I.

Zur Familiengeschichte.

[6] Der Einnehmer Gottlob Friedrich Wagner und seine Vorfahren. – ›Urahnherr war der Schönsten hold‹. – Generalakzise und Leipziger Zustände nach dem siebenjährigen Kriege. – Freundesverkehr und Nachkommenschaft Gottlob Friedrich Wagners.


Mit fremden Federn kann man sich schmücken, gerade so wie mit den deliziösen Namen, unter denen uns jetzt unsere neuen jüdischen Mitbürger ebenso überraschend als entzückend entgegentreten, während wir armen, alten Bürger- und Bauerngeschlechter uns mit den recht kümmerlichen ›Schmidt‹, ›Müller‹, ›Weber‹, ›Wagner‹ für alle Zukunft begnügen müssen.

Richard Wagner.


In die geregelte Bahn des bürgerlichen Daseins tritt das Genie wie ein exzentrischer Komet, der mit weithin strahlendem Ruhmesschweife die wohlübersehbare Ordnung philisterhafter Planeten durchkreuzt. Unberechenbar dünkt das Woher und Wohin seines eigenen Laufes. Mit Behagen als die höchste Blüte der jeweiligen menschlichen Gesellschaft betrachtet, ist doch sein Verhältnis zu dieser so fragwürdig, die Bande, die es mit der Mit- und Vorwelt verknüpfen, so verborgen, daß die mit seinen Gaben Behafteten vielmehr eine eigene Spezies für sich zu bilden scheinen, und es für den Erzähler seiner Lebensschicksale keine lohnende Aufgabe scheint, seinen Stammbaum zu entwerfen. Hat es denn leibliche Vorfahren, Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, wie wir? Oder gibt es eine engere Verwandtschaft zwischen den einsam ragenden Häuptern, die sich über die Jahrhunderte hinweg grüßen, als die Gemeinschaft warmen Lebensblutes, die ein jedes von ihnen an Geschlecht und Sippe bindet? Und doch beunruhigt man immer wieder in ihrer Abgeschiedenheit die müden Vorfahren, nach denen man im Leben nicht gefragt, sobald aus ihrer Asche der Phönix festen Auges den Flug zur Sonne richtet. Verwitterte Familiendokumente, die ihre künftige Bestimmung nicht geahnt, und in sorgloser Hut fast verloren wären, sie steigen nun im Wert, und vergleichend spürt das Auge an alten Familienbildern. Der Staub, der so lange auf alten Kirchenregistern lag, wird aus seiner trägen Ruhe gescheucht, und aus ihren vergilbten Spalten tritt die Reihe seiner[7] Ahnen in neubelebtem Zuge hervor und blickt staunend in ein fremdes Jahrhundert; ja selbst die Paten an seiner Wiege reiben sich den Schlaf der Vergessenheit aus den Augen! Die philosophische Kritik ihres Grundes oder Ungrundes bei Seite, folgen wir an dieser Stelle der allgemeinen Biographensitte und sind dem Schicksal dankbar, welches uns trotz aller geschichtlichen Umwälzungen und Zerstörungen einige wertvolle Anknüpfungen dafür an die Hand gibt. Ist es doch unmöglich, die Beziehungen Richard Wagners zu deutscher Art und deutschem Wesen, wie er es selbst uns gekündet, zu überblicken und dabei zu verkennen, wie kraftvoll fest die Wurzeln seiner Natur mit dem innersten Werden seines Volkes während des letzten halben Jahrtausends verwachsen sind. Wer, wie Wagner in den ›Meistersingern‹, deutscher Volksnatur und deutschem Bürgertum für alle Zeiten seine Deutung gegeben, bekundete damit zugleich seine eigene innige Zugehörigkeit zu beiden, die, wie sie bei ihrer ersten großen Erhebung einen Luther, Dürer und Hans Sachs aus ihrer Mitte erzeugten, bei ihrer Wiedererneuerung nach tiefem Verfall, aus ihrem innersten Kern in einer Folge von Geburten die außerordentliche Erscheinung vorbereiteten. Hier tritt uns denn zunächst ein schlichtes einfaches Bild deutschen Bürgerlebens aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts entgegen.

An einem Septembertage des Jahres 1769 fand in der kleinen Pfarrkirche des freundlichen Schönefeld bei Leipzig eine ländliche Vermählungsfeier statt. Der fröhliche Hochzeiter hieß Gottlob Friedrich Wagner und war Steuereinnehmer an der kurfürstlichen Generalakzise zu Leipzig. Ihm angetraut wurde als sittsame Ehegattin Johanna Sophie Eichel, einzige Tochter Gottlob Friedrich Eichels ›Schulhalters des löblichen Almosenamtes eines hochedeln Rats‹. Ein unscheinbarer Vorgang, durch nichts die Aufmerksamkeit der Mitwelt oder auch nur, über den nächsten Freundeskreis hinaus, der Stadtgenossen erregend. Aber der Genius des aus tiefer Verkommnis sich wiedergebärenden deutschen Geistes verlieh diesem Bunde seinen Segen und machte ihn bedeutungsvoll für die fernsten Tage. Der anmutige Ort der ländlichen Hochzeitsfeier, kaum drei Viertelstunden Weges von der Stadt entfernt und ein beliebter Sommer-Erholungsaufenthalt der Familien Leipzigs, prangte bei vorgerückter Jahreszeit im spätsommerlichen Schmucke der Wiesen und Fluren. Vierundvierzig Jahre darnach war er einer der Hauptpunkte des gewaltigen Befreiungskampfes der Völkerschlacht und als solcher die Stätte grausamer Zerstörungen; um dieselbe Zeit erhielt – als der Enkel des dort verbundenen Paares – Richard Wagner das Leben.

