VI.

Wollen wir hoffen?

[190] Eine beabsichtigte Brunnenkur durch übles Wetter verzögert. – ›Wollen wir hoffen?‹ – Lektüre Carlyles. – Geburtstagsfeier. – Auswärtige Aufführungen des ›Ringes‹. – Beabsichtigte Wiederaufnahme des Schulplans. – ›Parsifal‹ nicht 1880! – ›Über das Dichten und Komponieren.‹ – Rubinsteins Schumann-Artikel. – Konstantin Frantz' ›Föderalismus‹. – Scharlach in Wahnfried.


Wer mit mir hoffen will, der hoffe auch in meinem Sinne: kann ihm ein flüchtiger Anschein nicht mehr genügen, so hofft er mit mir.

Richard Wagner.


Mit seltsamen Gefühlen, so sagte er selbst, erfülle ihn die Betrachtung seines vollendeten Werkes und der Rückblick auf die Periode seiner Entstehung. Die Zeit sei ihm dabei entschwunden ›wie ein Nichts‹; es sei doch die schönste Zeit, diese ›Brunstzeit‹.1 Nun wolle er sich an das ›Faulenzen‹ machen, wofür er aber schönes Wetter haben möchte. ›Jetzt ruhe ich aus‹, schrieb er am 4. Mai an den trefflichen Londoner Freund Dannreuther, ›jetzt ruhe ich aus und harre eines Sommers (?), um zu Hause eine Brunnenkur zu betreiben.‹2 Dann, nach beendeter Kur, zu welcher er sich zeitig durch Freund Feustel die entsprechende Quantität Rakoczy aus Kissingen hatte kommen lassen, wollte er wieder ›etwas machen‹, d.h. ›mit grenzenloser Muße und Freude an die Instrumentierung seines »Parsifal« gehen‹. Daß diese Instrumentation von derjenigen des ›Ringes‹ gänzlich abweichend und verschiedenartig sein werde, hatte für ihn schon während der Ausführung der Komposition im voraus deutlich festgestanden. Es war am Tage nach der Vollendung der Komposition seines großen Werkes, daß er zu Wolzogen über diesen Gegenstand sprach. ›Es ist nicht gut, wenn gewisse Eitelkeiten auf ungemein ausgearbeitete Figurationen der Mittelstimmen zur Gewohnheit [190] werden; bei meinem »Parsifal« will ich mich auch in der Instrumentation einfach halten.‹ Wie Wolkenschichten, die sich teilen und wieder neu bilden, so würde es sein. Und er wies darauf hin, daß dieselbe Naivetät, die im ›Waldweben‹ die Sentimentalität ferngehalten habe, sie auch vom ›Parsifal‹ entferne; dort sei es die Naivetät der Natur gewesen, hier die Naivetät des Heiligen, die von allen Schlacken des Sentimentalen reinzuhalten wäre. Gewisse Modulationen und Intervalle, pathetische Harmonien und sentimentale Melodie könnten hier gar nicht vorkommen. Er schlug dann bestimmte Intervalle auf dem Klavier an und sagte: ›das ist im Parsifal rein unmöglich‹. ›Und damit Sie sehen‹, fuhr er dann, immer zu Wolzogen gewendet, in humoristischem Tone fort ›damit Sie sehen, was ich für ein närrischer Kauz bin, will ich Ihnen zeigen, was ich im ersten Akt ändern will.‹ Er suchte den betreffenden Akkord im ersten Akt, fand ihn aber nicht: ›richtig, es ist im Vorspiel! Wie ich es (am 25. Dezember) gehört habe, habe ich mir gesagt: alles schön und gut, aber dieser Akkord bleibt nicht!‹ Er war ihm schon zu sentimental.3 Und in der Tat ist vielleicht das Wunderbarste des ganzen erhabenen Werkes seine göttliche, nur mit den Evangelien vergleichbare, Einfachheit – der ›reine Tor‹, er beherrscht alles. ›Alles ist darin direkt‹, sagte er selbst. Von Amfortas, seiner Weichheit, seinem ›Fertigsein‹, war dann noch, an demselben Abend des 27. April, die Rede, jener Weichheit, die nur durch den einen furchtbaren Moment unterbrochen wird, wo er die Gralsritter zwingen will ihn zu töten.

›Ich harre eines Sommers‹ – das von ihm selbst hinzugefügte zweifelvolle Fragezeichen zu diesem Wort bekundet deutlich, wie sehr er das endliche Eintreten dieses Sommers herbeisehnte. Aber dieser Sommer, dessen er so sehr bedurfte, wollte in den dafür bestimmten Kalendermonaten des Jahres 1879 in Bayreuth nicht kommen, außer mit dem unvermittelt plötzlichen Eintreten einer belästigenden Schwüle bei Tag und Nacht, die sich dann schnell wieder verbrauchte und aufzehrte, worauf wieder graues Regenwetter folgte. Mit dieser vorausgreifenden Bemerkung ist der Inhalt des folgenden Kapitels in Kürze bereits angegeben. Es kam, trotz wiederholten Beginnes der vorgesetzten Kur, nicht zu deren wirklicher Durchführung; statt dessen machten sich allerlei unvorhergesehene Momente, äußere Eindrücke und Einflüsse geltend, die nur ungünstig auf sein Befinden wirken konnten und somit die Katastrophe herbeiführten, die sich im Dezember nicht mehr zurückhalten ließ und seine Abreise nach Italien zu einer förmlichen [191] Flucht vor einem – nicht mehr drohenden, sondern bereits vorhandenen Übel gestaltete.

Was bei seiner rastlosen Natur das ›Faulenzen‹ für eine Bedeutung hatte, wissen wir schon von früheren Gelegenheiten her; es hieß so viel als seine Gedanken zu einer wichtigen literarischen Kundgebung sammeln. So entstand die Schrift über deutsche Kunst und deutsche Politik, als er von den ›Meistersingern‹ ›ausruhte‹ und als er am 4. Mai an Dannreuther die Worte schrieb: ›jetzt ruhe ich aus‹, war er seit zwei Tagen mit der Abfassung seines Aufsatzes ›Wollen wir hoffen?‹ beschäftigt. Die ernsten Gedanken, die er hier in scheinbar leichtem Unterhaltungstone, als hätte er einen lebendigen Freundeskreis um sich, aneinanderreihte, enthalten in gedrängtester Konzentration den feinsten Auszug und Inbegriff der Erfahrungen seiner letzten Lebensjahre, wie in so manchen Andeutungen nicht minder auch seines zuletzt gepflogenen literarischen Umganges. Zum erstenmal finden wir darin die Erwähnung Plutarchs, auch Leopardis (vgl. S. 161); aber auch manchen Gedanken, den er schon zuvor in mündlicher Unterredung ausgesprochen und dem wir im vorstehenden bereits begegneten. Der Hauptgegenstand, mit welchem sich diese Betrachtungen beschäftigen, ist durch die als Überschrift an ihre Spitze gestellte Frage gegeben: Wollen wir hoffen? ›Daß ich selbst die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, bezeuge ich dadurch, daß ich die Musik zu meinem »Parsifal« in diesen Tagen vollenden konnte. Wie die beglückende Gunst meines erhabenen Wohltäters mich einst zu der Entwerfung dieses Werkes begeisterte, hat mich jetzt das noch nicht verlorene Vertrauen auf den deutschen Geist bei seiner Ausführung erwärmt. Für eine Beantwortung der Frage, ob wir hoffen wollen, bedarf ich aber – soll sie in meinem Sinne ausfallen – der Geneigtheit meines Lesers, mir durch die Gebiete unseres gegenwärtigen Lebens nicht mit sanguinischem Optimismus zu folgen: für denjenigen, der hier alles recht und in möglichster Ordnung findet, ist die Kunst nicht vorhanden, schon weil sie ihm nicht nötig ist. Welcher höheren Anleitung sollte in Wahrheit auch derjenige bedürfen, der sich für die Beurteilung der Erscheinungen dieser Welt der so bequemen Führung durch den Glauben an einen steten Fortschritt der Menschen überläßt? Er möge tun oder lassen, was er wolle, so ist er sicher doch immer mit fortzuschreiten: sieht er großherzigen Bemühungen zu, welche ohne Erfolg bleiben, so sind sie in seinen Augen dem steten Fortschritte undienlich gewesen: gehen z.B. die Leute lieber an ihren Geschäftsorten bequem in die Theater, um den »Nibelungenring« zu sehen, statt sich einmal zu dem etwas mühsamen Besuch von Bayreuth aufzumachen, um sorgfältig eingeleiteten Bühnenfestspielen beizuwohnen, so wird auch hierin ein Fortschritt der Zeit gesehen, da man nicht mehr zu etwas Außerordentlichen eine Pilgerfahrt anzutreten hat, sondern das Außerordentliche, zu dem Gewöhnlichen umgeformt sich behaglich zu Hause vorführen läßt.‹

[192] Dies waren nun die Erfahrungen seines letztverflossenen Lebensjahres, in welchem allerdings sein bisher als unmöglich verschrienes Werk durch plötzliche Verbreitung über die einheimischen Bühnen einer ganzen Reihe deutscher Städte fast aufgehört hatte den Deutschen etwas Fremdartiges zu sein und beinahe selbst schon dem ›Fortschritt‹ der Zeit und des deutschen Theaters zugezählt wurde! War dadurch der Sinn für das Große, Neue wirklich geweckt, war es dadurch ein Eigentum des deutschen Volkes geworden? Oder zeigte sich nicht vielmehr die Kluft zwischen dem Bayreuther Reformationswerk und dem Teile des deutschen Volkes, das sich mit jenen Aufführungen begnügte, indem es in hellen Scharen sich dazu drängte, genau ebenso breit wie zuvor? ›Der Blick für das Große geht dem Fortschrittsgläubigen gern verloren; nur ist zu fragen, ob er dafür den richtigen Blick für das Kleine gewinne? Es ist zu fürchten, daß er auch das Kleinste nicht mehr richtig sieht, weil er überhaupt gar kein Urteil haben kann, da ihm jeder ideelle Maßstab abgeht. Wie richtig sahen dagegen die Griechen das Kleinste, weil sie vor allem das Große richtig erkannten! Dagegen hilft sich die Annahme eines steten Fortschrittes durch die Hinweisung auf den »unendlich erweiterten Gesichtskreis« der neueren Welt gegenüber dem engeren der antiken Welt. Sehr zutreffend hat der Dichter Leopardi gerade in dieser Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises den Grund für die eingetretene Unfähigkeit der Menschen, das Große richtig zu erkennen, gefunden. Die dem engeren Gesichtskreise der antiken Welt entwachsenen großen Erscheinungen sind für uns, die im unendlich ausgedehnten Gesichtskreise Stehenden, sobald sie uns aus dem Erdboden denn doch einmal plötzlich entgegentreten, sogar von erdrückenderer Größe, als sie für jene, so zahllos sie hervorgehen sehende Welt waren. Mit Recht frägt Schiller, welcher einzelne Neuere heraustreten würde, um sich mit dem einzelnen Athenienser, Mann gegen Mann, um den Preis der Menschheit zu streiten?‹ –

Somit knüpfte sich die Frage ›wollen wir hoffen?‹ vor allem an die Erkenntnis dieses unter dem herrschenden ›Fortschrittsglauben‹ und der ›vermeintlichen Herrschaft des freien Willens‹, dem er das innere ›Müssen‹ des Genius gegenüberstellte, fast unkenntlich gewordenen deutschen Wesens, in die Entscheidungsfrage mündend: ›ist der Deutsche, unter der Undeutschheit seiner ganzen Lebensverfassung leidend, neben den so fertig erscheinenden lateinisch umgeborenen Nationen Europas eine bereits zerbröckelte und seiner letzten Zersetzung entgegensiechende Völkererscheinung, oder lebt in ihm noch eine besondere, der Natur um ihrer Erlösung willen unendlich wichtige, um deswillen aber auch nur mit ungemeiner Geduld und unter den erschwerendsten Verzögerungen zur vollbewußten Reise gedeihende Anlage, – eine Anlage, die vollkommen ausgebildet, einer weit ausgedehnten neuen Welt den Untergang der uns jetzt noch immer so überragenden alten Welt ersetzen könnte?‹ Mit [193] anderen Worten: ist das Deutschtum unserer Zeit mit dem Anzeichen einer untergehenden Rasse behaftet, oder besitzt es in sich noch die Rassenkraft, die es zu einer Erneuerung und damit auch zu einer Gemeinsamkeit mit seinen vereinsamten großen führenden Geistern bringen könnte? Nicht im deutschen Parlament, selbst nicht in dem einst so hoffnungsvoll von ihm besungenen ›deutschen Heere‹4 vermochte er in seiner Umschau die Bürgschaft für das Vorhandensein dieser Regenerationskraft zu finden. ›Wer diese in unseren Armeen sucht, kann durch einen Zustand getäuscht werden, in welchem diese gerade jetzt und heute sich darstellen; jedenfalls läge ihm aber doch diejenige Kraft näher, welche diese Armeen erhält: dies ist aber unleugbar die deutsche Arbeit Wer sorgt für diese? Was macht unser »suffrage-universel-Parlament« mit den deutschen Arbeitern? Es zwingt die Tüchtigsten zur Auswanderung und läßt den Rest in Armut, Laster und absurden Verbrechen daheim gelegentlich verkommen.‹ An der Lösung dieser alles entscheidenden Fragen mit Muße und Liebe zunächst dadurch zu arbeiten, daß er sie aufwarf, bereitete ihm Befriedigung; er war sich dessen bewußt, daß er seinen Zeit- und Landesgenossen, zunächst den besonnenen Freunden seines Patronatvereins, gerade mit diesen Betrachtungen etwas zu bieten hatte, und konstatierte, wenn er von der Arbeit zu Tische kam: was ihn an seinem eigenen Aufsatz erfreue, das sei ›die Art, wie man die Sachen sagt‹. Um dieser seiner Idee willen trieb er gelegentlich sogar auch gern ›etwas Philologie‹, indem er im griechischen Urtext des Neuen Testamentes, wie in der lateinischen Vulgata, sodann in den ihm zugänglichen englischen und französischen Bibelübersetzungen durch Nachschlagen von dem jedesmaligen Wortlaut jener Stelle des ersten Korintherbriefes (14, 11) sich überzeugte, an welcher Luther das griechische Wort ›barbaros‹ in ausdrucksvoller Einfalt mit dem kraftvollen ›undeutsch‹ übersetzt hatte. Er fand die englische Übertragung flach und unbedeutend, am unglücklichsten aber die französische, da sie eben das problematische, abstrakte und mißverständliche ›barbare‹ unverändert beibehielt. Wie herrlich habe es dagegen Luther getroffen; dieser eine Zug habe für ihn so viel Gewicht! Er entsann sich, diese Stelle bereits einmal Nietzsche und Rohde gezeigt und es als einen auffallenden Mangel an Verständnis und Phantasie empfunden zu haben, daß sie ihnen, den philologisch Geschulten, nichts gesagt habe. Lachend berichtete er gleich nachher über seine eigene Zerstreutheit, als er, der griechischen Schrift durch so andauernden Mangel an Übung ungewohnt, das erste Beta im Worte ›barbaros5 ganz richtig geschrieben und dann erst beim zweiten sich unwillkürlich gefragt habe, wie er es schreiben [194] sollte. Aber von diesem Punkte aus fand er nun auch den Ausspruch Schillers über das Barbarische unserer herrschenden Staats-und Kirchenverfassungen neu beleuchtet: ›wenn wir das »barbarisch« Schillers mit Luther als »undeutsch« übersetzen‹. ›Aber, die wir für unsere Hoffnung uns schmeicheln wollen, mit der Erkenntnis seiner wahren Anlagen auch der ganzen Kraft des Deutschen mächtig zu sein, wie machtlos sind wir Jenen gegenüber, die unserer Not, weil sie ihnen fremd ist, spotten und im Gefühl ihrer Macht uns verächtlich den Rücken wenden! Es ist nicht gut mit ihnen anzubinden: denn sie haben den vornehmen Mut des Reichen dem Bettler gegenüber: was bekümmern sie sich um das »Déluge«, das etwa nach ihnen kommen dürfte?‹

