urteil darüber gelegentlich dieser letztgenannten Vorführung.29 ›Sie verrät bereits in ihren klaren, bestimmten Zügen das konzise, künstlerisch feste Wesen des Meisters, und in ihren plastischen Themen zeigt sich schon der selbständige, auf sich selbst hinweisende Drang, welcher später das musikalische Drama in neue Bahnen lenkte. Daß aber auch Kantor Weinligs Lehren von dem jugendlichen Künstler [154] wohl beherziget waren, beweist die kräftige, wirksam instrumentierte Fuge am Schluß der Ouvertüre‹.

Wer recht hingehört hätte, würde indes gerade aus diesem Tonwerke heraus, in Übereinstimmung mit den durch Weinlig erhaltenen Anregungen, vielleicht mehr noch den Einfluß Mozarts, als Beethovens, vernommen haben.

Fußnoten

1 A. v. Wurzbach ›Zeitgenossen‹, Wien, Hartleben 1871. Daß die obengewählte Bezeichnung dieses ›Wagner-Biographen‹ keine zu harte sei, davon kann sich der Leser leicht durch eigene Kenntnisnahme überzeugen.


2 Dem Nichtkenner der Korpsverhältnisse an deutschen Universitäten mögen die nachstehenden Erläuterungen zur Orientierung dienen. Das Korps zerfällt in einen engeren und weiteren Verband. Das eigentliche Korps wird von den Korpsburschen gebildet; um ins Korps rezipiert werden zu können, muß der junge Student erst eine Vorbereitungszeit durchmachen; während derselben heißt er ›Renonce‹. Jede Renonce, welche in das Korps rezipiert wird, ist zunächst ›aktiver Korpsbursch‹: ein solcher hat die Pflicht, an allen Unternehmungen des Korps, an allen geselligen Vereinigungen desselben teilzunehmen, auf Bestimmung loszugehen usw. Kommt der Korpsbursch in höhere Semester, so kann er ›inaktiv‹ werden, d.h. er wird von der Pflicht, am Korpsleben sich aktiv zu beteiligen, entbunden.


3 A. v. Schönfeldt, geb. 1809 zu Pösfeld (Provinz Sachsen), gest. 3. Januar 1886 als kgl. preuß. Landrat a. D. in Löbnitz bei Bitterfeld.


4 Bruder des Reichskanzlers, gestorben Mai 1893 als kgl. preuß. Regierungsrat.


5 Es ist dies der nachmalige Stadtschreiber des Kantons Zürich und Vorgänger Gottfried Kellers in diesem Amte. Er entstammte einer alten Züricher Patrizierfamilie, die als ursprüngliche Herren des Amtes Knonau ihren Geschlechtsnamen führen.


6 Hermann Müller, aus Schwarzenberg, bis Anfang der siebziger Jahre Polizeirat in Dresden.


7 A. v. Seebach, aus Hildburghausen, gest. 1861 als herzogl. sächs. Kammerherr auf Groß-Fahnern bei Gotha.


8 Einen ›dicken Graf Solms‹ nennt späterhin Ferd. Heine unter den ›Italiener-Narren‹ der sächsischen Aristokratie, die es sonst nur mit Donizetti hielten, aber durch die Schönheiten des ›Rienzi‹ hingerissen und bekehrt wurden.


9 ›Unser Bruder Nake‹ findet sich im 1. Halbjahr 1831 wiederholt in den Paukerei-Akten: 3. Jan. mit dem Thüringer Gröber (der sich beim Parieren einer Quart selbst in den Schenkel sticht); 19. Febr. (in v. Bismarck's Stube) mit dem Lusaten Stölzer; 11. und 28. Juni mit dem Lusaten Degelow und dem Neupreußen Gebhard.


10 Auch wurde das Korps-Stiftungsfest am 4. September mit den Renoncen durch ein gemeinschaftliches Mittagsmahl in Klassigs Kaffeehaus gefeiert; an diesem, wie an dem, am 4. Dezember stattfindenden ›Allgemeinen landsmannschaftlichen Kommers‹ zur Feier der Grundsteinlegung für das neue Universitätsgebäude hat Wagner offenbar nicht mehr teilgenommen.


11 Band III des vorliegenden Werkes, S. 258.


12 Bayreuther Blätter 1892, S. 115.


13 In dem bereits zitierten Briefentwurf an den Leipziger Regisseur und Bassisten Franz Hauser (1834). Original im Besitz des Eisenacher ›Wagner-Museums‹.