Es ist erst den neuesten Nachforschungen geglückt, das über der Vorfahrenreihe und den früheren Lebensschicksalen Gottlob Friedrich Wagners schwebende Dunkel zu erhellen. Die Familienerinnerungen des Wagnerschen Hauses reichten nicht über den Großvater zurück, Wagners eigene Kenntnis seiner Vorfahren hatte hier ihre Grenze, und der in die ferne Zukunft hinausstrebende [8] und sie im voraus gestaltende Genius hatte jederzeit Wichtigeres zu tun, als seine persönliche Familiengeschichte zu erkunden. ›Vergesset eure Ahnen‹, rief er 1848 mahnend einer in eitlem Standesstolze sich blähenden Aristokratie zu ›so versprechen wir auch großmütig zu sein und die Erinnerung unserer Ahnen aus unserem Gedächtnis zu streichen. Bedenket, daß sonst auch wir unserer Ahnen uns erinnern müssen, deren Taten, so gute auch von ihnen vollbracht wurden, von uns zwar nicht in Familien-Archiven aufgezeichnet, deren Leiden, Hörigkeit, Druck und Knechtschaft aller Art aber in dem großen unleugbaren Archiv der Geschichte des letzten Jahrtausends eingeschrieben stehen‹. So spricht ein echtester Sproß des deutschen Volkes, der sich über alle künstlichen Standesunterscheidungen der Geschichte hinweg dem ältesten freien Heldentum germanischer Vorzeit geistes- und blutsverwandt fühlt, zugleich aber für seine Person ganz von der Überzeugung erfüllt ist, seinen Adel keinem prunkenden Wappenschilde ferner Geschlechtsvorgänger, sondern einzig dem ewig quellenden Jungbrunnen, dem zeugungskräftigen, heldengebärenden Schoße des stets sich erneuenden Volkslebens selbst zu verdanken. Und doch, – wenn kraftvoll echtes Menschentum in seinem überzeugungstreuen Ringen und Streben den Inbegriff wahren Heldentums ausmacht, so haben wir nicht darauf zu verzichten, es auch bei den, allendlich wohl meist dem Landbauernstande entstammenden, Vorfahren unserer ›ahnenlosen‹ deutschen Geistesheroen anzutreffen! Heldentum erstarkt in Entsagung und Mühe, Arbeit und Kampf, möge dieser Kampf auch anfänglich nur erst noch ein Ringen um die nährende Frucht des heimischen Bodens, ein Ausroden, Urbarmachen, Pflügen und Säen gewesen sein. Um die Zeit entstehender städtisch-bürgerlicher Gemeinschaften aber, mit ihrer Einführung von Geschlechts- und Familiennamen, haben wir in dem Namen ›Wagner‹ selbst einen Anhalt für die Vorstellung des – urarischen und urgermanischen – Gewerbes seiner ursprünglichen Träger.1 Und als dann der deutsche Reformationsheld, selbst ein Bergmanns-und Bauernsohn, von dem christlichen [9] Adel deutscher Nation, von Ständen und Ratsherren aller Städte zu ›des christlichen Standes Besserung‹ vor allem Lehre und Unterweisung für das arme verrohende Volk, Errichtung von Kirchen und Schulen in der Stadt und auf dem Lande fordert: da eröffnet sich deutschen Männern ein neues weites Feld für Kampf und Ringen. Unscheinbar, arm und dürftig verläuft dieser Kampf in seiner äußeren Erscheinung, und ist doch ein Ringen mit Drachenbrut, ein ausdauernder unverdrossener Kampf mit den auszurottenden Nachtgespenstern der Unwissenheit und des Aberglaubens in ihren finsteren Höhlen.2 Während in den katholischen Staaten Deutschlands der Jesuit mit kluger Berechnung der Jugenderziehung sich bemächtigt, wird in den protestantischen Landen der ›Schulmeister‹ in Dorf und Stadt der eigentliche Führer und Erzieher des Volkes zu christlich deutscher Gesinnung. Eine merkwürdige, typische Erscheinung, im 17. Jahrhundert bereits überallhin, bis in die kleinsten Dörfer verbreitet, meist Kantor, Organist, ja Kirchendiener in einer Person, und dabei der Wohltäter und Bildner der ganzen Ortschaft, der Vermittler zwischen der ländlichen Bevölkerung und der Bildung seiner Zeit, ja die eigentliche Stütze des Deutschtums gegenüber dem herrschenden Romanismus der Fürstenhöfe und der höheren Stände!

An diesem volkstümlichen Erziehungswerk haben die Voreltern Gottlob Friedrich Wagners, und mithin unseres Meisters, durch eine Reihe von Generationen sich beteiligt; wir treffen sie von Vater auf Sohn und Enkel als schlichte, glaubenskräftige Volksschullehrer an wechselnden kleinen sächsischen Orten, zugleich auch meist Kantoren und Organisten der dortigen Pfarrkirchen. Dem gleichen Stande, der in der allgemeinen nationalen Selbstentfremdung, inmitten der von ihm unterwiesenen Landbevölkerung fast einzig noch ein unverfälschtes deutsches Wesen bewahrte, ja speziell in Thüringen und Sachsen fast zweihundert Jahre hindurch der eigentliche Pfleger des Musiklebens blieb, entstammte ja auch, ihm selber zeitlebens angehörig, der große Sebastian Bach. ›Da seht diesen Meister, als elenden Kantor und Organisten zwischen kleinen thüringischen Orten, die man kaum dem Namen nach kennt, mit nahrungslosen Anstellungen sich hinschleppend‹, sagt Richard Wagner von ihm; aber wenn er in seinem bedeutsamen älteren Aufsatz ›über deutsches Musikwesen‹ die elende Zersplitterung seines Vaterlandes in eine Anzahl von ›Kurfürstentümern, Herzogtümern und freien Reichsstädten‹[10] beklagt, so weist er doch auch nach, wie eben diese politische Ohnmacht der Innerlichkeit des deutschen Wesens förderlich gewesen sei und es von der Begierde ferngehalten habe, mit seinen Produktionen zu glänzen. ›Gehet hin und belauscht ihn (den Deutschen) eines Winterabends im kleinen Stübchen; dort sitzen der Vater und seine drei Söhne um einen runden Tisch; die einen spielen Violine, der dritte die Bratsche, der vierte das Violoncell, und was ihr so tief und innig vortragen hört, ist ein Quartett, das jener kleine Mann komponierte, der den Takt dazu schlägt. Dieser aber ist der Schulmeister aus dem benachbarten Dorfe, und das von ihm komponierte Quartett ist kunstvoll, schön und tiefgefühlt‹