Wollen wir hoffen? Die Beantwortung dieser Frage leitet noch auf mancherlei Punkte über, auf die Betrachtung der deutschen Zeitungspresse als einer der hervorragendsten Äußerungen der herrschenden Macht des ›modernen‹ undeutschen Wesens, und damit auch des Zeitungslesens und der Zeitungsleser. Und hier verweilen wir für einen Moment bei der charakteristischen Erwähnung einer bestimmten geschichtlichen Erscheinung, Oliver Cromwells und seiner durch ihren Glauben unbesieglichen Schwadronen. In ihrer Anführung an dieser Stelle spiegelt sich etwas davon wieder, daß ihm – bereits seit Ende April – noch während der letzten Arbeit am ›Parsifal‹ vorherrschend Carlyle zur Lektüre diente. In sinniger Weise bezeichnet Wolzogen diesen, aus beständigem Suchen und Forschen nach einem seiner Geisteshöhe entsprechenden Umgang hervorgehenden, unausgesetzten Verkehr mit den Größten aller Zeiten als die nie verklingende ›Kammermusik‹ in den Räumen von Wahnfried, und diese Kammermusik wiederum als einen nie versiegenden Heldengesang: ›ein Heldengesang von den Upanishaden Indiens bis zu jenem letzten mitlebenden Weisen unserer Zeit: Carlyle‹. Die umfassenden Geschichtswerke des berühmten ›Heldenverehrers‹, sein ›Leben Friedrichs des Großen‹ und seine ›Geschichte der französischen Revolution‹ waren ihm seit ihrem ersten Erscheinen wohlbekannt und vertraut und bereits i. J. 1872 gab er – von Triebschen aus – dem dritten Bande seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen ein bedeutendes Wort des ›Weisen von Chelsea‹ über das ›himmlisch-höllische Ereignis‹ jener Revolution mit auf den Weg, welches nun in der Einführung jenes Bandes für immer mit seinen eigenen Gedanken dauernd verflochten bleibt. Gern aber kehrte er immer wieder zu ihm zurück. Unter seinen kleineren Aufsätzen umging er nur jene übermäßig jeanpaulisierenden, allzu geistreich schillernden und flimmernden Auseinandersetzungen mit seinen fiktiven Autoritäten Sauerteig und Teufelsdröckh, und bezeichnete ihn wohl überhaupt gelegentlich als Dilettanten, dem die eigentliche Tiefe der Metaphysik abgehe; aber – er habe das Herz auf dem rechten Fleck, das sei sein ungeheurer Vorzug. Ein Zusammentreffen frappierte ihn sehr, nämlich daß Carlyle seine Hoffnung [195] für eine Erneuerung der sozialen Zustände auf einen tüchtigen seelenvollen Industriellen setze, und daß wiederum Turgenjew in seinen kurz zuvor gelesenen ›Terres vierges‹ in der Gestalt des Solomin gerade einen solchen gezeichnet habe.6 In dem Essay über Walter Scott gefielen ihm besonders die Gedanken des englischen Autors über Popularität und Größe; doch fand er in dem, was Carlyle an Scotts Eigenart das ›Gesunde‹ nennt, das Naive seiner Begabung nicht genügend hervorgehoben. Manch andere menschlich persönliche Eigenschaften des großen Romanciers, jene gewisse künstlerische Aufgeregtheit, die in dem vielen Bauen und Schmücken sich ausdrückt, und seinen liebevollen Zusammenhang mit der Tierwelt – Züge, die an den Meister selbst erinnern konnten, wenn sie auch bei ihm ganz anders sich kundgaben – würde Carlyle gewiß, wenn er Wagner gekannt hätte, besser verstanden und empfunden haben. Die Studie über Burns machte viel Vergnügen; waren auch manche Wiederholungen darin ermüdend und konnte manches andere wie ein unnützes Predigen erscheinen, so lag doch in allem ein tiefer eigenartiger Sinn. Die Parallele zwischen Burns und Byron z.B. und die richtige Erkenntnis dessen, daß beide, wiewohl wahre Dichter, doch nicht Künstler genug waren, um nach diesem ihrem dichterischen Beruf ihr Leben zu gestalten, gaben Anlaß zur Anknüpfung von Betrachtungen über das Verhältnis des Künstlers zum Leben. Sehr fesselnd erwies sich als Abendlektüre die Geschichte der Abtei St. Edmundsburg; ihm gefiel der charakteristische Zug König Heinrichs II. – bei seiner Beurteilung des eben erwählten Abtes Samson – sehr, auch unterhielt ihn höchlich das Mönchslatein, und ergreifend wirkte namentlich die Ausgrabungsszene am Schluß Mittags teilte er zuweilen vorzügliche Aussprüche mit, die er soeben in Carlyle gelesen, und fügte einmal die Worte hinzu: ›wenn man bedenkt, welche vortreffliche Sachen schon ausgesprochen wurden und daß die Welt fortfährt dieselben Dummheiten zu reden, so sieht man ein, daß zu ihr nur – zu schweigen ist‹. Eine Zeitlang, den ganzen Mai hindurch und darüber hinaus, herrschte in Wahnfried fast ausschließlich der hochbegabte und originelle englische Schriftsteller; für sich allein las der Meister von neuem die ›französische Revolution‹, abends bildeten die Vorträge über Heldenverehrung [196] den Gegenstand der gemeinsamen Lektüre. An der ersteren rühmte er die Darstellungsform, wie der Autor die von ihm geschilderten Personen nicht durch breite Reden über dieselben einführe; er ließe sie handeln und zeige dabei ihre Physiognomie. Die prachtvolle Schilderung des Festes der Confédération und ähnliches erfreute ihn auch bei der erneuten Lektüre und gewisse originelle Bezeichnungen wie die der Revolution als ›tollgewordene Trivialität‹ oder das Wort ›Kasernenglaube‹ ergötzten ihn ungemein. Bei uns jetzt, meinte er, sei alles ›Kasernenglaube‹. Die Tat und Persönlichkeit der Charlotte Corday traten ihm in Carlyles Darstellung lebhaft nahe: ›solche Taten sind dem Wahnsinn nahe‹, sagte er, ›aber durch den Wahn spricht sich das Göttliche aus‹. Im Anschluß an eine gemeinsame Lektüre der Abschnitte über Dumouriez und Danton, an welcher Wolzogen und Rubinstein teilnahmen, kam das Gespräch auf Napoleon III. und so manchen, der als ein ganz tüchtiger Staatsmann oder Stratege doch nicht dem Tode habe ins Angesicht schauen können, dem alles nur ein berechnendes Spiel war. ›Die Napoleoniden haben keinen Heroismus, ihnen fehlt der Glaube an sich; die Persönlichkeiten treten zurück hinter der Tätigkeit ihrer Phantasie, ihres militärischen oder diplomatischen Talentes. Dieser Mangel wäre bei den Griechen als Unschönheit empfunden worden und ein mit diesem Mangel behafteter Held wäre ihnen undenkbar gewesen Gustav Adolf konnte sterben, und Friedrich der Große hat seine Person stets der Gefahr ausgesetzt; diese andren nicht. Friedrich der Große war ein vollkommener Held, die Persönlichkeit war das Große an ihm, das Gegenteil jener herzlosen Diplomatie der bloßen Intelligenz, die außerhalb ihres Feldes nur Komödie zu spielen weiß und sich erbärmlich klein zeigt. Von diesen Leuten erwartet keiner, daß sie sich selbst opfern sollten.‹ So verstand Wagner das wahre Heldentum, fügt Wolzogen hinzu, und an seiner Persönlichkeit, die uns noch heute lebendig nahesteht, sollen und können wir von neuem erlernen, was Heldenart ist, im Leiden und im Wirken: deutsche Heldenart.7 An der abendlichen Lektüre der Vorlesungen über Heldenverehrung fand er viel Gefallen; bloß die erste derselben (›der Held als Gott‹) ward von ihm sogleich an der Stelle unterbrochen, wo der flache Euhemerismus in der Erklärung ›Wotan-Odhins‹ als geschichtlicher Persönlichkeit sich breit macht: den Versuch, Odhin als einen Mann, einen weisen Denker zu betrachten, der in der pietätvollen Erinnerung der Nachkommen zum Gotte erhoben worden sei, und die Folgerungen daraus, erklärte er kurzweg für ›Faselei‹. Dagegen folgte er mit Interesse der Charakterdarstellung Muhameds (in der Vorlesung ›der Held als Prophet‹) und ergreifend wirkte auf ihn das von Muhamed gepredigte ›Wunder‹ des Menschen, der ›Mitleid hat‹ – ›da fängt der Gott an!‹ rief [197] er aus.8 In der Vorlesung über den ›Helden als Dichter‹ fand er das über den Dichter im allgemeinen Vorgebrachte etwas dilettantisch und mit dem einen Hauptfehler, dem Mangel einer gründlichen philosophischen Bildung behaftet, welcher fast überall zu spüren sei, wo der Autor ins Allgemeine gehe; die Beurteilung der Person Dantes aber und seines Gedichtes, auch einzelnes aus dem allgemein über Dichtkunst Gesagten erfreute ihn sehr. Nebst vielem ›Gefaselten‹ (wie er sich bei größter Hochschätzung mehr obenhin und ohne die Absicht eines schroffen Tadels ausdrückte) fänden sich in demselben Abschnitte über Shakespeare sehr schöne Züge; insbesondere hob er die Schönheit des Gedankens hervor, daß die Natur dem wahren Dichter diesen Lohn mitgebe: ihn ›zu einem Teile ihrer selbst werden zu lassen‹.9 Immer und immer wieder kam er bei späteren Unterhaltungen auf die richtige Schätzung zurück, nach welcher Carlyle erkannt habe, Shakespeare sei für die englische Nation mehr wert als ihre Kolonien. ›Welchen Engländer, den je unser Land erzeugt, welche Million Engländer würden wir nicht lieber hingeben als diesen armen Warwickshirer Bauerssohn, der sich zum Theaterunternehmer emporschwang, so daß er leben konnte, ohne zu betteln; auf den der Graf von Southampton einige gnädige Blicke fallen ließ; den Sir Thomas Lucy auf die Tretmühle zu schicken gedachte? Für unsere Ehre unter fremden Nationen, als eine Zierde unseres englischen Heimwesens, welchen Besitz würden wir nicht lieber abtreten als ihn? Man bedenke: wenn wir gefragt würden: wollt ihr euer indisches Reich oder euren Shakespeare aufgeben, ihr Engländer; nie ein indisches Reich oder nie [198] einen Shakespeare gehabt haben? Es wäre in der Tat eine ernsthafte Frage Amtspersonen würden ohne Zweifel in amtsmäßiger Sprache Antwort geben; aber würden nicht auch wir, für unser Teil, zu antworten gezwungen sein: indisches Reich oder kein indisches Reich; wir können Shakespeare nicht entbehren! Das indische Reich wird jedenfalls einmal von uns gehen; aber dieser Shakespeare geht nimmer von uns, er verharret ewig bei uns; wir können unsern Shakespeare nicht lassen! – Es wird nicht lange mehr dauern und England, dieses unser Eiland, wird nur einen kleinen Bruchteil der Engländer in sich schließen: in Amerika, in Neuholland, nach Osten und Westen bis zu den Antipoden hin wird es ein, große Strecken des Erdballs bedeckendes Sachsentum geben. Was ist es nun aber, das imstande ist alle diese im wesentlichen zu einer Nation zusammenzuhalten? Parlamentsakten, verwaltende Ministerial-Vorsteher können es nicht. Amerika ist von uns getrennt, soweit als Parlamente es trennen konnten. Man nenne es nicht phantastisch, denn es liegt viel Wirklichkeit darin, wenn ich sage: hier ist ein englischer König, welchen keine Zeit oder Ungefähr, kein Parlament oder Parlamentsverband entthronen kann! Dieser König Shakespeare, leuchtet er nicht in gekrönter Oberherrlichkeit über uns allen, als das edelste, freundlichste und dennoch stärkste aller Bundeszeichen, unzerstörbar? Wir können ihn uns vorstellen als hoch über allen englischen Völkerschaften strahlend nach tausend Jahren.‹ Das war eine Sprache, deren würdig, die er selbst im dritten Akte der ›Meistersinger‹, bei der jubelnden Begrüßung des Nürnberger Poeten durch das Nürnberger Volk angeschlagen, und wie sie in den tief ernsten Betrachtungen von ›Was ist deutsch?‹ und ›Wollen wir hoffen?‹ immer wieder mit gleichem Bewußtsein in bezug auf den höchsten Hort einer Nation hindurchklingt, der nicht in seinen Waffen und seinen Parlamenten besteht, sondern in den Schöpfungen seines Genius. ›Große Politiker, so scheint es‹, hatte er von den Deutschen gesagt, ›werden wir nie sein, aber vielleicht etwas viel Größeres, wenn wir unsere Anlagen richtig ermessen, durch welche die Deutschen zwar nicht zu Herrschern, wohl aber zu Veredlern der Welt bestimmt sein dürften. Wir könnten mit Hilfe aller uns verwandten germanischen Stämme die ganze Welt mit unseren eigentümlichen Kulturschöpfungen durchdringen, ohne jemals Welt-Herrscher zu werden. Das, was die Deutschen in ihren Reformationskämpfen verloren, Einheit und europäische Machtstellung, mußte von ihnen aufgegeben werden, um dagegen die Eigentümlichkeit der Anlagen sich zu erhalten, die vollkommen ausgebildet, einer weit ausgedehnten neuen Welt den Untergang der uns jetzt immer noch so überragenden alten Welt ersetzen könnte.‹ Und: ›dem Weltbeglücker gebührt der Rang noch vor dem Welteroberer‹. Und hier reiht sich für uns noch jenes, durch Schemann erlauschte Wort an, das er einmal zu Beginn der Tafel ›halblaut, so daß nur ich als sein Nachbar es hören [199] konnte‹, gleichsam vor sich hin sprach: ›Mein Taktstock wird noch einmal das Szepter der Zukunft werden, er wird die Zeiten lehren, welchen Gang sie zu nehmen haben. Auf das Tempo kommt ja am Ende alles an: Rhythmus, Harmonie, Schönheit finden sich dann schon von selber.‹10

In dem Abschnitte über Luther (›der Held als Reformator‹) fand er vieles vortrefflich und erhebend; durch und durch Protestant in jeder Faser seines Wesens, erfreute er sich dennoch auch der Unparteilichkeit des Urteils, mit welcher Carlyle die Lebensdauer der katholischen Kirche von der einen bestimmten Fähigkeit abhängig machte: edle Seelen noch zu befriedigen. Solange in ihr die Möglichkeit der Güte und Frömmigkeit vorhanden sei, so lange möge sie getrost fortdauern. Aus der Vorlesung über den Helden als Schriftsteller zitierte er einmal in seinen Tischgesprächen mit Gefallen daran die scharf pointierte Gegenüberstellung: die Pariser vornehme Welt habe nicht gewußt, was mit Rousseau anzufangen? Er dagegen habe wohl gewußt, was er mit ihr anzufangen hatte: er schickte sie unter die Guillotine.11 Inmitten dieser zwiefachen Beschäftigung mit dem verwandten großen Geiste – in eigener und in gemeinsamer Abendlektüre ward ihm noch eine besondere Anregung durch die Berührung mit sich selbst, mit seinen eigenen wiederentdeckten Gedanken in einer früheren Periode seines Lebens und Denkens zuteil. Durch die Vermittelung des Dresdener Musikers Fürstenau nämlich gelangte er, nach einem vollen ereignisreichen Vierteljahrhundert, in den Besitz seiner, damals aus der Schweiz an Theodor Uhlig gerichteten Briefe. Als etwas Neues, gänzlich Vergessenes traten ihm diese entgegen, zunächst in der Abschrift, sodann in den Originalen: er selbst war erstaunt über die sich ihm daraus offenbarende großartige Übereinstimmung und Gleichheit seines Wesens durch alle Zeiten hindurch: wie er schon damals mit allem ›fertig‹ gewesen sei. Wie damals, erwartete er auch jetzt das Eintreten des Sozialismus, nur nicht mehr für eine bestimmte, nahebevorstehende Zeit. Wie aber unsere großen Geister an dem wiederaufgefundenen Griechentum ein Band zum Wiederanknüpfen fanden, so durfte er sich der Hoffnung hingeben, daß man in fernen künftigen Zeiten, die alles Jetzige verschlungen haben würden, an sein Kunstwerk wiederanknüpfen würde.