14 1877 in einer Unterredung mit Edward Dannreuther, deren Inhalt dieser in seinem vortrefflichen Artikel in Groves Dictionary of Music and Musicians, Vol. VI, S. 347b wörtlich wiedergibt.


15 In dem Verzeichnis, Neuer Musikalien im Verlag v. Breitkopf und Härtel in Leipzig. Ostermesse 1832 findet sich unter der Rubrik ›Für Pianoforte allein‹ angeführt: ›Wagner‹, R. ›Sonate. 20 Gr.‹ und in der Abteilung ›Für Pianoforte zu vier Händen‹: ›Wagner, R, Polonaise Op. 2. 8 Gr.‹ (Vgl. Literarisches Notizenblatt Nr. 20 vom 9. Juni 1832, Beilage zur Dresdener Abendzeitung Nr. 138). Die Titelblätter der Originalausgaben sind in Jos. Kürschners ›Wagner-Jahrbuch‹ (1866) in entsprechender Verkleinerung nachgebildet. Die Sonate trägt darin die Zueignung: ›Herrn Theodor Weinlig, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig, hochachtungsvoll gewidmet von Richard Wagner‹.


16 Dasselbe ist wiederholt zum Abdruck gelangt, u. a. in Jos. Kürschners ›Wagner-Jahrbuch‹ (1886) S. 476.


17 Veröffentlicht ist derselbe in getreuem Faksimiledruck in der Zeitschrift ›Die Musik‹, Jahrgang 1902/3, I. Quartal, mit einem begleitenden Aufsatz von E. Istel.


18 Heinrich Kurz, Geschichte der deutschen Nationalliteratur, IV, S. 619/20.


19 Nicht zu verwechseln mit der zu etwas größerer Berühmtheit gelangten Sophie Löwe, nachm. Fürstin Lichtenstein (gest. 1866 zu Pest).


20 ›Ergebnisse aus Erlebnissen‹ S. 150.


21 ›Richard Wagners Lebensbericht‹ (deutsche Rückübertragung von The work and mission of my life) S. 17/18.


22 Sie weist folgende Besetzung auf: Streichinstrumente (Viola I. II), 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Trompeten, 4 Hörner, 3 Posaunen, 2 Pauken.


23 Das Originalprogramm dieses Konzertes wird von Kürschner im ›Wagner-Jahrbuch‹ (1886) S. 371 in verkleinerter Nachbildung genau reproduziert. Auch der oben mitgeteilte Passus des Konzertberichtes aus Nr. 18 der ›Allg. Musikal. Zeitung‹ (Redakteur G. W. Fink, Verlag v. Breitkopf u. Härtel) vom 2. Mai 1832 findet sich ebendaselbst (S. 369) mit abgedruckt, beides aber, da weder Programm noch Bericht die Tonart der Ouvertüre angeben, irrtümlich – anstatt auf die D-moll-Ouvertüre – vielmehr auf die Konzertouvertüre in C dur bezogen!


24 Christian August Pohlenz, geboren 1790 zu Saalgast in der Niederlausitz, gestorben 1843 zu Leipzig.


25 Begründet durch Wagners früheren Violinlehrer R. Sipp (S. 116).


26 Der vollständige Programmzettel dieses Konzertes ist als ›erster Theaterzettel, der Wagners Namen enthält‹ in H. S. Chamberlains großem illustriertem Wagner-Werk S. 36 im Faksimile zur Abbildung gebracht.


27 Charakteristisch indessen ist, daß ihm diese damals nicht geschickt werden, und er die gleiche Bitte 11/2 Jahr später (7. Nov. 1856) noch einmal wiederholen muß! Vgl. die darauf bezüglichen Buchstellen in den ›Briefen an Uhlig, Fischer, Heine‹ S. 323 u. 337.


28 ›Warum findet man nur in italienischen Kehlen dieses leichte Ansprechen der Stimme, diese Tonfülle ohne Anstrengung, diese Reinheit des Klanges, bei der man an den klaren durchsichtigen Himmel Italiens denkt, dieses fast unbegreifliche Spielen der Stimmmuskeln, welches in der rauschenden Jagd der Töne jeden einzelnen klar und gesondert ertönen läßt? sind die deutschen Kehlen aus spröderem Stoff gebildet, oder teilt ihnen das Klima die Rauheit seiner Nebel mit?‹ – zu solchen und ähnlichen enthusiastischen Reflexionen riß die vielbewunderte Virtuosin ihre Hörer und Kritiker hin.


29 Musikalisches Wochenblatt, Jahrgang 1873, S. 329.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 134-155.
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