Der uns erreichbare älteste Stammvater des Wagnerschen Geschlechtes ist der im Jahre 1643 noch in den verheerenden Wirren der Kriegszeit geborene Samuel Wagner, verordneter Schulmeister zu Thammenhain bei Wurzen im Leipziger Kreise, dicht an der jetzigen preußischen Grenze, damals noch inmitten des sächsischen Landes belegen. Wo seine Wiege gestanden, wissen wir nicht mit Gewißheit zu sagen; um so weniger als wir bereits beim Rücktritt in die nächstvorausgehende Generation in jenes unruhvolle, an Zerstörung und mancherlei Ortswechsel reiche Zeitalter des dreißigjährigen Krieges geraten. Sehr wahrscheinlich ist auch sein Vater gleich ihm ein einfacher Volksschullehrer gewesen, aber kein Archiv, keine Registratur nennt seinen Namen und seine Herkunft. Auf den Stand des Vaters scheint schon der biblische Name des Sohnes hinzudeuten, den nicht leicht ein Bürger oder Bauer seinem Sohne gegeben haben würde; in der Wagnerschen Familie bleibt er von hier ab durch mehrere Zeugungsfolgen hindurch erblich bevorzugt. Wiederholt kommt es vor, daß in ihr drei Samuele zugleich, Vater, Sohn und Enkel, oder Oheim und Neffe am Leben sind; und starb der eine, so ward ihm ein anderer nachgeboren. Diese Namensbevorzugung erklärt sich leicht aus dem jener Zeit so vorzüglich eigenen innigen Verkehr mit der Bibel, des neuen und – alten Testamentes, dessen nicht immer durchaus sympathische Patriarchen-Gestalten zu idealisieren das deutsche Gemüt aus seinen eigenen Tiefen unablässig tätig gewesen ist.3 Wollen wir demnach die Vorstellung der Vorfahren Samuel Wagners in der Kriegszeit durch ein typisches Bild uns dichterisch beleben lassen, so möge es durch die aus gleicher Gemütsfülle geschöpfte, sinnvolle dramatische Szene Heinrichs von Stein ›Aus dem großen [11] Kriege‹ (in dessen Buche ›Helden und Welt‹) geschehen, wo ja auch ein Schulmeister und Kantor solch eines kleinen thüringischen und sächsischen Ortes, mitten in allen Greueln der Verwüstung mit seinem jungen Weibe in das ihm zugewiesene Kantorhaus eingeführt wird: unter dem wenigen Mobiliar des halbzerstörten Hauses trifft er da als innig herrlichen Besitz das Klavizymbalum seines Amtsvorgängers unzertrümmert an. Die plündernde Rotte hat es in abergläubischem Schrecken unangetastet gelassen, – dem neuen Bewohner des Hauses gereichen nun die ersten feierlich angeschlagenen Akkorde zu himmlischem Einzugssegen! Nichts steht im Wege, uns vorzustellen, der dort geschilderte schlichte deutsche Mann sei (anstatt Heinrich Bach) der uns unbekannte Urahn unseres Meisters gewesen. Der Nornenfaden erster sicherer geschichtlicher Kenntnis von Richard Wagners leiblichen Vorfahren knüpft aber erst bei dem genannten Samuel Wagner an. In seinem zwanzigsten Lebensjahr finden wir ihn zu Thammenhain4 in sein Amt tretend, an seiner Seite die ihm eben angetraute junge Hausfrau Barbara Wagner. Hier im efeu-umrankten, von Bäumen freundlich umschatteten Kantorhäuschen nimmt die uns nachweislich bekannte Familiengeschichte des Wagnerschen Geschlechtes ihren Beginn. Sein ältester Sohn ist Emanuel Wagner, geb. im August 1664, der Ahnherr der ihm folgenden Reihe; aber schon der nächstfolgende Sohn erhält den Namen des Vaters und wird als Schulmeister und Organist dessen Nachfolger im Amt, als dieser nach mehr als vierzigjähriger Amtsführung im Alter von 63 Jahren aus dem Leben abgerufen wird. Auch der erstgeborene Sohn Emanuel bleibt dem Beruf seines Vaters treu. Wie dieser, tritt auch er in ganz jungen Jahren in dem benachbarten Colmen (Kulm) bei Thalwitz ins Amt, und vermählt sich alsdann 1688 in Kühren mit der achtzehnjährigen Anna Benewitz, Tochter des Schulmeisters und Begleitsmannes (Einnehmers) Ernst Benewitz. Welche höhere Anlage etwa in ihm vorhanden war, tritt in seinem engen Lebens- und Berufskreis für uns nicht kenntlich zutage. Um 1702 siedelt er aus Colmen mit einem Töchterlein Anna Dorothea in den Heimatsort seiner Frau, zu gleicher bescheidener Amtstätigkeit nach Kühren über; in Kühren kommt ein Jahr später, am 14. Januar 1703 sein erster männlicher Nachkomme, Samuel Wagner, zur Welt. Es scheint, daß Emanuel die mannigfachen Prüfungen des Lebens unerspart geblieben seien; mehrere Kinder müssen ihm früh gestorben sein; die treue Ehegenossin geht ihm im rüstigen Alter von achtundvierzig Jahren in die Ewigkeit voraus. Er erlebt noch die Verheiratung [12] seiner ältesten Tochter, die in Kühren mit einem Schneidermeister Joh. Müller aus dem Altenburgischen getraut wird, dann scheidet auch er als ein Zweiundsechziger aus dem Leben.