Zu den – gleichsam bürgerlich lokalen – Ereignissen, die sich der Zeit nach unmittelbar an die Vollendung des ›Parsifal‹ anschlossen und seine Teilnahme stark in Anspruch nahmen, gehörte u.a. auch ein betrübender Vorfall, der plötzliche Tod seines nächsten Hausnachbarn, des Barons Staff. Mit ihm und seiner Familie hatte der Meister schon in den früheren Bayreuther Jahren gern verkehrt und ihn gelegentlich auch einmal im Herbst mit den Seinigen [200] auf dessen, unweit Bayreuth belegenem Gute besucht, wobei er dann das ganze Gutshaus zur Feier dieses Besuches von unten bis oben festlich illuminiert antraf. Zuletzt waren Staffs bei ihrem Winteraufenthalt in per Stadt zu Beginn des Jahres durch ein Bankett in Wahnfried geehrt worden und es war heiter und freundlich dabei hergegangen. Dann hatte eine schlimme Krankheit bei den Staffschen Kindern, der Scharlach, beide Familien voneinander getrennt gehalten und der Meister der Baronin soeben, beim ersten Wiedersehen, in seiner herzlichen warmen Weise dazu gratuliert, diese schwere Prüfung überstanden zu haben: da wurde ihm tags darauf, gerade während er mit der letzten Arbeit an seinem Werke beschäftigt war, der plötzlich – im Walde, auf der Jagd – erfolgte Tod des im rüstigsten Mannesalter Stehenden gemeldet und der ernste Vorfall drückte unwillkürlich auch der allgemeinen Stimmung in Wahnfried sein Gepräge auf Einige Wochen später, gerade während der soeben geschilderten Periode der Beschäftigung mit Carlyle, erreichte ihn wiederum die Nachricht vom Tode Sempers in Rom und gab Veranlassung zu mancherlei Erinnerungen an diesen ausgezeichneten Künstler und Freund, der ihm von Dresden aus nahegestanden hatte und schließlich auch durch alle Münchener Kabalen, deren Opfer er durch ungeschickte Beratung geworden, nicht entfremdet werden konnte. ›Das, was antik in einem solchen Menschen war, wird zur Verzerrung in unserer Welt‹, sprach er sich über den Dahingeschiedenen aus. Über seine Bestattung erfuhr er dann noch, daß der protestantische Pfarrer in Rom und Prof. Moleschott sich um die Grabrede gestritten hätten; nun hätten beide sie gehalten, eine ›konfessionslose‹ Beerdigung! Es war ihm nicht erfreulich, daß in einem neuerschienenen Buche von Malwida diese sich gegen die religiösen Akte aussprach: mit der Trauung habe die Kirche nichts zu tun, das gebe er zu; denn sie sei eigentlich gegen ihren Geist, sie ließe sie bloß zu; aber die Geburt und der Tod, die gingen sie an. Das begriffe er nicht, wie man sich gegen die Taufe wehre, wenn man selbst in dieser Gemeinsamkeit geboren wäre: wenn er auch zugebe, daß für außerhalb dieser Gemeinsamkeit Geborene es keinen Sinn habe, sich jetzt darein aufnehmen zu lassen, weil es zu schlimm mit den Kirchen stünde. Ihm sei ein Pfaff das Unausstehlichste, was er kenne; das habe aber mit dem Akte der Taufe und mit dem Symbol der Erlösung nichts zu tun. ›Man sollte doch froh sein, von Kindheit an mit den religiösen Traditionen verwachsen zu sein; sie sind durch gar nichts von außen zu ersetzen, sie enthüllen einem nur immer mehr und immer beglückender ihren Sinn. Zu wissen, daß ein Erlöser einst dagewesen ist, bleibt das höchste Gut eines Menschen; dies alles mit einemmal wegwerfen zu wollen, zeugt von großer Unfreiheit, von einer Sklaverei des Geistes durch unsinnige demagogische Einflüsse, ja, und es ist schließlich nichts wie Renommage!‹12 Er warf einen Blick in das Buch [201] und las ein Kapitel daraus, legte es aber trotz aller Freundschaft für die ihm und seinem Hause so nahestehende Verfasserin bald beiseite: erstlich lese er überhaupt keine von Frauen geschriebenen Bücher, sodann aber sei diese ganze Art des Philosophierens ihm unangenehm. Schließlich seien es doch im philosophischen Sinne Materialisten: von Schopenhauer entnähmen sie die Ethik, das erste Buch aber verstünden sie nicht.

Immer wieder lenkte sich sein durchdringender Blick in dieser göttlichen Zeit der Entstehung des ›Parsifal‹ auf die, den tiefsten Untergrund seines Werkes bildende, aus ihm sich offenbarende, ›theologisch entstellte‹ Gestalt des Erlösers. Es war um die Mitte Mai, an einem der von Wolzogen in Wahnfried verbrachten Abende, daß der ganze dritte Akt des Wertes, nach einiger Zwischenzeit, wieder am Klavier durchgegangen wurde. Der Meister hatte zuvor an Kopfweh gelitten, aber das gewaltige Vorüberziehen der erhabenen Vorgänge dieses Aktes ihm die Kopfschmerzen verscheucht; seine Stirn leuchtete, sein Auge strahlte. ›Heute ward mir‹, so begann er, ›das Mysterium unseres Jesus so recht wieder klar. Man könnte meinen, es habe ja doch so viele Märtyrer und Heilige gegeben, warum sollte gerade Jesus der Göttliche unter ihnen sein? Aber alle jenen heiligen Männer und Frauen wurden es erst durch göttliche Gnade, durch eine Erleuchtung, eine Erfahrung, eine innere Umkehr, die sie aus sündigen Menschen zu Übermenschen werden ließ, die uns nun beinahe wie unmenschlich berühren. Auch Buddha war ein wollüstiger Prinz mit seinem Harem, bevor ihm die Erleuchtung kam: es war sittlich groß, erhaben von ihm, aller Weltlust zu entsagen, aber es war nicht göttlich: Bei Jesus dagegen ist von Anfang an völlige Sündenlosigkeit ohne jede Leidenschaft, göttlichste Reinheit von Natur, und dabei erscheint es doch nicht – wie man denken könnte – als etwas »Interessantes«, oder gar als etwas Unmenschliches, sondern diese reinste Göttlichkeit ist gänzlich von reinster Menschlichkeit, die uns durch Leiden und Mitleiden allgemein menschlich ergreifen muß, – eine unvergleichlich einzige Erscheinung.‹ Und er schloß mit dem unvergeßlichen Satze: ›alle andern brauchen des Heilandes. Er ist der Heiland‹.13 Doch freilich, fügt der Erzähler von sich aus hinzu, es gehörte zu solchen Worten auch der ganze Mann, seiner Stimme Ton und Akzent, sein sprechendes Auge, die Lebendigkeit all seiner Gebärden, der furchtbare Ernst, die tiefe bebende Ergriffenheit seines ganzen Wesens. ›Man konnte in solchen Augenblicken unmittelbar empfinden, wie bei Wagner das Empfundene und Geschaute gleich ein lebendiges Ganzes, ein durchaus körperlich Wirkliches, ein Kunstwerk ward. Was man aus der Erinnerung als »sein Wort« mitzuteilen [202] sucht, bleibt immer ein Stückwerk, künstlich erst wieder nach der Art unserer gewöhnlichen Buchrede zusammengeflickt. Es blieb niemals beim bloßen Worte: die Musik dazu klang aus der Tiefe des Gemütes, dem dieses Wort entquoll, geheimnisvoll mit darein.‹14

Der 22. Mai nahte heran und mit ihm die mancherlei Vorbereitungen für eine würdige Feier des Tages. Wiederum war für diesen Zweck nach den Angaben der Gemahlin des Meisters ein völlig intimes zartempfundenes ›Maienfestspiel‹ durch Wolzogen ausgeführt und von den Kindern des Hauses seit einem vollen Monat einstudiert worden; wozu dann Rubinstein am Flügel die dafür aus den Werken zusammengestellte Musik übernahm. Gelegentlich des Weihnachtskonzertes, als der neunjährige Siegfried seinen Platz an dem Podium einnahm, an welchem der Meister dirigierte, hatte dieser einmal mit heiterer Befriedigung davon gesprochen, daß er ihn an seinen Stiefvater Geyer erinnere; da nun das Lenbachsche Portrait von Frau Wagner die Hauptüberraschung bildete, war ihm im diesmaligen Festspiele, in phantasievoll schöpferischer Anknüpfung an jene, vom Meister empfundene Ähnlichkeit, die Rolle des Malers übertragen worden, der im Gewande und in der Frisur Ludwig Geyers vor dem Gemälde sitzend, im schwarzsammetnen Kittel und Barett, die letzten Pinselstriche daran machte, den übrigen Geschwistern aber die weiteren Personen der dafür erfundenen sinnreichen kleinen Handlung zuerteilt (ein Pilger, Michel, Webia). Da wir dieses zweite Maienfestspiel in der Handschrift nie vor Augen gehabt haben, können wir den Inhalt desselben nicht, wie beim ersteren, ausführlicher mitteilen; die eingehendere Wiedergabe jenes früheren möge daher auch zugleich für den Ton und Ausdruck des späteren ein Beispiel sein. Um aber zu dem sinnig gemütvollen Ernst auch noch dem freiesten Humor und der anmutigsten Grazie ein offenes Feld zu lassen, war außerdem noch eine Pantomime mit Tanz auf das Geburtstagsprogramm gesetzt, zu deren Einstudierung der bewährte und ergebene Ballettmeister Fricke aus Dessau rechtzeitig berufen worden war. An zwei verschiedenen Orten hat sich dieser treue Mitarbeiter ausführlich über seine Mitwirkung an dieser häuslichen Festlichkeit vernehmen lassen.15 Wir folgen daher in den nachstehenden Details seinen eigenen Angaben, wonach sich in dieser Angelegenheit schon im Januar 1879 ein ›sehr lebhafter Briefwechsel‹ zwischen ihm und der Gemahlin des Meisters entsponnen habe. Am 13. Mai traf er in Bayreuth ein, in der Absicht daselbst bis zum Geburtstage verborgen zu bleiben; doch ward diese Absicht gleich am ersten Tage zunichte: [203] als er von der Konferenz mit Frau Wagner in die Stadt ging, begegnete er dem Meister und mußte allerlei ›Notlügen‹ vorbringen, um seine unerwartete Anwesenheit zu motivieren ›Wagner merkte nichts oder wollte nichts merken.‹ Frickes Aufgabe war die Einstudierung der erwähnten Pantomime mit anschließendem italienischen Tanz. ›Eine Schulstube in Sorrento‹, so erzählt er selbst, so wurde das Ding getauft; ich stellte den Schulmeister vor und wählte dazu die Maske des Dottore Balanzoni di Firenze, einer stehenden Figur des römischen Karneval. In einer Zwischenstunde, in welcher der pedantische Magister sich auf einige Zeit entfernt, werfen seine Schüler die Bücher und Hefte beiseit und beginnen eine Tarantella Sie werden von dem Zurückkehrenden überrascht, der entrüstet schon zur Rute greift, als die älteste Schwester Daniela (als ›Colombine‹) mit einem Korb Rosen – für des Meisters Büste bestimmt – in den Raum tritt und ihn, immer pantomimisch mit dem Hinweis auf die Büste bedeutet, daß ja heute des Vaters Geburtstag gefeiert werde (die Musik, von Rubinstein am Klavier ausgeführt, deutet dies ihrerseits durch die Beethovenschen Klänge an: ›des Königs Namenstag ist heute!‹), sie beschwichtigt seinen Zorn und nötigt ihn endlich schmeichelnd dazu mit ihr in den Tanz einzutreten, der sich jetzt immer lebhafter entwickelt und mit einer Gruppe zu des Meisters Füßen abschließt.16 Von dieser Pantomime allein mit ihren mannigfachen Evolutionen fanden nach Frickes Angaben in den acht Tagen seiner Anwesenheit bis zum 22. im ganzen zehn geheime Proben statt und dem besonderen Zwecke seines Aufenthaltes wurde nicht weiter nachgefragt, so daß er ungezwungen in Wahnfried sich zeigen, gelegentlich am Whist teilnehmen oder an den gleichmäßig fortgesetzten täglichen Besuchen der Angermannschen Wirtschaft teilnehmen durfte. Hier erfreute sich der Meister des Anblickes der hübschen kräftigen Gestalten, von denen er einmal mit Befriedigung sagte: ›das ist doch keine untergehende Rasse‹.

Noch am Vorabend ging in den Nachmittagstunden die letzte, gleichsam General-Probe von Festspiel und Pantomime vor sich, um die jungen Darsteller, die mit Leib und Seele bei ihrer Aufgabe waren, in steter Übung zu erhalten. An demselben Datum des 21. Mai waren auch mehrere zur Feier des Festtages angemeldete Gäste eingetroffen, von Wien aus Fürst Rudolf Liechtenstein17 nebst Gemahlin; aus Berlin Gräfin Schleinitz mit Frau v. Wöhrmann. Es war endlich ein warmer Tag und ein herrliches Gewitter fegte für den kommenden Tag den Himmel gründlich aus; mit den Freunden ward in Wahnfried ein recht hübscher Abend verbracht. Der 22. Mai fiel wieder einmal, wie vor sechs Jahren,18 auf den Himmelfahrtstag: Glockenklang und [204] heiterstes Wetter leiteten ihn ein, und letzteres hielt auch wirklich noch eine volle Woche darüber hinaus an, so daß man glauben konnte, der Bayreuther Sommer habe endlich, und zwar mit diesem Tage, seinen Einzug gehalten. Die liebevollst vorbereiteten Überraschungen glückten wundervoll, um 10 Uhr begann das Festspiel und ging in seinem ganzen Verlauf, mit all seiner Zartheit und rührenden Empfindung wie ein Traum an dem Gefeierten vorüber. Nach Beschluß desselben zog sich der Meister zurück und übernahm seine Gemahlin den Empfang der angereisten Gratulanten, zu denen sich von München her auch Lenbach und Levi eingefunden hatten, so daß die Mittagstafel einen Kreis von 14 Personen umfaßte, während gleichzeitig Wolzogen der ›Bayreuther Kolonie‹, Jägers und Rubinstein, das Diner gab. Das Hoch auf seinen Vater war Siegfried zuerteilt worden; dann ergriff dieser den Dirigentenstab und die Geschwister stimmten unter seiner Leitung den – ebenfalls seit Wochen auf das sorgfältigste einstudierten – ›Gruß der Getreuen‹19 an, mit einem, der gegebenen Veranlassung angepaßten neuen Tert. Gegen 6 Uhr trat der Meister, nachdem er inzwischen geruht, seinen gewöhnlichen Gang zu ›Angermann‹ an, diesmal in Begleitung der Freunde Liechtenstein, Levi und Lenbach; als er dann allein nach Hause zurückkehrte, erwartete ihn die Aufführung der Pantomime. ›Wagner war gegen Abend‹, so berichtet Fricke, ›wie gewöhnlich von Angermann gekommen; er war von der Vorführung hoch überrascht und unter Tränen und Lachen küßte er uns der Reihe nach ab. Als um 9 Uhr die Festgäste: Frau von Schleinitz, Fürst Liechtenstein und Gemahlin, Maler Lenbach, Kapellmeister Levi, die Wolzogensche Familie, Tenorist Jäger und Frau, sich versammelt, bat mich Wagner, das Festspiel noch einmal zu wiederholen. Es erregte große Heiterkeit und fand allseitige Anerkennung.‹20 So nahm der Tag seinen Abschluß, dessen würdige Feier mit so viel Liebe seit Wochen vorbereitet war. Von den Freunden war bloß Lenbach genötigt, gleich am folgenden Morgen abzureisen; die übrigen blieben noch vereinigt, um das eben vollendete große Werk in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen zum erstenmal zu vernehmen. Am Vormittag wurde der erste Akt durchgegangen, aber ohne den Meister, der bloß zum Ende desselben erschien, um im Anschluß daran mit seinen Gästen gemeinschaftlich das Mittagsmahl einzunehmen; um 6 Uhr zweite Zusammenkunft für den zweiten Akt. Dieses Mal war Wagner nicht allein selbst im Freundeskreis anwesend, sondern er ließ sich sogar hinreißen, selbst durch seinen unvergleichlichen, die geheimsten Tiefen offenbarenden Gesangsvortrag sich an der Vorführung zu beteiligen, ein unvergeßlicher Eindruck für die dadurch Beglückten und Geehrten! Immer daran gewohnt, aus der Fülle zu spenden, hielt er auch diesmal, obwohl in jedem Sinne der Schonung bedürftig, mit seinen Kräften[205] nicht zurück und hatte infolgedessen eine sehr unruhige Nacht. Anderen Morgens, um 1/211 Uhr, versammelten sich die Freunde noch einmal zum dritten und letzten Akte, an dessen Schluß der Meister persönlich erschien, um inmitten der tiefsten Ergriffenheit aller durch das soeben Erlebte von, Frau von Schleinitz Abschied zu nehmen. Zu Mittag war er diesmal mit der Familie allein; nachmittags die noch übrig gebliebenen Freunde mit den Kindern einen Spaziergang durch die schöne alte Lindenallee nach Eremitage, wohin er ihnen dann mit seiner Gemahlin im Wagen folgte. Es war ein herrlicher Abend und ein heiteres Zusammensein, erst in Eremitage selbst und dann noch bis zu vorgerückter Stunde in Wahnfried. Der Meister ließ die prächtigen Rembrandtgläser bringen, die mit zu den Geburtstagsgeschenken gehörten und mit denen im Festspiel zwei Personen (Michel und der Pilger) angestoßen hatten. Es wurde auf ein Wiedersehen getrunken und ein herzlich freundlicher Abschied von Liechtensteins, Levi und dem wackeren Fricke genommen Letzterer, der den ›Parsifal‹, worin er am choreographischen Teil anordnend mitwirken sollte, soeben erst kennen gelernt hatte, erhielt zum Andenken ein Exemplar der Dichtung, in das er die scherzhafte Widmung geschrieben hatte: ›Ganz besonders gedichtet, komponiert und mit scheinbarem Ballett versehen für seinen allerbesondersten Freund und Coadjutor R. Fricke.‹ Tags darauf (25. Mai) ging der allgemeine Aufbruch ohne die Assistenz des Meisters vor sich, der nur auf seine Erholung und Ausspannung bedacht sein mußte und trotz eines leichten Gewitterregens, der nachher die Sonne um so strahlender hervortreten ließ, den ganzen Tag, wie auch die ihm zunächst folgenden, ausschließlich im Garten verbrachte. Die Anstrengung des Gesanges, die er sich für die Freunde auferlegt hatte, war doch nicht ohne üble Nachwirkung geblieben; diese zeigte sich wiederum in einem leichten Blutauswurf aus der Kehle, und Dr. Landgraf empfahl daher die beabsichtigte Kur etwas später zu beginnen. In der Tat trat auch allzubald wieder grauer Himmel und rauhes Wetter ein, für den Beginn der Kur mit ihren regelmäßigen Frühspaziergängen wenig geeignet.

Und doch hatte er unter diesem Aufschub zu leiden. Unruhige Nächte machten ihm zu schaffen; geringe Diätfehler zogen oft wilde Träume und anhaltende Beängstigungen nach sich und trübten die Stimmung; es kam mehr als einmal vor, daß er wegen Ermattung durch Mangel an Nachtruhe morgens im Bade einschlief Seine Züge waren gefurcht und er sah angegriffen aus, wiewohl er auch zu solchen Zeiten die ihm verliehene göttliche Gabe ureigenen Humors nicht verlor. An einem schönen Abend, als das Laub des Gartens ausnahmsweise wieder von der Sonne vergoldet war und die Amseln schmetterten, sagte er plötzlich bei einem Spaziergang in der Allee vor dem Hause: ›man empfindet es nicht genug, daß alles grün ist: man sollte in Dankeshymnen ausbrechen, Jakchos und alle guten Geister bejubeln‹. So [206] wurde denn eines Tages, unter prompter Benutzung günstiger Witterungsaussichten für den kommenden Tag, ein längst geplanter Ausflug mit der ganzen Familie in die fränkische Schweiz anberaumt Schnell ward das dafür Nötige gepackt; in der Frühe stand der Wagen vor der Tür und wurde fröhlich bestiegen, während der Meister selbst in heiterster Laune die Arie des Olivier aus ›Johann von Paris‹ dazu anstimmte: ›begibt mein Herr sich auf die Reise, so ist es prächtig anzusehn‹. Über Pegnitz und Pottenstein ging es weiter nach dem romantischen Gößweinstein. Am letzteren Orte ward in einer kleinen ländlichen Wirtschaft ein heiteres Mahl eingenommen; dann ging es auf schönen Wald wegen am Ufer der Wisent, teils zu Fuß, teils zu Wagen nach Muggendorf, wo ein herrlicher Abend ihrem Einzug leuchtete. Es freute ihn, mit seiner Gemahlin auf dem Mittelbalkon des Gasthauses stehend, die Köpfe der Kinder hintereinander aus den Fenstern der von ihnen eingenommenen Zimmer blicken zu sehen. Trotz ungenügender Betten und Kopfkissen und des Mangels der gewohnten häuslichen Bequemlichkeiten verbrachte er dennoch eine gute Nacht; um 1/29 Uhr früh erfolgte der Aufbruch unter beständiger Freude an der lieblichen Gegend, den üppigen Wiesen, nach Bayreuth. Ein besonderes Abenteuer dieses Ausfluges war die Begegnung mit einem armen Krüppel, der, zum Unglück auch noch einäugig, mit seinem Handwerkszeug auf dem Rücken, zu Faß nach Streitberg wanderte, um daselbst Schuhe zu flicken. Es war für ihn jederzeit eine Unmöglichkeit, etwas zu genießen und dabei einen solchen Anblick zu erleben, ohne irgendwie erleichternd und fördernd einzugreifen. Er gab dem Armen, der ihn wie aus einem Märchen heraus anblickte, ein reichliches Almosen, mit dem Wunsche, daß er wiederum jemand finde, der ihm weiter helfe. Umsomehr freute es ihn andern Tages auf dem Rückweg über Streitberg den Armen wiederzusehen und wahrzunehmen, daß sein Segenswunsch ihm genützt, indem ein Bauer ihn auf seinen Wagen genommen und so weiterbefördert habe. Um 1/24 Uhr war man wieder in Bayreuth und der Abend schloß mit einem Zusammensein in Wahnfried mit Wolzogen und Rubinstein, wobei letzterer auf den Wunsch des Meisters die Anwesenden durch den Vortrag des wundervollen Adagios aus dem D dur-Quartett von Haydn entzückte.

Kurze Zeit darauf trat wieder das, nach seinem eigenen Ausdruck ›grausige‹ Regenwetter ein, wobei es denn einstweilen auch blieb, trotz größter Sehnsucht nach einer Änderung zum Besseren; abendliche Whistpartien, durch Liszt (S. 82) in Wahnfried eingeführt, mußten gelegentlich – so gut es ging – über diese Kalamität hinweghelfen. Dazu kam manches Ärgerliche im Hause und außerhalb desselben: im Hause selbst durch die sehr unerfreuliche Erfahrung davon, daß der Gärtner und dessen Frau, seit vier Jahren in seinem Dienst, sich des in sie gesetzten arglosen Vertrauens unwürdig erwiesen, so daß seine Entlassung durchaus unvermeidlich war; außer [207] dem Hause durch einen jener, ihm ebenfalls seit Jahren bekannten Erpressungsversuche, diesmal durch einen Würzburger Musikalienhändler ausgeübt, der das Manuskript des Jugendwerkes ›die Hochzeit‹,21 nachdem es ursprünglich vor langen Zeiten durch üble Vernachlässigung in seinen Besitz gelangt und mehr als vierzig Jahre von ihm verborgen gehalten war, anstatt anständigerweise zuerst mit dem noch lebenden Autor in Fühlung zu treten, durch ein Inserat in den Musikzeitungen öffentlich zum Verkauf ausbot. Ein kategorisches Telegramm, durch welches er selbst sich zum Ankauf bereit erklärte und die Preisbestimmung erwartete, blieb unbeantwortet; auf eine briefliche Anfrage Wolzogens ward dieser Preis auf 5000 Mark festgesetzt, so daß der Meister, über diese Forderung empört und um sich nicht einer rücksichtslosen Ausbeutung preiszugeben, sich genötigt sah, zur Wiedererlangung seiner Handschrift den Prozeßweg zu beschreiten. Der Verlauf des Prozesses zog sich in die Länge, dann erfolgte als Schlußergebnis – die Freisprechung des Beklagten und die Verurteilung des Klägers in die Prozeßkosten!! Dieser Zwischenfall war eines der ersten, noch von ihm selbst erlebten Beispiele des späterhin mit seinen Handschriften getriebenen Autographenschachers, mit seinen immer höher hinaufschnellenden Luxuspreisen für die geringsten schriftlichen Dokumente aus den bittersten Tagen der Not und Entbehrung, die er während seines ganzen Lebenslaufes um seiner Kunst willen durchgemacht und in denen er, um dessen Erhaltung sich niemand kümmerte, mit jedem von ihm beschriebenen Blättchen Papier Luxuswerte für ferne Zeiten geschaffen hatte. Nicht minder aber ein Beispiel für die sorgliche Geheimhaltung solcher Dokumente, von deren Vorhandensein er, den sie am nächsten angingen, um keinen Preis etwas erfahren durfte!22 Weder er noch einer seiner, Freunde hatte z.B. die leiseste Ahnung davon, daß seine älteste poetische Schöpfung, die frühjugendliche ›Leubald‹-Tragödie, das ›große Trauerspiel‹, dessen er humoristisch in seiner ältesten Autobiographie von 1842 gedachte23 und dessen Handlung er noch Ende der sechziger Jahre seiner Frau aus dem Gedächtnis erzählen konnte,24 ebenfalls im Privatbesitz erhalten war und erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tode wieder auftauchen sollte, nachdem es inzwischen einer gewissenlosen Spekulation gelungen war, dasselbe mit glücklichem Spürsinn aufzufinden, es als gleichsam herrenloses Gut anzukaufen und wiederum heimlich, ohne jede Mitteilung an die Angehörigen, in ein anderes Land zu entführen Welche eigentümliche, ganz unvergleichliche Freude hätte es ihm in dieser späten Zeit bereitet, einen Blick in seine ersten [208] Anfänge tun und das Manuskript seiner Frau für ihr, mit Liebe gepflegtes Hausarchiv überreichen zu dürfen!