Die politischen Verhältnisse im damaligen Kurfürstentum Sachsen waren keineswegs dazu angetan, eine friedliche Wohlfahrt der Bevölkerung zum Gedeihen zu bringen. Der Ehrgeiz Friedrich Augusts drängte diesen prunkliebenden Fürsten zu dem verhängnisvollen Schritt, durch Verzichtleistung auf die protestantischen Traditionen seiner Vorfahren und auf die Liebe und das Vertrauen seines treuen Volkes die machtlose polnische Königskrone zu erkaufen. Die zu ihrer Erlangung nötige Bestechung der polnischen Edelleute, die Erhaltung einer königlichen Garde, der verhängnisvolle Krieg mit dem Schwedenkönig und die üppige Prachtliebe des Herrschers rissen ihn zu Ausgaben hin, die die Kräfte des Landes weit überstiegen. Schwer hatte das sächsische Volk für den unruhigen Ehrgeiz seines Fürsten zu büßen. Das Land wurde durch die feindliche Kriegsmacht schrecklich mitgenommen; die Einquartierungen, Kriegssteuern, Kontributionen nahmen kein Ende. Die Friedensbedingungen, welche Karl XII. den sächsischen Unterhändlern stellte, waren für den übermütigen, autokratischen König sehr demütigend: für sich und seine Nachkommen sollte er auf alle Zeiten dem polnischen Throne entsagen. Aber die sächsischen Räte gingen kraft ihrer unbeschränkten Vollmacht auf alles ein. Bis zum Eintreffen der Bestätigung der Altranstädter Friedensartikel von Warschau her blieb das schwedische Heer ein ganzes Jahr hindurch in Sachsen und mußte vom Lande unterhalten werden. Man berechnete die Kosten der schwedischen Okkupation auf 22 Millionen und darüber. Hatten schon bisher die Ausgaben für die Hofhaltung, für den Krieg, für die Erlangung und Behauptung der polnischen Schattenkrone die Kräfte des Landes erschöpft, so erreichte das Elend jetzt seinen höchsten Grad Hunger, Mißhandlung, äußerste Armut trieben die Menschen der Verzweiflung in die Arme, mancher legte Hand an sich selbst. Und während die Stände mit Seufzen die hohen Steuern und Abgaben bewilligten, veranstaltete der Kurfürst ein prachtvolles Hoffest nach dem andern, verschwendete unermeßliche Summen für Lustschlösser, übte fürstliche Freigebigkeit gegen seine Maitressen und natürlichen Kinder und wetteiferte mit Paris und dem Wiener Kaiserhof in glänzender Prachtentfaltung.

Nicht lange nach dem Ableben des Vaters treffen wir den jüngeren Samuel Wagner bereits in Müglenz, zwei Stunden nordöstlich von Wurzen, als Adjunkt des dortigen Schulmeisters, nachdem er zuvor am Johannistag 1727 öffentlich in der Kirche ›zur Befriedigung des Herrn Pfarrers und auch sämtlicher Kirchfahrt‹ Probe gesungen, – wir befinden uns mitten im ersten Akte der ›Meistersinger von Nürnberg‹, wenn auch die würdigen Meister selber fehlen, Gemeinde und Pfarrer die Merker und Preisrichter sind! Sein Anstellungsdekret in dieser Funktion, ausgefertigt durch den Administrator, [13] Erb-, Lehn- und Gerichtsherrn Rudolf von Bünau5 ist im Original bis auf unsere Tage gekommen. Er wird darin urkundlich verpflichtet, so lange der Emeritus am Leben, als dessen Substitut, nach dessen Absterben aber gänzlich und völlig ›den Gottesdienst in den Kirchen mit Singen, Lesen, Beten und Orgelschlagen mit allem Fleiß treulich zu verrichten, die Schuljugend zu aller Gottesfurcht in der unverfälschten Religion und sonderlich in dem Catechismo Lutheri und andern christlichen Lehren und Tugenden, wie auch im Singen, Lesen, Schreiben und Rechnen unverdrossen zu unterrichten, bei vorkommender Kontagion, welche doch Gott in allen Gnaden abwenden wolle, auszuhalten und nicht wegzuweichen‹ usw. usw. Die Erwähnung von Kontagionen ist nicht als müßige Redensart gemeint; sie vergegenwärtigt uns nur allzu augenscheinlich das verheerende Auftreten der Pest im sächsischen Lande und anderer schwerer Epidemieen während der Kriegsjahre, die Warnungssäulen, welche bei solchen Anlässen vor die infizierten Ortschaften aufgepflanzt wurden, und das Elend der Bevölkerung inmitten aller über sie verhängten Prüfungen. Ein zweites, noch stattlicheres Dekret vom 14. August desselben Jahres bestätigt alsdann noch bei Lebzeiten des durch Alter und Krankheit geschwächten ›Emeritus‹ die definitive Ernennung Samuel Wagners zum Müglenzer Schulmeister unter Zusicherung unverkürzter jährlicher Besoldung ›und was sonsten seine Antecessores genossen, samt denen gewöhnlichen Accidentien‹. Aus dem benachbarten Dahlen führt er sich, kaum ein halbes Jahr später, am 10. Februar 1728, Jungfrau Anna Sophia, hinterlassene Tochter Meister Christoph Rößigs, gewesenen Pachtmüllers der Dahlischen Graumühle, in sein Müglenzer Schulhaus als Gattin heim. Seine Lebensverhältnisse scheinen verhältnismäßig nicht eben ungünstig gewesen zu sein. Trotzdem erreichte er kein hohes Alter; er starb vielmehr infolge von Erkrankung bereits am 22. November 1750, also noch lange vor dem erneuten Ausbruch der Kriegsunruhen, nach zweiundzwanzigjähriger gesegneter Ehe, mit Hinterlassung der Witwe und fünf überlebender Kinder, darunter dreier Töchter: Johanna Sophie, Christine Eleonore und Susanna Caroline. Das vierte in der Reihe dieser Kinder ist unser Gottlob Friedrich Wagner, geb. zu Müglenz am 18. Februar 1736. Sein jüngerer Bruder, Samuel August, war bei des Vaters Tode erst fünfjährig, zwei andere Geschwister im frühesten Kindesalter dahingegangen. Gottlob Friedrich zählte beim Tode des Vaters vierzehn Lebensjahre. Er hatte seine Knabenzeit in der freien Naturumgebung von Müglenz in manchen Streifereien an den Ufern der Losse, in Bergen und Tälern des hier auslaufenden Hohberger Gebirgszuges verbracht und einen guten Teil seiner Erziehung und [14] Bildung noch von dem Vater selbst erhalten, dann aber wohl – vielleicht noch bei dessen Lebzeiten – auf einer Leipziger Gelehrtenschule. Auf einer solchen, also etwa der 1728 begründeten Thomana, muß er seine Schulbildung jedenfalls beschlossen haben. Er war, ob durch eigene Neigung oder auf den Wunsch der Eltern, für den geistlichen Stand bestimmt, und wir finden ihn am 16. März 1759, in dem Jahre der Schlacht bei Kunersdorf, in Schillers Geburtsjahr und dem Todesjahr des Frühlings-Sängers Ewald von Kleist, an der Universität Leipzig als ›Studenten der Theologie‹ inscribiert, bevor wir ihm – nach weiteren zehn Jahren – als Steuerbeamtem und glücklichem Hochzeiter zu Schönefeld wieder begegnen.