Wir holen hier, bevor wir zu Weiterem übergehen, in kurzem Rückblick noch den Bericht über die verschiedenen auswärtigen Aufführungen des ›Ringes‹ oder einzelner Teile des großen Werkes nach. Mit einer Gesamtaufführung aller vier Stücke als Zyklus hatte im November des Vorjahres München den Vortritt genommen (S. 159); es folgten Leipzig und Wien. Die erste Leipziger Aufführung war genau zu dem dafür angesetzten Termin, zu Beginn des Jahres (3., 4., 6., 7. Januar) programmäßig vor sich gegangen; aber unter höchst ungünstigen lokalen Verhältnissen, da gerade Theaterorchester und Direktion in offener Fehde miteinander lagen und die Darsteller durch anderweitige Repertoireanforderungen übermüdet waren.25 Unter diesen Umständen hatte die zweite Leipziger Gesamtaufführung (25., 26., 28. Februar, 2. März) vieles einzuholen und gutzumachen, was denn auch reichlich geschah; worauf am 19., 20., 22., 23. April die dritte Gesamtaufführung folgte. Das Leipziger Darstellungspersonal bewährte sich dabei so tüchtig, daß dem tatkräftigen Unternehmer bereits damals der schon früher gefaßte und von Wagner gebilligte Gedanke wieder aufkam, mit demselben ein großes Gesamtgastspiel in der Reichshauptstadt zu veranstalten. Natürlich nicht in dem, unter Herrn v. Hülsens Leitung stehenden Kgl. Hofopernhause, sondern etwa am Viktoriatheater, wie es denn auch – zwei Jahre später – wirklich geschah. Eine eingehende briefliche und telegraphische Korrespondenz darüber zwischen Angelo Neumann und dem Meister fällt mit ihren letzten Ausläufern in die Zeit vom 15. Januar bis gegen Mitte März.26 Im wesentlichen handelte es sich um die Schwierigkeit, nicht allein das Sängerpersonal, sondern auch das vollkommen einstudierte Orchester mit nach Berlin zu bringen. Neumann wünschte hierfür mit allerlei Auskunftsmitteln sich zu helfen, die der Meister unmöglich sanktionieren konnte. ›Ihr volles Ensemble, auf einer durchaus entsprechenden Berliner Bühne, dort wirken zu lassen, – dies hatte meinen Beifall. Ein mühsames Simulakrum (wie etwa mit dem hierfür erst neu einzustudierenden Bilseschen Orchester) müßte mir geradesweges unsinnig vorkommen und könnte unmöglich zugelassen werden. Es ist ganz unmöglich ein Berliner – noch so gutes – Symphonieorchester, ohne die Sänger und in gewiß nur kurzer Zeit, zu einer gleich guten Leistung zu bringen; gewiß würde es, sollte [209] dies durch unzählige, für die eingeübten Sänger höchst lästige Proben, dazu gebracht werden, ungeheure Kosten machen. Dies – und alles in allem – da sich überhaupt schon nur Schwierigkeiten zeigten, bin ich der sehr bestimmten Meinung: Sie bleiben stolz in Leipzig und lassen das Berliner Publikum zu sich kommen.‹27 Inzwischen hatte am 13. Januar Braunschweig auf das ›Rheingold‹ die ›Walküre‹ folgen lassen, Wien am 14. Februar in Gegenwart des ganzen kaiserlichen Hofes zum ersten Male die ›Götterdämmerung‹ gebracht, Köln am 15. Februar das ›Rheingold‹, welches bis zum Mai nicht weniger als 18 Wiederholungen erlebte. In warmer Weise sprach er dem Kölner Direktor Ernst seine Anerkennung dafür aus: ›Sie erfreuen – ja Sie überraschen mich fast durch die, auch von Ihnen direkt mir zukommenden Zeugnisse für die Größe des Erfolges, welchen Sie Ihrem Theater durch die Aufführung des »Rheingold« bereiteten. Bitte, fahren Sie so fort und zeigen Sie dem so interessanten niederdeutschen Lande, in dessen Mittelpunkt Sie mit Köln sitzen, was wir vermögen, wenn wir uns ernstliche Mühe geben.‹ Bereits am 15. März erfolgte dann der nächste Schritt auf der betretenen Bahn mit der ersten Kölner Aufführung der ›Walküre‹, die von jetzt ab (29., 30. März, 1., 2. April usw.) mit dem ›Rheingold‹ an zwei aufeinanderfolgenden Abenden daselbst gegeben wurde. Daran schloß sich am 13., 14. April das unter Heckels Leitung stehende Theater zu Mannheim. Die zweite Mannheimer Doppelaufführung am 19., 20. April fiel bereits mit den beiden ersten Festtagen der dritten Leipziger Gesamtaufführung zusammen; die dritte auf den 3., 4. Mai. Fast an alle Vorgänge knüpfte sich dann auch ein lebhafter Telegrammwechsel, der ihn über den jedesmaligen Erfolg auf dem laufenden erhielt: ›Glückwunsch und herzlichen Gruß allen Freunden und Genossen der Mannheimer Nibelungentage!‹ oder: ›So lohnt sich alle Tugend! Heckel heraus! Fischer Tusch! Was will man mehr? –‹ so lauteten seine aufmunternden Gegengrüße nach Mannheim. An der Spitze des Mannheimer Orchesters stand nämlich der dem Meister stets sympathische Franz Fischer, einst als junger Musiker ein feuriges Mitglied der ›Nibelungenkanzlei‹ und nun stolz erfreut über die ihm gebotene Gelegenheit, seine Tüchtigkeit und musikalische Gediegenheit zu bewähren. Ruhmgekrönt erschien er kaum vierzehn Tage später mit seinem ›Wotan‹ – Fritz Planck – in Bayreuth, wo der Meister das würdige Paar von einem seiner Nachmittagsspaziergänge im Hofgarten mit heimbrachte und sich an dem wuchtigen Naturell und der kräftigen Stimme des jungen Sängers erfreute. Fügen wir noch hinzu, daß am 26. März auch Hamburg in einer von 6–11 Uhr dauernden, nur wenig gekürzten Aufführung das letzte der vier Stücke, die ›Götterdämmerung‹ gebracht und somit die letzte Etappe zu einer zyklischen Gesamtaufführung zurückgelegt, und Braunschweig den beiden ersten Nibelungenstücken am 18. Mai [210] auch den ›Siegfried‹ hatte folgen lassen, während Wien dicht vor der ersten Gesamtaufführung stand, für die auf Wunsch des Meisters Jäger als Siegfried engagiert war. ›Hatte ich‹, schrieb er am 19. Mai an Direktor Jauner, ›hatte ich mein wahrhaftes Erstaunen über die Erfolge des gänzlich undotierten und deshalb unbemittelten Kölner Stadttheaters mit jenen Werken freudig kundgegeben und kann ich dem tapferen Ernste der Mannheimer Theaterleitung, welche meine Stücke gänzlich unverkürzt mit vollständigem Erfolge zutage förderte, nicht anders, als meine größte Befriedigung darüber ausdrücken: so mögen Sie mich dagegen für Ihr Verdienst nicht blind wähnen. Verbleibe ich nun auch der Meinung, daß wir im Vertrauen gerade auf das eigentliche Wiener Publikum hier und da in bezug auf den Charakter der Aufführungen noch etwas mehr hätten wagen dürfen, als es Ihnen gewissen Einsprüchen gegenüber rätlich erschien,28 so ändert dies jedoch in meinem Urteile über Ihre Leistungen nichts, und immer bin ich von Bewunderung für Ihren mutigen Eifer und das von Ihnen herbeigeführte Gelingen erfüllt. Daß Sie, als Erster, gerade den Gewohnheiten eines Wiener Opernrepertoires meine Werke erfolgreich einzuführen wußten, bleibt für mich nicht minder erstaunlich, als jedes andere Verdienst um mich.‹ In diesem Sinne erfreute er sich dann, mit aller gebührenden Resignation, auch der am 26., 27., 28., 30. Mai in der österreichischen Kaiserstadt stattfindenden ersten Aufführung des ›Ring des Nibelungen‹ in all seinen vier Teilen, von der ihm Jauner im Namen aller mitwirkenden Künstler die begeistertesten Grüße übermittelte. Nur von Einzelheiten dieser Aufführungen wollte er nach wie vor nichts hören. Er erneuerte immer wieder seine Mahnungen, sie stets auf einem bedeutenden Fuße zu erhalten, ja sie immer mehr zu veredeln;29 er freute sich darüber, daß durch den bevorstehenden Abgang Suchers aus Leipzig sich eine Aussicht für Seidl eröffnete, als dessen Nachfolger die dortigen Aufführungen noch bestimmter in seinem Sinne zu leiten; er hielt es für einen schädlichen Irrtum und eine große Gefahr, wenn Neumann es versuchte, auf einem Alternieren zweier Dirigenten für diese Aufführungen zu bestehen;30 er war befriedigt, Jäger in Wien [211] als Siegfried wirkend zu wissen: aber dies alles war nichts mehr oder weniger als Pflicht und künstlerische Gewissenssache! Als hingegen in den ersten Junitagen Wolzogens und Jägers nach der ersten Wiener Gesamtaufführung von dort zurückkehrten, war es ihm eher peinlich als erfreulich, durch ihre Mitteilungen aus seiner eigenen Welt gerissen zu werden und von diesen oder jenen Einzelheiten der Wiener Aufführungen vernehmen zu sollen. Er war soeben unter vielem Vergnügen daran mit Carlyles Geschichte der französischen Revolution beschäftigt und hatte dazwischen mit lebhaftem Interesse einen Blick in seine eigenen, soeben in Abschrift erhaltenen Briefe an Uhlig geworfen (S. 200): die Wiener Herrlichkeiten, die noch dazu auf der Grundlage einer Verstümmelung seiner Werke vor sich gingen, lagen ihm fast ebenso fern, wie damals (1849 und 1850) der von Liszt – und Minna – ersehnte Erfolg in Paris!31

Wollen wir hoffen? Dies blieb nach allen Richtungen die Frage, die für ihn nur eine Lösung im weitesten und größten Sinne zuließ. ›Mögen meine Freunde‹, so hatte er in jenem Zusammenhang seine Gedanken beschlossen, ›sich namentlich auch über mich nicht täuschen, wenn ich ihnen jetzt mit Geduld und Ausdauer vorausschreite. Daß ich selbst die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, bezeuge ich dadurch, daß ich die Musik zu meinem »Parsifal« vollenden konnte. Viel, viel aber liegt noch vor mir, was sich nach meinem Gefühle zwischen die Ausführung meines Werkes und dessen Darangebung an die Öffentlichkeit drängt. Gerade daß unsere Kräfte jetzt im Wachsen begriffen sind, gibt es mir ein, voreilige Versuche, denen noch kein dauernder Erfolg zugesprochen werden kann, fernzuhalten.‹ Nicht alle Leser der ›Bayreuther Blätter‹ konnten damals ein klares Verständnis für den Sinn dieser Worte haben; den meisten damaligen Angehörigen des Patronatvereines durfte es an sich gewiß ziemlich gleichgültig sein, ob die Aufführung des Weihefestspieles i. J. 1880 vor sich ging oder etwas später. Nicht so dem Meister selbst, der sich in jedem Sinne durch den ›Münchener Kontrakt‹ vom Frühjahr 1878 gedrückt und beengt fühlte War er damit den allernächsten drängenden Sorgen für das Defizit enthoben, so war andererseits sein erhabenes, eben erst seinem Geiste sich entringendes Werk bereits der Gegenstand gewisser bindender Stipulationen geworden (S. 43)! Hier war Abhilfe zu schaffen und der ursprüngliche kraftvoll reine weithinausschauende Gedanke der Bayreuther Bühnenfestspiele gegen fremdartige äußere Beeinflussungen zu wahren. ›Was mir stets einzig noch am Herzen liegen könnte‹, hatte er in seiner letzten Mitteilung gesagt, ›wäre: ein unzweifelhaft deutliches Beispiel zu geben, an welchem die Anlagen des deutschen Geistes zu einer Manifestation, wie sie keinem anderen Volke möglich ist, [212] untrüglich nachgewiesen und einer herrschenden gesellschaftlichen Macht zu dauernder Pflege empfohlen werden könnten. Ich glaube nahe daran gewesen zu sein, dieses Beispiel hinzustellen: bei nur einigem kräftigen Entgegenkommen des öffentlichen Geistes der Deutschen hätte dieses Beispiel schon für vollkommen deutlich erachtet werden können. Dies hat sich nicht bewährt: denn unser öffentlicher Geist ist in einem herzlosen Erwägen von Für und Wider befangen; es fehlt uns an dem inneren Müssen. Ganz im Gegensatz zu dem recht humanen, aber nicht besonders »weisen« Nathan Lessings erkennt nämlich der wahrhaft Weise als einzig richtig: Der Mensch muß müssen!‹32

Um für eine ruhige Vollendung seines Werkes und zugleich ein Abwarten und allmähliches Herbeiführen günstigerer Verhältnisse die nötige Frist zu gewinnen, hatte er sich in dem verflossenen Frühjahr – Anfang April – noch einmal mit dem Gedanken der, Schule' beschäftigt. Es schwebte ihm vor, mit den vorhandenen Patronatsgeldern, die für eine Aufführung des ›Parsifal‹ bei weitem nicht ausreichten, einstweilen im Laufe des Sommers zwei Monate hindurch Konzerte zu veranstalten, um jungen Dirigenten den Vortrag der klassischen Werke zu lehren. Bei einem abendlichen Zusammensein mit Wolzogens und Jägers legte er ihnen seinen Plan ausführlich dar. Der Weg, um zu seiner Verwirklichung zu gelangen, sollte der allereinfachste sein. Er schlug vor, darauf bezügliche Annoncen in die Zeitungen zu setzen und junge Musiker zur Anmeldung ihrer Teilnahme aufzufordern. ›Stünde es so, daß darauf niemand sich melde, so sei es gut. Er seinerseits könne nur sagen: ich bin bereit.‹ Gegen Anfang Mai traf ein Brief des treuen Heckel aus Mannheim ein, mit einer Einlage von Herrn Friedrich Schön in Worms. Dieser bis dahin dem Meister persönlich unbekannte junge Freund erklärte sich bereit, für den Zweck der ›Schule‹ einen jährlichen Beitrag zu stiften und erkundigte sich in ernster einsichtiger Weise nach der Lage der Dinge. Bald darauf wandte er sich mit der gleichen Anfrage direkt an den Meister, und nachdem auf diese Weise ein Einvernehmen hergestellt war, zögerte er nicht länger damit, ein würdiges Beispiel der Opferwilligkeit zu geben: er zeichnete auf der Stelle den Betrag von 10000 Mark und verpflichtete sich zu einem weiteren jährlichen Beitrag von 500 Mark. Von sämtlichen begüterten Deutschen war er aber buchstäblich der Einzige, der sich zu einem derartigen größeren Opfer bereit zeigte. Und für das laufende Jahr wenigstens war es zu spät geworden. Als Wolzogen daher am 13. Mai den Meister darüber befragte, was in betreff des beabsichtigten Zirkulars zu tun sei, erhielt er die Auskunft: für dieses Jahr sei der Plan aufgegeben; aber er wolle gern, daß junge Musiker aufgefordert würden und mit der Zeit die Schule sich auf diese Weise begründe. In dem Aufsatz ›wollen wir [213] hoffen?‹ aber schrieb er ungefähr um eben diese Zeit die denkwürdigen Worte: ›Dort liegt mein Schulgedanke, hier stehe ich im Angesichte meines siebenundsechzigsten Geburtstages, und bekenne, daß das: »allein ich will!« mir immer schwerer fällt.‹

Wir fahren Schritt für Schritt in der Darlegung der Verhältnisse fort, aus denen das Bayreuther Werk sich hervorrang. Es war in den ersten Junitagen, daß Wolzogen ihm den Text des Zirkulars an die Patrone unterbreitete, enthaltend die Erklärung darüber, daß ›Parsifal‹ im nächsten Jahre nicht aufgeführt werden solle, die Darlegung des Planes der Schule und die Aufforderung zu Beiträgen für diesen Zweck. Der Meister erklärte sich bestimmt gegen die Publikation eines solchen Schriftstückes. Er sei da, und käme man ihm entgegen, so würde er nicht fehlen; er könne sich aber nicht anbieten und verpflichten. Er diktierte nun selbst die sehr bündig abgefaßte Erklärung im Namen des Verwaltungsrates über die Verschiebung der Aufführung; traf dabei aber auf die Schwierigkeit, daß ihm der treffliche Bürgermeister, genau an die Übereinkunft mit München sich haltend, erklärte: der Verwaltungsrat wolle die Note in dieser Fassung nicht unterzeichnen, aus Furcht dem ›Kontrakt‹ zuwiderzuhandeln, der für den eingeräumten Kredit die einzige Grundlage bildete. Da gerade um jene Zeit allerlei den König betreffende Gerüchte, über eine bevorstehende Thronentsagung u. dgl., die geschäftliche Welt erfüllten, hatten die Herren Feustel und Groß erst kürzlich der Koburger Bank, bei welcher der Defizitbetrag aufgenommen worden war, sich gegen deren besorgte Zweifel für eine genaue Einhaltung jenes Vertrages eigens verbürgt. Unter diesen Umständen ward es dem gewiegtesten Kenner sämtlicher hier sich kreuzenden Interessen, Adolf Groß, übertragen, die doch allseitig für notwendig erachtete Anzeige selbst zu redigieren. Das von ihm entworfene Konzept konnte aber wiederum der Meister nicht sanktionieren, weil darin bestimmt das Jahr 1881 als Aufführungsjahr angenommen war und er sich dafür in keiner Weise binden wollte. Inzwischen war viel Zeit vergangen, und nicht fruchtlos. Einerseits hatte sich seine Gemahlin wegen eines neuen Kontraktpunktes an Herrn von Bürkel in München gewandt, der Meister selbst aber dem Könige in einer ausführlichen brieflichen Mitteilung zur Kenntnis gebracht, er möchte sein neues Werk erst dann aufführen, wenn ein Fonds vorhanden sei, aus dessen Zinsen alle drei Jahre Aufführungen erzielt werden könnten. Er war sehr befriedigt dies getan zu haben, als hätte er sich eine schwere Last vom Herzen gewälzt. ›Ich muß‹, so lauten seine eigenen an den König gerichteten Worte, ›den zu dem sogenannten Patronatfonds Beisteuernden jetzt als Ehrenmann ganz unerläßlich anzeigen lassen, daß im nächsten Jahre unmöglich bereits eine Aufführung des »Parsifal« stattfinden kann, und demgemäß es Denjenigen, welche nur für diese Aufführung ihre Beiträge entrichtet haben, freistellen, dieselben zurückzufordern. [214] Mein Verwaltungsrat trägt zwar immer noch Bedenken, diese Erklärung zu erlassen, und zwar aus der Befürchtung, es könne hieraus eine Störung der kontraktlichen Bedingungen erwachsen, unter welchen uns von seiten unseres Allergnädigsten Herrn, unter Vermittelung durch die Hoftheater-Intendanz, die Möglichkeit der Abtragung des auf den früheren Bayreuther Bühnenfestspielen lastenden Schuldenkomplexes gewährt worden ist. So gewiß nun die Aufführung des »Parsifal« nur als Anhang zu jenen Stipulationen hinzugezogen worden ist und in keiner Weise einen integrierenden Teil des Kontraktes bildet, sondern der bezügliche Punkt nur meine Verpflichtung enthält, den »Parsifal« keinem Theater eher, als dem Münchener Hoftheater, zu überlassen: so vermeinen doch meine Verwalter, es wäre korrekter, wenn jenem Kontrakte eine Erklärung beigefügt würde, welche das Datum der ersten Aufführung des neuen Werkes einzig meinem Gutachten überließe. Ich ersuche meinen Allergnädigsten Herrn und erhabenen Wohltäter, zu dieser gewünschten kleinen Modifizierung huldreichsten Auftrag zu geben.‹

Zwischen all diesen Schritten war das stehende Gespräch in Wahnfried immer, wie einst nach dem Mißglücken aller Hoffnungen auf das Londoner Festival, der Gedanke einer Auswanderung nach Amerika oder eines großen Unternehmens daselbst, um die ewige Qual der Nachwirkungen des Defizits loszuwerden. Der bloße Gedanke daran und die Ausmalung seiner Durchführung erwies sich jedesmal als ein Heilmittel aus dem Innern heraus, zur Wiederherstellung der bedrohten Freiheit. ›Nicht einen Schimmer von Hoffnung habe ich‹, rief er bei solcher Veranlassung aus, ›nichts, woran ich eine Hoffnung anknüpfen könnte! Das, wovon ich lebe, ist die Popularität meiner Werke‹ (er hatte soeben die Tantiemen aus Wien erhalten, und es stellte sich heraus, daß ›Lohengrin‹ darunter die meiste Anziehungskraft ausübte) ›und gerade von ihr muß ich mich mit Ekel abwenden.‹ Es wurde die Frage diskutiert, ob die Kinder zu dieser Reise über den Ozean mitzunehmen seien, andrerseits ob sie überhaupt zurückkehren sollten oder nicht? Nein, die Kinder sollten nicht mit, damit im Falle eines Unglücks nicht alles unterginge. Es sollte so viel bei dem Unternehmen gewonnen werden, um das Defizit zu zahlen und etwas zurücklegen zu können, dann aber auch nichts mehr nach außen hin zu tun; den ›Patronen‹ aber ihr Geld zurückbezahlt werden. Das Durchdenken solcher Möglichkeiten bis in ihre letzten Konsequenzen war das einzige Mittel, um inmitten aller Trübsal wieder zur Heiterkeit zu gelangen. Aus solchen Abgründen der Hoffnungslosigkeit ging dann endlich das vom 15. Juli 1879 datierte, groß und einfach gefaßte Schriftstück im Juliheft der ›Bayreuther Blätter‹ hervor (Ges. Schriften X, S. 36):


›Ich glaube den Mitgliedern unseres Vereines, welche meine Darlegungen unserer Lage verfolgt haben, keine durchaus unerwartete Mitteilung zu machen, wenn ich ihnen heute melde, daß die Aufführung des »Parsifal« im Jahre 1880 noch nicht [215] stattfinden kann. Doch halte ich mich für verpflichtet, diese Erklärung ausdrücklich zu geben, sowohl um Mißverständnisse zu vermeiden, als auch um denjenigen Mitgliedern, welche nur in der Erwartung dieser, für das nächste Jahr projektierten Aufführung, nicht aber aus Übereinstimmung mit der allgemeinen Tendenz desselben dem Vereine sich zugesellt haben, den Austritt, mit dem Anrechte auf Zurückerstattung der bisher gelieferten Beiträge, zu ermöglichen.

Der Vermehrung und Erkräftigung unseres Vereines bleibe es dagegen vorbehalten, mich zu ermächtigen, mit der Bestimmung des Zeitpunktes jener Aufführung zugleich auch die Begründung des, auf periodische Wiederkehr von Bühnenfestspielen abgesehenen Unternehmens zur Kenntnis zu bringen.‹


Gleichzeitig mit der Unterzeichnung dieser Bekanntmachung traf denn auch die prompte Erklärung des Kabinettsekretärs Herrn v. Bürkel ein, wonach der Aufnahme eines, die anberaumte Frist der Aufführung nach dem Belieben des Meisters verlängernden Kontraktpunktes nichts im Wege stünde. Doch war damit die ursprüngliche Fassung noch nicht aufgehoben, laut welcher dem Münchener Hoftheater ein Anspruch auf das noch werdende erhabene Werk zustand. So weit hatte bei jenen schwierig zu ermöglichenden Defizit-Verträgen der Schacher mit ›Äquivalenten‹ für die verlangte materielle Leistung geführt, und nichts hatte der schwer darunter leidende Schöpfer desselben bisher daran ändern können! Das eine wußte er nur, auch dafür würde die Zeit kommen und auch dieser Punkt noch vor der ersten Aufführung auf dem einen oder dem andern Wege seine Erledigung finden, sei es durch die Ermöglichung einer Rückzahlung des gesamten Betrages aus seinen eigenen Mitteln oder durch einen Gnadenakt von seiten des Königs. Ernst und sorgenvoll lautete einstweilen so vie les, was er über den königlichen Herrn und Freund zu vernehmen hatte. Blieb sich dieser in seinen brieflichen Kundgebungen gleich und dem Meister in unverbrüchlicher Verehrung und Hingebung anhänglich, für deren Ausdruck er seit ihrem ersten Verkehr immer den gleichen zart schwärmerischen Ton einzuhalten pflegte: so war doch andererseits bereits alle Welt von seinen überhandnehmenden Exzentrizitäten erfüllt, von seinen Bauten im Versailler Geschmack, von Romanen und Theaterstücken, die er eigens für sich aus der Zeit Ludwigs XIV. schreiben ließe, und den Separataufführungen in seinem Hoftheater. Unwillkürlich mußten seinem großen künstlerischen Freunde, der hiergegen aus der Ferne nichts tun konnte, diese bedauerlichen Geschmacksverirrungen zugleich als eine Verleugnung seiner wahren Aufgabe erscheinen; und neben diesen trüben Gedanken gelangten schon damals Gerüchte, wie die soeben erwähnten, zu seinen Ohren, Gerüchte, die auf ein nicht zu ferne bevorstehendes Ende seiner Regierung hindeuteten. Wohl kam es ihm dann in den Sinn, seine Partitur, nach ihrer Fertigstellung, anstatt sie der Öffentlichkeit zu übergeben, lieber in einen Schrein zu verschließen und sie darin so lange aufzubewahren, bis die Welt so weit sei, daß sie ihrer Aufführung würdig wäre. ›Ich will keinen anderen Festspielen mehr [216] beiwohnen, als den Haus-Festspielen‹, erklärte er in diesem Sinn einmal bei Tische, mit Bezugnahme auf seine letzten Geburtstagsfeiern.

Die Verwirklichung seines Programmes, die Arbeit an der Partitur mit voller Freude daran vorzunehmen, sobald er erst die ihm so nötige Mineralwasserkur durchgemacht haben würde, war inzwischen durch die anhaltende Ungunst des rauhen Bayreuther Klimas immer weiter hinausgeschoben worden. An den Zwischentagen wurden größere Spaziergänge auf der Konnersreuther Straße, oder nach Stift Birken und darüber hinaus in die Wiesen unternommen, deren üppige Feldblumenpracht mit dem vielfarbigen Glanz ihres Gelb, Rot und Blau durch die hohen Gräser wie mit einem rötlich goldenen Schleier verdeckt war. Mit seinem leichten, elastischen Gang vorausschreitend führte er dann wohl die Seinen auf engem Rainpfade durch ein wogendes Kornfeld mit seinem Lerchenjubel, so daß sich ihre Gestalten bei jeder Wendung in dem Ährenmeere verloren. Es war ihm eigen, daß er bei solchem Gange durch ein Ährenfeld an die Person des Heilandes dachte und seinen Gedanken dann wohl auch unvermittelt einen Ausdruck verlieh: ›lange hätte er es nicht machen können bei dem Unverstand seiner Jünger, – es war nur gut, daß er dann und wann zu dem Hauptmann in Kapernaum gehen konnte! Aber seine große Bitterkeit später, die erklärt sich aus seinem Umgang! Er mußte eben seine Idee aussprechen, gleichviel zu wem‹. Oder es wurden Ausfahrten mit Spaziergängen kombiniert: man fuhr gemeinschaftlich bis Ottmannsreuth und genoß den Abend, indem man während eines schönen Sonnenunterganges nach vorheriger Rast im Walde zu Fuß bis nach Wolfsbach ging, wo der Wagen die Gesellschaft zur Heimkehr erwartete: eine noch in späten Tagen in Wahnfried gern eingehaltene Tradition. Wie sehr war ihm diese ganze Bayreuther landschaftliche Umgebung an das Herz gewachsen! Ein anderes Mal beraumte er bei wolkenlosem Himmel und herrlichem Sonnenschein eine Nachmittagsausfahrt zur Waldhütte an, und die Kinder vereinigten ihre frischen Stimmen zu jenen Volks- oder auch Soldatenliedern aus dem siebenjährigen Kriege, wie: ›Schwerin, der hat uns kommandiert‹ oder ›Schier dreißig Jahre bist du alt‹, die der Meister so gern von ihnen hörte. Nach dem letzteren Liede saß er sinnend da, und über seine Gedanken befragt, erwiderte er: ›Sie gingen weit! Wie das Volk doch gut ist! Das »preußische Herz«, wer hat diesen Begriff erfunden? Das Volk! Die der Größe bewährte Treue ist zuweilen mehr wert, als die Größe selbst!‹ Und es erfüllte ihn mit unausgesprochener tiefer Rührung, als dieselben frischen Stimmen auf der Rückfahrt mitten im schönen Walde ganz von sich aus den, erst kürzlich – zu seinem Geburtstage – von ihnen einstudierten ›Gruß der Getreuen‹ in die laue Abendluft hinaus erschallen ließen. Aber immer noch waren die Tage nicht so anhaltend schön, daß an eine Durchführung seiner Kur und alles dessen, was für ihn weiter damit zusammenhing, gedacht werden konnte.

[217] Bei dem von uns erwähnten Besuche Kapellmeister Fischers aus Mannheim hatte er, im Lauf der Unterhaltung, den dringenden Einladungen der Mannheimer Freunde nachgebend, noch die Möglichkeit seines Besuches zu einer für Ende Juli ins Auge gefaßten Mannheimer Gesamtaufführung in entfernte Aussicht gestellt; doch sah er sich in einem Briefe an Heckel vom 3. Juli dazu veranlaßt, dies wieder zurückzunehmen. ›Ob ich Ende d. M. zu Ihnen kommen kann, wird immer zweifelhafter; gerade für diese Zeit melden sich alle diesmaligen Jahresbesuche – z.B. Liszt – bei uns an; auch stehe ich im Beginn einer Brunnenkur, die sich gar sehr hinausziehen dürfte, da die Witterung für jetzt sie gar nicht begünstigt.‹33 Immer erwartend, daß das schöne Wetter endlich eintreten sollte, und an seinem Plan festhaltend, die Aufnahme seiner Arbeit an der Partitur erst in die Periode nach Abschluß seiner Kur zu verlegen, hatte es ihn in seinem Drange nach Betätigung doch nicht ruhen lassen. In dieser Zwischenzeit entstand die dreiteilige Folge von Artikeln: ›Über das Dichten und Komponieren‹, ›über das Opern-Dichten und -Komponieren im besonderen‹, ›über die Anwendung der Musik auf das Drama‹. In dem Reichtum und der Originalität ihrer Gedanken, wie in ihrem dreiteiligen Aufbau läßt sich diese Trias, bei etwas veränderter Reihenfolge des ersten und zweiten Abschnittes, sehr wohl der großen Trias von ›Oper und Drama‹ vergleichen, die nacheinander von der Oper und dem Wesen der Tonkunst, sodann über das Wesen der Dichtkunst, endlich über Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft handelt. Für den ersten dieser Aufsätze gab die Vorstellung des ›blinden Homer‹ und des ›tauben Beethoven‹ den Ausgangspunkt; in bezug auf Homer und die Tragiker finden wir den Begriff des ›Dichters‹ und des ›Künstlers‹ einer klärenden Untersuchung unterzogen. ›Gewiß ist der Erzähler der eigentliche »Dichter«, wogegen der spätere formelle Ausarbeiter der Erzählung mehr als der Künstler zu betrachten sein dürfte.‹ ›Jenem »Poietes«, von welchem allerdings Platon behauptete, daß er den Hellenen ihre Götter erfunden habe, würde der »Seher« vorausgegangen zu sein scheinen, etwa wie dem Dante jener verzückte Mönch durch seine Vision den Weg durch Hölle und Himmel gewiesen hatte. Der ungeheuere Fall bei ihrem einzigen – »dem« – Dichter der Griechen scheint nun aber der gewesen zu sein, daß er Seher und Dichter zugleich war; weshalb denn auch Homer gleich dem Teiresias blind vor gestellt wurde: wen die Götter nicht den Schein, sondern das Wesen der Welt sehen lassen wollten, dem schlossen sie die Augen.‹ ›Dieser Dichter sah als »Seher« nicht das Wirkliche, sondern das über alle Wirklichkeit erhabene Wahrhaftige.‹ ›Wer dem Homer Kunst nachzuweisen versuchen wollte, dürfte hierbei eine ebenso schwierige Arbeit haben, als wer die Entstehung eines [218] Menschen aus der überlegten Konstruktion eines, etwa überirdischen Professors der Physik und Chemie zu erklären unternähme Dennoch ist Homers Werk kein unbewußt sich gestaltendes Naturprodukt,34 sondern etwas unendlich Höheres, vielleicht die deutlichste Manifestation eines göttlichen Bewußtseins von allem Lebenden. Nicht jedoch Homer war Künstler; vielmehr wurden an ihm alle nachfolgenden Dichter erst Künstler, und deshalb heißt er »der Vater der Dichtkunst«. Alles griechische Genie ist nichts anderes als künstlerische Nachdichtung des Homer; denn zu dieser Nachdichtung ward erst die »Techne« erfunden und ausgebildet.‹35 In vollstem Gegensatz zu diesem Werke des Dichters steht nun alles das, was ›heutzutage, nachdem es aus dem Feuilleton der Zeitungen hervorgegangen, die Wände unserer Leihbibliotheken bedeckt‹: es hat ›weder mit Kunst noch Poesie etwas zu tun‹. ›Das wirklich Erlebte hat zu keiner Zeit einer epischen Erzählung als Stoff dienen können; das »zweite Gesicht« für das Nieerlebte verleiht sich aber nicht an den ersten besten Romanschreiber. Ein Kritiker warf dem seligen Gutzkow vor, daß er Dichterliebschaften mit Baroninnen und Gräfinnen schildere, die er doch selbst gar nicht erlebt haben dürfte; wogegen dieser durch indiskret verdeckte Andeutungen ähnlicher wirklicher Erlebnisse sich mit Entrüstung verteidigen zu müssen glaubte. Von beiden Seiten konnte das unziemlich Lächerliche unserer Romanschreiberei nicht ersichtlicher aufgedeckt werden.‹36 Dieselben wahrhaftigen Gestalten, die dem blinden Homer sich in bewegungsvollem Heldenreigen darstellten, erscheinen uns in der A dur-Symphonie, in demselben Reigen, den nun der taube Beethoven uns ertönen läßt, um das entzückte Geistesauge sie noch einmal ersehen zu lassen. ›Hier wird ein Dionysosfest gefeiert, wie nur nach unseren idealsten Annahmen der Grieche es je gefeiert haben kann: laßt uns bis in das Jauchzen, in den Wahnsinn der Wonne geraten, aber stets verbleiben wir in dem Bereich erhabener Ekstase, himmelhoch dem Boden enthoben, auf welchem der Witz sich seine dürftigen Bilder zusammensucht. Denn hier sind wir eben in keiner Maskerade, dem einzigen Amüsement unserer ledernen Fortschrittswelt.‹ Mit diesem Stichwort der[219] ›Maskerade‹ ist der Übergang gegeben, womit die Betrachtung zu der ›gewissermaßen ethischen‹ Seite unseres Dichtens und Komponierens überleitet. Soeben hatte die Breslauer Universität es für gut befunden, anläßlich einer von ihm komponierten ›akademischen Ouvertüre‹ mit unvermeidlichem ›Gaudeamus igitur‹ – Brahms zu ihrem Ehrendoktor und ›princeps musicae severioris‹ zu erheben. ›Ich kenne berühmte Komponisten, die ihr bei Konzert-Maskeraden heute in der Larve des Bänkelsängers, morgen mit der Halleluja-Perrücke Händels, ein anderes Mal als jüdischen Czardas-Aufspieler, und dann wieder als grundgediegenen Symphonisten in eine Numero Zehn verkleidet antreffen könnt Ihr lacht: – das habt ihr leicht, ihr witzigen Zuschauer! Aber jene selbst sind dabei so ernst, ja streng, daß einer von ihnen ganz besonders zum ernsten Musik-Prinzen unserer Zeit diplomiert werden mußte, damit euch das Lachen verwiesen wäre. Vielleicht aber lacht ihr gerade wieder darüber? Dieser ernste Musikprinz würde euch nämlich von vornherein sehr langweilig erschienen sein, wenn ihr Schlauen nicht eben dahintergekommen wäret, daß etwas gar nicht so besonders Würdiges unter der Maske stecke, sondern jemand ganz euresgleichen, mit dem ihr nun wieder Maske spielen könnt, indem ihr euch anstellt, als ob ihr ihn bewundertet, was euch nun wieder amüsiert, wenn ihr gewahrt, daß er sich die Miene gibt, als glaube er euch.‹