Was in der Zwischenzeit mit dem Studiosus der Theologie vorgegangen, was ihn dazu vermocht, das durch mehrere Jahre fortgesetzte Studium später dennoch aufzugeben: ob, wie dies so häufig noch in letzter Stunde sich zuträgt, in seinem Innern erwachsene Zweifel und Bedenken gegen den geistlichen Beruf, ob ein hemmender Mangel an äußeren Subsistenzmitteln, oder noch andere Gründe, darüber fehlt es uns an sicher beglaubigten Urkunden. Die Daten über sein Leben sind lückenhaft, sie führen uns immer nur sprungweise, mit Übergehung ganzer Lebensabschnitte, einzelne Bilder aus seiner Laufbahn vor, und es ist nicht leicht, sich das Dazwischenliegende mit einiger Gewißheit zu ergänzen. Im Jahre 1765, um die Zeit, als der junge Goethe, sechzehnjährig, aus der altehrwürdigen Reichsstadt in die galante ›Modestadt‹ an der Pleiße übersiedelte und in der ›Feuerkugel‹ am Neumarkt Wohnung nahm, finden wir Gottlob Friedrich noch einmal ausdrücklich als Studenten der Theologie erwähnt. Gewiß waren die Mittel, mit denen er sich durch's Leben zu schlagen hatte, nicht eben reichlich bemessen und weniger in verzinslichem Vermögen bestehend, als liegende Güter in Kopf und Herz. Vielleicht dürfen wir demnach annehmen, daß er noch vor dem Beschluß seiner Studien und um dieses gewünschte Ziel zu erreichen, dem traditionellen Beruf seiner Vorfahren und dem Beispiel manches unbemittelten Theologen folgend, vorübergehend und aushilfsweise zur Lehrtätigkeit gegriffen und etwa gar seinem nachmaligen Schwiegervater, dem Schulhalter Eichel, in seinen Funktionen an einer Leipziger Volksschule beigestanden habe? Denn zu diesem und insbesondere seiner schönen Tochter Sophie treffen wir ihn bereits während seiner Studienjahre in nahen Beziehungen; und während alle übrigen Nachrichten über die begleitenden Umstände schweigen, die uns seinen Übergang aus der theologischen Laufbahn in eine praktisch-bürgerliche zu erklären vermöchten, ist uns seltsamer Weise eine merkwürdige Tatsache ohne weiteren Zusammenhang glaubwürdig bezeugt. Sie bekundet bei dem Ahnherrn unseres Meisters mitten in aller Enge des bürgerlichen Lebens ein heißes Temperament, – ihre Verschweigung oder prüde Verhüllung würde dem Biographen des freiesten deutschen Mannes übel anstehen! ›Urahnherr war der Schönsten hold‹ – der [15] Liebreiz der neunzehnjährigen Schulhalterstochter und ihre Zuneigung zu dem lebensfrohen und feurigen Studiosus Wagner muß mächtig gewesen sein: wir finden nämlich, daß Johanna Sophia dem Erwählten ihres Herzens, noch bevor die ›Eichelin‹ in den Augen der Welt zur ›Wagnerin‹ geworden, ein Pfand ihrer Liebe geschenkt, einen Sohn gleichen Namens mit dem Vater und dem mütterlichen Großvater: Gottlob Friedrich. Er wurde am 23. März 1765 in der Thomaskirche getauft,6 bewährte sich aber augenscheinlich noch nicht als das rechte ›Wälsungenblut‹. Denn da über ihn keine fernere Kunde auf uns gekommen ist, so müssen wir annehmen, daß es ihm nicht vergönnt war, seiner jungen Mutter die um ihn bestandenen Schmerzen und Beschämungen durch ein längeres Leben und eine gute Entwicklung zu vergelten. Sei es nun aber, daß eine ähnliche bürgerliche Unregelmäßigkeit, selbst in dem galanten Leipzig des 18. Jahrhunderts – mit seinen bekanntlich recht freien Sitten und zarter Schonung der zierlichen Sünden einer eleganten, vornehmen Luxuswelt! – gerade einem jungen Theologen mit der Anwartschaft auf eine Anstellung in Kirchen- oder Schulämtern besonders rigoristisch vermerkt worden sei, oder auch daß Gottlob Friedrich aus inneren Gründen der Theologie den Abschied gegeben: genug, um diese Zeit muß die Entscheidung in ihm erfolgt und er, mit Aufgabe des bisher eingehaltenen Kurses seiner Lebensbahn, in das Fahrwasser eines anderen Berufszweiges eingelenkt sein. Dabei trieb es ihn sicherlich, sich nunmehr baldmöglichst die Mittel zu bürgerlicher Selbständigkeit zu gewinnen und das aus Liebe geknüpfte Band für alle Zeit und Ewigkeit in Treue fest und dauernd zu schließen.