Von dem bezeichneten ›Maskenspiele‹ wird in dem gleichen Zusammenhang Mendelssohn insoweit ausgenommen, als er dabei beharrte, innerhalb der Grenzen seines Könnens zu bleiben. ›Wenn er seine Chöre für »Antigone« nicht so gut komponierte, als z.B. seine »Hebriden«-Ouvertüre, welche ich für eines der schönsten Musikwerke halte, die wir besitzen, so lag dies daran, daß er gerade. Das nicht konnte.‹ Die Erwähnung Mendelssohns in diesem Zusammenhang war mit durch den Umstand veranlaßt, daß dessen Ouvertüren im Lauf des Juni zweimal abends am Flügel durchgegangen waren. Von ihnen befriedigte ihn die ›Hebriden‹-Ouvertüre am meisten, die ›Meeresstille‹ wegen einiger fader Sentimentalitäten bereits weniger, am wenigsten beinahe die ›Sommernachtstraum‹-Ouvertüre: ›als Landschaftsmaler vortrefflich‹, rief er heiter, ›nur aber nicht, wenn er mit dem Herzen wackelt!‹ Wirklich hatten ja jene exklusiven Londoner Mendelssohn-Verehrer (1855), die er damals so ergötzlich zu schildern wußte,37 es ihm offen gestanden, daß sie die Ouvertüre zur ›Fingalshöhle‹ noch nie so gut gehört und begriffen hätten, als unter seiner Leitung.38 ›Mendelssohn war Landschaftsmaler erster Klasse, und die »Hebriden«-Ouvertüre ist sein Meisterwerk. Da ist alles wundervoll geistig geschaut, sein empfunden, und mit größter Kunst wiedergegeben.‹ ›Das ist enorm schön, geisterhaft!‹ rief er bei der Stelle (S. 25/26 der Partitur), wo der gehaltene[220] Gang der Oboe durch das Staccato der anderen Instrumente hindurch klagend wie der Wind über die Wellen des Meeres zur Höhe steigt. ›Auch »Meeresstille und glückliche Fahrt« ist schön, und den ersten Satz der schottischen Symphonie (in A moll) liebe ich sehr. Die Verwendung nationaler Themen wird keiner dem Komponisten verübeln, besonders wenn er sie so künstlerisch verwendet. Seine zweiten Themen, seine Adagios, wo das Menschliche hervortreten soll, sind freilich bei weitem schwächer. Bei der »Sommernachtstraum«-Ouvertüre muß man bedenken, daß ein Fünfzehnjähriger sie geschrieben hat, und wie formvollendet ist da schon alles, wenn auch noch lange nicht so konzis gefaßt, wie in den »Hebriden«! Auch scheint mir das Haupthema vergriffen: das sind keine Elfen, sondern Mücken; sie erinnern an das Getier, welches Mephisto aus Faustens altem Pelze klopft. Weber hat die Elfen anders gezeichnet! Aber wie stümperhaft kam ich mir vor als junger Mann, nur vier Jahre jünger als Mendelssohn, der ich erst mühsam anfing Musik zu treiben, während jener schon ein fertiger Musiker war und auch als gesellschaftlicher Mensch die anderen völlig in die Tasche steckte. Ich wußte damals nichts besseres zu tun, als in meiner »Columbus«-Ouvertüre – ihm nachzuahmen, was ich freilich seitdem glücklich verlernt habe.‹39 ›Mendelssohns Landschaftsmalerei‹, fügte er tags darauf noch hinzu, ›ist immer wie mit einem elegischen Trauerton überzogen, wobei ich an Bendemanns »trauernde Juden« denken muß.‹ Und im Anschluß daran erzählte er dann von jenem seltsamen Opernhauskonzert in Dresden i. J. 1848, mitten in der Revolutionszeit, während König und Hof trübe gestimmt waren und auf dem ganzen Publikum der düstere Druck einer Ahnung von nahen Gefahren und drohenden Umwälzungen lastete. Wie dann ein höchst melancholisches Programm gerade mit Mendelssohns schottischer Symphonie begonnen und die Stimmung im Saale immer drückender geworden sei, bis mit dem ersten Strich von Beethovens C moll-Symphonie am Schluß – alles fortgewesen sei, aller Druck gehoben, Begeisterung und Aufjauchzen, Lebehochs auf den König und die jubelnde Menge wie erlöst das Haus verlassen habe. ›Das ist das Unsägliche dieser Kunst!‹40

Kurz zuvor, in den Pfingsttagen dieses Jahres, hatte er die Freude gehabt, seinen jungen Anhänger Ludwig Schemann aus Göttingen zu jenem Besuche zu empfangen, den dieser in seinen Erinnerungen mit so warmen Farben einer tiefen Empfindung geschildert hat. Wie er bei seiner Ankunft Wolzogen, dessen Freundschaft er sonst die Einführung in Wahnfried verdankte, ausnahmsweise von Bayreuth abwesend fand – er war soeben zu den Wiener [221] ›Ring‹-Aufführungen (S. 211 f.) gereist – und aus dessen Hause tretend, plötzlich den Meister allein in seinem Garten erblickte, im leichten Sommeranzug seine Pflanzungen auf- und abwandelnd, beschaulichsten Frieden in Haltung und Antlitz. Wie die Ehrfurcht vor ihm ihn so ganz in seinen Bann geschlagen, die ungeheuere Größe des Mannes von allen individuellen Empfindungen nur die einzige übrig gelassen habe: ›wer bist denn du, daß du es wagen solltest, zu Diesem wie ein Mensch zum andern hinzutreten?‹, wie er lange in stummer heiliger Scheu den Gewaltigen betrachtend, am Gitter gestanden und dann sich davongeschlichen habe, mit dem Gefühl von Weihe und Frieden, doch aber wie einer, der soeben durch seine Entsagung ein großes Glück verscherzt. Wie er dann sich zu ›Angermann‹ begeben und dort kurz darauf ein ihm unbekannter Herr, Joseph Rubinstein, im Namen Wagners, der durch einen Zufall von seiner Anwesenheit Kunde erhalten, nach ihm gefragt und ihn sogleich an demselben Abend nach Wahnfried geführt habe, wo er mit scherzendem Groll darüber empfangen wurde, daß er es übers Herz gebracht habe, einen halben Tag in Bayreuth zu weilen, ohne seine Anwesenheit zu melden.41 Es war an eben diesem Abend (3. Juli) u.a. von Mommsen und seinem Kultus für Julius Cäsar die Rede, und daß er Cato zu unrecht für einen ›Narren‹ erklärt habe. ›Zwar‹, so erzählt Schemann, ›die Deutung seiner modernisierenden Darstellungsweise als Effekthascherei ließ er sich halb von mir ausreden; die Vergötterung Cäsars dagegen blieb ihm ein Stein des schwersten Anstoßes. Er konnte sich alle historische Größe nicht ohne Herz vorstellen, das der kalte Römer nun einmal nur in Gestalt eines Römerherzens besitzen konnte.‹42 Er stellte die Größe Cäsars seinen Gegnern gegenüber in Abrede und erklärte, Cromwell sei ein zehntausendmal größerer Mann gewesen. ›Schon bei obigem Gespräche‹, fährt der Erzähler fort, ›wurde übrigens von einem der Anwesenden mit Recht bemerkt, daß die beiden größten Dichter der neueren Zeiten, Dante und Shakespeare, Mommsen in seiner Schätzung Unrecht gäben.‹ Die hohe Verehrung des jungen Freundes für seinen einstigen Berliner akademischen Lehrer vermochte er indes in keiner Weise zu teilen, und geriet bei der Motivierung seiner Abneigung in lebhafte Ereiferung. Dann brach er plötzlich ab mit den Worten: ›Nun, nun, wir wollen uns nicht zanken und am allerwenigsten jetzt, wo Sie mir durch Ihre »Parsifal«-Betrachtungen (in den »Bayreuther Blättern«) so ungemein nahe getreten sind.‹ Hierbei, so berichtet Schemann, vibrierte seine Stimme, die tiefe innere Bewegung, mit der er sprach, drang überströmend auf mich selbst ein. So sei er denn auch während der von ihm in Bayreuth verbrachten Tage gleichsam auf Händen getragen und ihm eine Glückseligkeit bereitet worden, wie[222] sie die Jünger der Großen stets als eine überreiche Entschädigung für alles, was ihnen im übrigen das Leben zu leiden gibt, anzusehen hätten Tags darauf war der junge Göttinger, Freund zu Mittag in Wahnfried, und nachdem schon bei der ersten Abendunterhaltung das Gespräch u.a. auf Schumann gekommen war und der Meister recht ostensibel seine Geringschätzung dieses Komponisten geäußert hatte, um seinen Gast von seiner Verehrung desselben zu heilen (vgl. S. 69), wurde dieses Thema aufs neue vorgenommen: die C dur-Symphonie Schumanns lag aufgeschlagen auf dem Tisch, und es war von dem Nichtssagenden und dem ›Rosalien‹-Unwesen darin die Rede. Daß Wagner für diese seine Schwäche wiederholt die liebenswürdigsten Scherze hatte, erwähnt Schemann ausdrücklich:43 doch schmerzte es den Meister immerhin, die Verehrung seiner Jünger gerade mit einem von ihm aus guten Gründen so gering eingeschätzten ›prekären Talente‹ teilen zu sollen, und er sprach sich nach solchen Diskussionen mit Bedauern dahin aus, wie jung und unreif seine Freunde noch seien. ›Ach, in welcher Welt leben wir!‹ rief er dann aus; ›es ist traurig, daß man, wenn man etwas äußert, nichts anderes zu tun hat, als solche Popanze anzugreifen.‹ Unter diesen Umständen konnte es ihm nur erfreulich sein, daß sich Rubinstein daran machte, in einem besonderen Aufsatze über Schumann für das Augustheft der ›Bayreuther Blätter‹ die Dürftigkeit dieses Musikers ohne Seele, ohne Einfälle, durch eine eingehende Analyse gerade der C dur-Symphonie nachzuweisen. Die Wirkung dieses Aufsatzes auf die Zeitgenossenschaft war die allerverwunderlichste; es schien als wäre ihr ein Heiligtum verletzt: wenn auch nicht hinsichtlich der Allgemeinheit des dadurch erregten Aufsehens, so doch in bezug auf die Art und Beschaffenheit seiner Wirkung schien sich dieser Artikel geradeswegs dem einst so verpönten ›Judentum in der Musik‹ anreihen zu wollen. Allgemein schien unter den damaligen Musikern und Musikfreunden die Ansicht verbreitet, daß man gleichzeitig im ›Ring‹ und ›Tristan‹ aufgehen und der schwülstig zerfahrenen Dürftigkeit Schumanns seine Bewunderung zuwenden, ›über das Schwächere darin aber mit pietätvollem Schweigen hinweggehen‹44 könne, um die Vorstellung schonend weiter bestehen zu lassen, als wären im Grunde doch beide, miteinander unvereinbare Erscheinungen, der Schwulst und die Plastik, die gestaltlose lyrische Träumerei und die Heldenkraft des großen Dramatikers, gewissermaßen aus verwandter ›deutscher‹ Quelle geflossen! Wievielmehr im Recht waren doch jene ›Schumannianer‹ der deutschen Musikwelt, die, seit Jahrzehnten die heftigsten und blindesten Gegner der Kunst Richard Wagners und Liszts, ›durch alle Mittel der Macht, die in den Sphären der Erziehung, der Kunstausübung, der Kritik auf ihrer Seite war‹,45 gegen beide intriguiert und gewütet hatten, – als die liebenswürdigen alles mit gleicher Inbrunst umklammernden [223] weichen Naturen, die sich durch eine offene Kritik des Unzulänglichen verletzt fühlten! ›Schlecht ist nicht das Schlechte, denn es täuscht nur selten; das Mittelmäßige ist schlecht, weil es für gut kann gelten‹, so hatte der Meister schon im Jahre zuvor in ›Publikum und Popularität‹ einen indischen Weisheitsspruch zitiert. Man hatte nichts gegen das Zitat, wohl aber gegen seine (in der Musik) direkt auf Schumann von ihm bezogene Anwendung. Und wieder hatten die ›Bayreuther Blätter‹ in unbedingtester Wahrhaftigkeit ihre Aufgabe als ›Purgatorium‹ zu erfüllen Zwar nicht dem Meister selbst gegenüber, woran ihn sein Schicklichkeitsgefühl hinderte, erklärte sich der ebengenannte Göttinger Verehrer und Anhänger doch durch den Rubinsteinschen Aufsatz tief betrübt; Musikdirektor Kniese, damals Dirigent des Frankfurter Wagnervereins und späterhin eine der gediegensten Autoritäten in der Pflege und Ausbildung des Bayreuther Stiles, kündigte in jugendlichem Übereifer sein Abonnement auf die vorher (und nachher!) so hochgeschätzten ›Bayreuther Blätter‹; ein talentvoller junger Grazer Musiker, Dr. W. Kienzl, geriet darüber mit dem Meister fast in Streit; in den Musikzeitungen wurde der Verfasser des Schumann-Aufsatzes als reif für den Scheiterhaufen der öffentlichen Verachtung erklärt. Einzig Bülow, der damals soeben in den größeren Städten seine große Tournee von Beethovenkonzerten für den Bayreuther Fonds veranstaltete, sandte damals an Rubinstein, als Zeichen seines zustimmenden Beifalls, eine lakonische Depesche, bloß aus den zwei Worten bestehend: ›Bravissimo! Bülow‹. Ein kurzes, aber inhaltsreiches Dokument, das den Empfänger umsomehr erfreute, als er sich vollbewußt war, seine Aufgabe nur sehr andeutend und unvollkommen – eben nur nach der einen Seite der ›Rosalien‹, die ja keineswegs die ausschließliche Hauptsache war – gelöst zu haben! So gut aber hatte der Verfasser jenes Aufsatzes nicht allein die Gedanken des Meisters getroffen, sondern in unwillkürlichem Anschluß (bis auf ein paar unwesentliche Abweichungen!) auch dessen Ausdrucksweise und literarischen Stil sich angeeignet,46 daß Bülow späterhin in einer Unterredung mit H. v. Wolzogen sich dahin aussprach, er habe den Artikel im ersten Augenblick direkt für ein Werk Wagners, nicht allein seines Geistes, sondern auch seiner Feder gehalten. Und die uneingeschränkte Befriedigung des Meisters selbst, wie auch Liszts, mußte dem Verfasser als die beste Belohnung für seine Arbeit, als die beste Entschädigung für den in allen Tonarten über sein Haupt sich ergießenden Unwillen der musikalischen Zeitgenossen gelten. Es war die erste Erfüllung des von Wagner ausgesprochenen Wunsches, nicht allein auf dem weiten Gebiete der Kulturbestrebungen, sondern auch auf dem engeren [224] der Musik sich einen Mitarbeiter zu erziehen, dem er seine Gedanken zur Ausarbeitung anvertrauen dürfte: Wolzogen sei sein ›Philologe‹ und Rubinstein würde sein ›Musiker‹ (S. 185).