Dies die einzigen bisher bekannten Antecedentien der Vermählungsfeier des Jahres 1769 im anmutigen Schönefeld. Wer einen Blick auf das ganze nachmalige Leben Gottlob Friedrich Wagners und seiner getreuen Liebsten wirst, wird mit uns eines Sinnes sein, wenn wir den nach mancherlei Stürmen glücklich heimgeführten Schatz des nunmehrigen Steuereinnehmers Wagner, den er höher erachtet hatte als alle Theologie und Schulmeisterei, trotz ihrer jugendlichen Übereilung, – wie oben geschehen, als seine ›sittsame‹ Ehefrau bezeichneten. ›Liebestreue-Ehe‹, sie bezeichnet uns der ferne Abkömmling dieses Paares als die ›Bildnerin edler Rassen‹, und erkennt als das eigentlich sündhafte Übel unserer fortschreitenden Zivilisation vielmehr ›den Mißbrauch der Ehe zu außer ihr liegenden Zwecken, die auf Eigentum und[16] Besitz berechneten Konventionsheiraten‹: keine mit noch so hohen Orden geschmückte Brust aber könne ›das bleiche Herz verdecken, dessen matter Schlag seine Herkunft aus einem, wenn auch vollkommen stammesgemäßen, doch ohne Liebe geschlossenen Ehebunde verklagt‹

Gottlob Friedrich Wagner hatte die von ihm erstrebte bescheidene Existenz für sich und die Seinen im Verwaltungsbereich der Kurfürstlich Sächsischen Generalakzise gefunden. Während in Sachsen bereits im 16. Jahrhundert, wie in anderen deutschen Landen, Territorialsteuern, fast gleichzeitig Konsumtionsabgaben aufgekommen waren, hatten alle bezüglichen Finanzeinrichtungen mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts durch Einführung der sogenannten General-Konsumtionsakzise eine durchgreifende Veränderung erfahren. Durch sie wurde die Steuerlast gleichmäßiger verteilt und eine bei weitem größere Anzahl Kontribuenten herbeigezogen: man erhob sie beim Eingang in die Städte von allen rohen und verarbeiteten Produkten, Waren und Nahrungsmitteln. In Leipzig, wo sie der Rat mit ihrem Aufkommen in Pacht genommen, gab es damals vier solcher Eingänge: das Rannstädtische, Hallesche, Grimmaische und Peterstor. An dem erstgenannten, dem Rannstädter Tor, auf welches der Brühl mit dem nachmaligen Geburtshause Richard Wagners, dem ›weißen und roten Löwen‹ mündet, hatte Gottlob Friedrich Wagner seinen Amtssitz, legte allem, was über den Rannstädter Steinweg vom äußeren alten ›Wassertor‹ her zu Fuß oder zu Wagen in die Stadt hinein passieren wollte, das unerläßliche quis? quid? unde? cur? vor, besichtigte die Pässe der Reisenden und erhob nach Pflicht das – erst im Jahre 1824 gänzlich abgeschaffte – Tor-oder Einlaßgeld. Ausdrücklich wird uns seine weit über den Gesichtskreis eines damaligen Beamten hinausgehende Bildung bezeugt.7 Mit diesem Bildungstriebe im Einklang steht seine Tüchtigkeit und Pflichttreue, auf Grund deren wir den Assistenzeinnehmer vom Jahre 1769 schon fünf Jahre später als Obereinnehmer der Kurfürstl. Generalakzise antreffen, mithin in einer ebenso geachteten, als für einträglich geltenden bürgerlichen Stellung, die wir in kleineren sächsischen Orten nicht selten mit derjenigen des regierenden Bürgermeisters verbunden finden.8

Im übrigen fällt die Begründung des Hausstandes Gottlob Friedrich Wagners in einen Zeitraum, in welchem nach heftiger, anhaltender Erschütterung [17] der gemeinen Wohlfahrt durch einen langwierigen, verzehrenden Krieg die Segnungen des Friedens doppelt empfunden wurden. Sechs Jahre waren seit dem Hubertsburger Frieden verflossen, das Gemeinwesen der Stadt Leipzig begann sich von den Unfällen des Krieges, den Brandschatzungen Friedrichs des Großen, dem frevelnden Münzbeginnen Ephraim Itzigs und Genossen auf Schloß Pleißenburg, zu erholen.9 ›Von außen gut, von innen schlimm: von außen Friedrich, von innen Ephraim‹, in diesem (noch in des Meisters letzten Lebensjahren in Wahnfried zitierten) Volksreim lebten die preußischen Dukaten lange im Volksmunde weiter, als bereits die Regierung Friedrich Augusts, des ›Gerechten‹, die Wirkungen all dieser traurigen Begebenheiten nicht erfolglos zu mildern gesucht hatte. Eine Zeit friedlicher Vergrößerung und Verschönerung stieg nach überstandenen Kriegsbeschwerden über der Lindenstadt10 empor, deren Umkreis man schon seit mehr als einem Jahrhundert in wohlgepflegten Linden- und Maulbeerbaumalleen umwandeln konnte, und die dem jungen Goethe – im Verhältnis zu seiner Vaterstadt – so wenig Altertümliches, wohl aber die Merkmale einer neubefestigten, von Handelstätigkeit, Wohlstand und gesellschaftlicher Belebtheit zeugenden Epoche aufwies. Die Begründung von mancherlei Kunstanstalten, Anlegung kostbarer Sammlungen Errichtung neuer Gebäude und Gärten trug nicht wenig dazu bei, Leipzig das Gepräge des ›Klein-Paris‹ aufzudrücken. Zu den in jüngster Zeit entstandenen Verschönerungen der Stadt aber gehörte insonderheit das dicht am Rannstädter Tor, dem Wohnsitz Gottlob Friedrich Wagners, neu errichtete Schauspielhaus, auf dem Grunde der dort vom Kurfürsten Moritz erbauten Bastei. Die Liberalität eines vermögenden Privatmannes aus dem Handelsstande hatte es gestiftet. Auf abgetragenen Festungswerken siedelte sich die Schauspielkunst an: eine Gewähr des wiedererwachten Behagens der Bevölkerung. Es war am 6. Oktober 1766 unter nicht geringem Aufsehen mit Schlegels patriotischem Schauspiel ›Hermann‹ eröffnet worden. Auf dem geräumigen Boden des neuen Hauses hatte Oesers kunstreiche Hand das Werk des neuen Theatervorhanges vollbracht, während ihm der Frankfurter Studiosus dazu die Aushängebogen von Wielands ›Musarion‹ vorlas. Wir dürfen auch ohne ausdrückliches Zeugnis annehmen, der Steuereinnehmer Wagner habe an dem [18] heiteren Spiele Gefallen gefunden, das seinen Mitbürgern eine so lebhafte Teilnahme abgewann; einen Hinweis auf irgendwelche persönliche Neigung oder Beziehung zur dramatischen Kunst besitzen wir nicht. In seinem häuslichen Verkehr, soweit wir uns über diesen belehrt halten dürfen, werden wir nicht über den strengbürgerlichen Kreis von Berufs- und Standesgenossen hinausgeführt. Wir begegnen da keinem gefeierten Leipziger Garrick oder Roscius, sondern den würdigen Obereinnehmern der Landakzise Heinrich Baudius und Johann Georg Reinicke nebst Gattin, dem Torschreiber Karl Gottfried Körner, den Kaufleuten Adam Horn und Joh. Gottfried Sintenis nebst deren Frauen, dem Expediteur der Kurfürstl. Imposteinnahme Karl Friedrich Ferber u. a. Auch ein behäbiger ›Bürger und Weinschenker‹ Adolf Völbling findet sich da; nach ihm als Taufpaten erhielt der zweitgeborene Sohn aus Wagners Ehe, Gottlob Heinrich Adolf, seinen Rufnamen. Vor diesem hatte – im Geburtsjahr Beethovens 1770 – Friedrich Wagner das Licht der Welt erblickt; nach ihm schenkte Frau Johanna Sophia ihrem Gatten noch eine Tochter, Johanna Christiana Friederike, geb. 1778, deren sich, als unverheiratet gebliebener ›Tante Friederike‹, Richard Wagner noch bis in sein spätestes Alter erinnerte.

Ein ausgesprochenes Streben nach höheren Bildungszielen gibt sich bei Gottlob Friedrich Wagner (außer durch das Zeugnis der oben berücksichtigten älteren Notiz) bereits in der sorgfältigen Erziehung kund, welche er seinen beiden Söhnen zu teil werden ließ. Deutlicher erkennbar wird dieses Streben in der folgenden Generation. Sie wird durch die Brüder Friedrich und Adolf Wagner repräsentiert. Den Durchbruch aus der erdrückenden Masse des Stofflichen unserer modernen Bildung in das freie Reich der künstlerischen Gestaltung, den wir in dem überragenden Künstlergeist Richard Wagners mit Staunen sich vollziehen sehen: – ihn scheint die Natur bereits in dem Vater und Oheim unseres großen Meisters wie tastend und vorbereitend versucht zu haben, indem sie diesem zugleich mit dem rastlosesten Fleiß den Trieb zu universaler Aneignung des geistigen Ertrages aller Zeiten und Völker, jenem aber die sein ganzes Leben als roter Faden durchziehende Vorliebe für die theatralische Kunst einpflanzte. Wir lenken die Aufmerksamkeit des geneigten Lesers zuvörderst auf den jüngeren Bruder, um danach in der Verfolgung der Lebensschicksale des älteren unmittelbar zu den frühesten Jugendeindrücken Richard Wagners überzugehen.

Fußnoten

1 Vgl. die hierhergehörigen Ausführungen H. v. Wolzogens in seinen ›Urgermanischen Spuren‹: ›Als die Gemeinde des arischen Urstammes sich ausbreitet, als Wanderungen beginnen, Geschichte aus dem Dasein sich entwickelt: da baut und rüstet der Mann den Wagen, der Weib und Kind, Hab' und Gut, über die alten Grenzen nach neuer Heimat tragen soll. Der rinderbespannte Wagen des Ariers ist für ihn so charakteristisch, wie das zelttragende Kamel für den Semiten. Die Wanderhütte, welche er von jetzt an sich errichtete, ist, dem Karren unserer Schäfer ähnlich, das in Ruhe gestellte Gefährt. Wo seine Wanderstraße ging, vom Orient durch Rußland bis Norwegen hinauf, bis in die Alpen hinein, da finden wir noch heute diese Wagenhütten, anstatt auf die Räder auf Steine gestellt, zum Schutz vor den Wassern schwellender Ströme und Bergquellen. So trat mit der ersten Völkerbewegung unseres Stammes die Kunst des »Wagners« als die männliche neben die heimatlich weibliche des »Webers«, und es ist wahrhaft rührend, im ursprünglichen Handwerkwesen unserer Vorfahren die Familien sich bilden zu sehen, denen der deutschesten Kunst deutscheste Meister entsprießen sollten: Familien des Berufes aus der Urfamilie des Blutes! – Auf alle Fälle sagt uns der arische Wagner mehr von werdender Kultur, als der arabische Kameltreiber; und so wird es bleiben!‹ (Bayreuther Blätter, 1887 S. 267,68.)


2 Heißt es doch noch in der ›Neuen Polizei-, Hochzeit-, Kleider-, Gesinde- und Handwerksordnung für Sachsen‹ vom Jahre 1661 u. a.: der Gottesdienst solle mit ›innerer Andacht‹ besucht ›mit dem Teufel durch Kristalle keine Gespräche gehalten‹A1, keine ›Kugeln getauft‹ und ›Büchsen besprochen‹ werden usw.


3 Die Vorliebe für biblische Namengebung beruht auf den religiösen Traditionen der Reformationszeit und ist für den echt deutsch-protestantischen Sinn der Vorfahren des Meisters charakteristisch; sie ist vorzugsweise dem 17. Jahrhundert eigen – während das 16. die deutschen Namen unter klassisch-humanistischen Einflüssen mit Vorliebe latinisiert oder gräcisiert – und was die damaligen Volksschullehrer betrifft, in deren vorwiegend theologischer Bildung begründet (›Seit der Reformation waren wenigstens in allen Kirchdörfern Schulen, die Lehrer oft Theologen‹, Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, III S. 104).


4 Der Name Thammenhain – nach älterer Vermutung vielleicht auf Damianshain zurückleitend – erscheint aber auch, bereits um das Jahr 1284, in der Schreibart Tannenhain, sodaß unseres Meisters ältester Vorfahr, der sein Haus im ›Tannenhain‹ hatte, uns zugleich als ein richtiger ›Tannhäuser‹ entgegentritt. Das noch jetzt ziemlich stattliche Pfarrkirchdorf liegt an der Torgauer Straße in hügeliger und waldiger Gegend, an Nadelholz fehlt es nicht; im Nordost steigt der Schildaer Berg an und östlich beginnt die Sitzeroder Heide.


5 Vgl. die Erwähnung dieses Namens in Wagners Schriften VIII, 146: ›Ein sächsischer Graf Bünau war es, unter dessen Schutze der große Winckelmann der ersten Befreiung von Nahrungssorge und der Muße zu freien Forschungen im Gebiete des künstlerischen Wissens teilhaftig wurde‹.


6 Als Taufzeugen werden angeführt: Maria Christiana Lutz, Tochter eines Maurergesellen Johann Georg Lutz; Johann Reißer, Markthelfer; Johann Friedrich Teicher, Seidenwirker allhier. Wir führen diese trockenen Personalnotizen hier an, weil uns daraus bei ihrem ersten Durchlesen der ganze merkwürdige Vorgang mit der Lebendigkeit eines bürgerlichen Idylls entgegentrat, welches allerdings nur wieder die eigene Einbildungskraft des Lesers sich ausmalen kann; jede leise Hinzufügung müßte ja diesen einzigen zu uns gelangten Zug einer fern entrückten Wirklichkeit in willkürliche Dichtung umwandeln.


7 Dies geschieht in einer Bemerkung des ›Literarischen Zodiakus und Konversationslexikon der neuesten Zeit u. Literatur‹ 1835, Sept. S. 230 (in einem Artikel über Adolf W.).


8 Am 2. Februar 1702 verschied zu Pirna als kurfürstlicher Akziseeinnehmer und zugleich regierender Bürgermeister Johann Gottlieb Wagner, geb. 1654 als der Sohn des Pirnaer Ratsherrn und Handelsmannes Johann Wagner. Diese Familie scheint jedenfalls ihrer Herkunft nach von der auf Emanuel Wagner als Stammvater zurückführenden verschieden; sie schreibt sich aus Böhmen her, wo des Johann Gottlieb W. beiderseitige Großeltern ›bei damaliger harter Gegenreformation, mit Verlassung ihres schönen Vermögens an liegenden Gründen und Fahrnis das Exilium gebauet und anhero nach Pirna sich gewendet haben‹. So lautet es in einem gedruckten alten ›Lebenslauff‹ des Pirnaer Akziseeinnehmers und Bürgermeisters, dem eine Grabrede für den ›auf dem sanften und seligen Todes-Wagen dahinfahrenden Wagner‹ sich anschließt: ›sein Todeswagen‹, heißt es darin ›sei ein rechter Triumphwagen gewesen; die Ungläubigen und Gottlosen bekämen gar andere Wagen, darauf sie in die Hölle herunterrollen‹.


9 Friedrich der Große hatte dem Hofjuwelier Ephraim Itzig die Berliner Münze, und nach der Besetzung Sachsens auch die sächsische Münze in Pacht gegeben und dieser das Geld zu immer geringerem Werte ausgeprägt (die Mark sein, 14 Tlr. wert, bis zu 45 Talern!) und solcher ›Ephraimiten‹ für 7 Millionen Tlr. in die Welt gesetzt.


10 Bekanntlich ist Leipzig, seinem Namen nach, von altersher die ›Lindenstadt‹ (von slawisch lipa.)


A1 Kristallseherei war damals sehr gebräuchlich –, ›ins Kristall bald dein Fall‹ (E. T. A. Hoffmann).

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 6-19.
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