Bereits an früherer Stelle (S. 68) führten wir aus seinen Unterredungen mit Seidl an, wie hoch er von Cherubini die ›Lodoïska‹-Ouvertüre schätzte, und in der ›Medea‹-Ouvertüre das strahlende Eintreten der Dominante. Auch in den Gesprächen mit Schemann, der soeben nach eingehenden Studien seiner Hauptwerke insbesondere seiner Kirchenmusik ›das Herz so voll von ihm hatte, daß ihm am Ende auch der Mund davon überfloß‹, kam die Rede auf diesen Meister. ›Zu meiner Freude sprach mir auch Wagner seine hohe Schätzung desselben aus: »allen Respekt vor der Sauberkeit und Geschlossenheit einer Cherubinischen Partitur!« Daran schloß er ein hohes Lob der Ouvertüren, und kam dann auf »Medea« zu sprechen: »In der Rolle des Jason erinnere manches noch an den Tenorhelden; im übrigen aber – grandios! Der Wasserträger sei schon künstlicher.«‹ Mit dem Bericht über eine burleske Begegnung mit Cherubini im Theater (der Pariser Großen Oper?) habe er dann von der Unterredung zu anderen Dingen übergeleitet.47 Völlig im Irrtum ist jedoch der pietätvolle Erzähler dieser Episode mit seiner, am gleichen Orte geäußerten hypothetischen Vorstellung, als sei das ästhetische Urteil des Meisters auch nur im leisesten durch irgendwelche trübende Erinnerungen an die Persönlichkeit Cherubinis beeinflußt worden. Von Wagners Urteil über den ›Wasserträger‹ bemerkt er selbst, daß der echte Kenner dasselbe ›ebensosehr auf einem tiefen Verständnis für diesen Meister beruhend, als der gewöhnlichen Schätzung widersprechend finden werde‹. Alles in allem sei Cherubini für Wagner wohl mehr ein interessanter, ja wohl auch imponierender, als ein eigentlich nahestehender Meister gewesen. Der Grund davon ist ihm trotz der persönlich an ihn gerichteten Äußerungen, wie es scheint, niemals klar geworden. Einige Wochen vor diesem Besuch hatte der Meister, wie er es mit allem Tüchtigen und Bedeutenden immer wieder zu tun pflegte, gerade Cherubinis ›Medea‹ am Klavier an sich vorüberziehen lassen, insbesondere das große Duett zwischen der Heldin und Kreon, ihr Flehen und seine Härte, und die darin enthaltenen schönen Züge, wie ihre Anrufung der Götter, ihn dennoch recht kalt gelassen. ›Ich kann diese wütenden Weiber nicht leiden‹, sagte er, und: ›dieses arithmetische Drama und diese arithmetische Musik sind mir widerwärtig. Eine Webersche Melodie läßt diese ganze sog. dramatische Kunst verbleichen. Und dabei ist doch immerhin etwas darin, was einem Marschner gänzlich abging: der Sinn für Form.‹ ›Cherubini‹, äußerte er sich ein anderes Mal, ›sei wohl der größte musikalische Architekt gewesen, eine Art Palladio, etwas steif symmetrisch, aber so schön und sicher. Alle Nachfolgenden, [225] Auber, Berlioz, seien nicht ohne ihn denkbar.‹ Selbst den Einfluß Cherubinis auf Beethoven wies er im einzelnen nach. ›Spontini sei, im Verhältnis zu ihm, weniger Meister, aber leidenschaftlicher, gefühlvoller gewesen.‹ Über alles ging ihm in der Kunst das Hervorquellen aus der innersten Tiefe, und so empfand er selbst den bescheideneren anmutigen Ausdruck wirklichen Lebens bei den Meistern der französischenOpéra comique als Befreiung gegenüber dem unfruchtbaren Pathos der italienischen Opera seria. In diesem Sinne stellte er die wenigen wirklich bedeutenden originalfranzösischen Produkte, vor allem Auber und die ›Stumme‹, hoch über jene italienischen Opernerzeugnisse, und bezeichnete z.B. Boieldieu und seine ›weiße Dame‹ als ein Muster dessen, was der französische Geist aus sich hervorgebracht. Auf ihre ansprechenden Einzelheiten kam er am Klavier immer gern zurück, von dem Spinnliede der ›alten Margarete‹ bis zur charakteristisch lebensvoll durchgeführten Auktionsszene.

Seine Beschäftigung mit dem Aufsatz über das ›Opern-Dichten und -Komponieren‹ gab ihm in dieser Zwischenzeit, vor der Wiederaufnahme seines großen Werkes, selbst dazu Veranlassung, auch weniger sympathische Erscheinungen, wie die Partituren der Marschnerschen Opern, einer erneuten Durchsicht zu unterziehen, wobei ihn vor allem jene im dramatischen Sinne nichtssagende ›melodische‹ Chorsingerei verdroß, die neben der ›Arienmelodie-Singerei‹ den ganzen Gehalt einer solchen ›deutschen Oper‹ ausmache.48 So verwies er u.a. auch auf das ›laßt den Schleier mir, ich bitte‹ – in ›Templer und Jüdin‹ – als typisches Beispiel einer monströsen Deklamation und des Bestrebens ›Melodie zu machen‹. Auf der anderen Seite unterließ er nicht, die wirklich dramatischen Momente hervorzuheben und führte als die schönste dieser Stellen Bois Guilberts dämonisch heimliches Flüstern zu Rebekka und seine Antwort an den Großmeister an. Wie exakt er es bei diesen, in verhältnismäßig leichtem Ton geschriebenen Abhandlungen mit allen Einzelheiten nahm, dafür zeugt, als er einmal seinem Gedächtnis nicht ganz traute, die Tatsache einer besonderen mit Liszt geführten telegraphischen Korrespondenz über den Titel einer älteren, von ihm streifend berührten, Ferdinand Hillerschen Oper. In jenen alten Zeiten hatte ja Liszt vorübergehend mit Hiller in näherem Verkehr gestanden und besaß, gleich dem Meister selbst, eine ungemein klare und scharfe Erinnerung an alles von ihm Erlebte. Das anhaltend trübe, kalte und regnerische Wetter gab reichlichste Veranlassung zu solchen häuslichen Beschäftigungen. Selbst aus des russischen Komponisten Glinka ›Rußlan und Ludmilla‹ wurde gelegentlich etwas vorgenommen. Mit Betrübnis ersah er daraus, wie von dieser Seite her so gar nichts aus den großen deutschen Meistern gelernt worden und die Anlehnung an die französische Schablone [226] darin das einzig vorherrschende sei. Oder aus Berlioz ›Romeo und Julia‹ die Fee Mab, und einiges aus der Scène d'amour, mit wenig Freude daran. Dagegen ging ihm bei erneuter Berührung mit ›Euryanthe‹ das große deutsche Herz auf, in welcher ›trotz alles Verrufes ob ihrer Langweiligkeit, doch jedes Musikstück mehr wert ist als die ganze Opera seria Italiens, Frankreichs und Judäas‹. Als einen Meisterzug bezeichnete er u.a. die Stelle der schleunigen Erwiderung Lysiarts: ›alles nach Gefallen! wie schön wirst du mit Kranz und Zither wallen!‹ Nur könne hier nicht von einer ›deutschen Oper‹ als Gattung die Rede sein: in dieser sei vielmehr, genau betrachtet, alles absurd, bis auf das, was ein gottbegabter Musiker als Original-Melodiker darin aufopfert: ein solcher sei Weber gewesen, der uns die zündendsten Strahlen seines Genius durch diesen Opern-Nebel zusandte. Der Besuch zweier Amerikanerinnen, Mutter und Tochter, Enthusiastinnen und Patroninnen von 1876 her, gab Veranlassung dazu, ihnen Abschnitte aus der ›Euryanthe‹ zum besten zu geben; wobei der Meister den Lysiart, Jäger den Adolar sang. Es folgte das Vorspiel zu ›Parsifal‹, auch eines der Rubinsteinschen Tonbilder ›Siegmund und Sieglinde‹, von diesem am Klavier vorgetragen, endlich – den Freunden zu Ehren – auch der amerikanische Marsch. Und während der Meister, immer noch auf schönes Wetter für den Beginn seiner Kur wartend, an seinem Aufsatz weiterarbeitete, traf dann auch noch (16. Juli) von Paris aus Levi, von London aus Freund Julius Cyriax ein, ersterer mit allerlei Erzählungen aus der ›Hauptstadt par excellence‹; letzterer mit guten Nachrichten über Hans Richters in London als Konzertdirigent gefeierte Triumphe und einem, durch seine Bemühungen erlangten photographischen Bildnis des Hauses ›le petit Caporal‹ in Boulogne, in welchem einst der junge Meister bei seinem ersten Betreten des französischen Bodens abgestiegen war49 und an dessen Anblick sich eine Fälle von Erinnerungen knüpfte. Leider erwies es sich später, daß das, wie gesagt, mit großen Bemühungen durch Aufwendung vermittelnder Beziehungen glücklich erlangte Bild, wiewohl Wagner selbst das Haus danach zu erkennen glaubte, doch nicht das echte, sondern ihm bloß durch Lage und Bauart sehr ähnlich war. Das richtige Haus war abgerissen und bestand schon damals nicht mehr, wie Cyriax bald darauf zu seiner wahren Betrübnis erfuhr.

Wir würden aber ein unvollständiges Bild dieses Sommers darbieten, wenn wir den Eindruck des großen neuen Werkes von Konstantin Frantz ›Der Föderalismus‹ nicht mit erwähnen wollten. Mit dem großen politischen Universalgedanken dieses hervorragenden Denkers auf das innigste einverstanden, empfand er über dessen systematische Darlegung in diesem umfangreichen Bande die wärmste Befriedigung. Er versenkte sich ganz in die Lektüre desselben [227] und erfreute sich dessen, wie Frantz immer wieder, ganz wie er selbst, zu neuen Mitteilungen seinen Faden ausspann. ›So tut es ein jeder, der eine Idee hat, für eine Idee lebt; wer nichts verficht als ein abstraktes System, der kann das nicht.‹ Er hätte es am liebsten ›in alle Welt hinausposaunt‹, wie trefflich dieses Buch sei, und ließ sich nach Empfang des ersten Exemplares sechs andere nachkommen, um seine Freunde, Feustel, den Bürgermeister, selbst einige Herren des Bayreuther ›Kränzchens‹50, Kolb und Fries, damit zu beschenken und während er selbst es eifrig studierte, in seiner Umgebung einen Widerhall seiner eigenen Freude und Bewunderung desselben zu finden. Die ganze erste Hälfte des Monats Juli war damit ausgefüllt. Die Gedanken des Verfassers über die Sozialdemokratie und die Marxischen Theorien, über das Prinzip der Nationalökonomie, über die Steuern, über die Frauenemanzipation, seine vorzügliche Charakteristik Friedrich Wilhelms IV. und Bismarcks erfüllten ihn mit freudigem Interesse. Und doch setzte er eines Nachmittags, als er – bei warmem, aber sonst schlechtem Wetter, um das Haus nicht zu verlassen – mit Wolzogen und Rubinstein in seinem Gartenhäuschen bei sich ›Angermann‹ hielt, den beiden jungen Freunden auseinander, weshalb er K. Frantz trotz aller Befriedigung sein Wohlgefallen an seinem Buche nicht in einem öffentlichen Brief für die ›Bayreuther Blätter‹ zum Ausdruck bringen könnte. Es war das in seinen Augen schwerwiegende Bedenken, daß der so hochbegabte treffliche Mann, in seinem Bestreben überhaupt vernommen zu werden und zu einer Einwirkung auf die Zeitgenossen zu gelangen, einer Art von Krypto-Katholizismus sich hingebe; daß er den schädlichen Einfluß der katholischen Kirche auf die deutsche Entwickelung nicht einsehe und die Reformation als das Übel betrachte: ›so geht es uns, so elend ist es mit uns bestellt, dahin muß sich ein Mensch wie Konstantin Frantz flüchten!‹ Kaum hatte er das Buch beendet, als er auch schon (14. Juli) sich eingehend darüber gegen den Verfasser äußerte; er habe den Kopf so voll davon, sagte er, daß er es loswerden müßte. ›Sie übertreffen mit dieser neuesten Gabe alles, was nur irgend als heilbringend zu erwarten war‹, heißt es in diesem gedankenreichen Briefe. ›Für Ihr Buch sollten eigene Lehrstühle errichtet werden und – wäre zu hoffen – so könnte nur von dem Erfolge der Durchdringung aller guten Köpfe von Ihren Ideen etwas zu erwarten sein. Wie sehr finde ich Ihre Lage der meinigen ähnlich: wir beide werden, jeder auf seinem Gebiete, nicht müde, unsere Ideen immer in neuen Gliederungen der Mitwelt vorzulegen, ohne uns von dem gänzlichen Mißerfolg aller dieser Bemühungen abschrecken zu lassen.‹ ›Was in Ihrem Buche zu Mißverständnissen Anlaß geben wird, ist, daß Sie unter den Faktoren des Unterganges der Deutschen fast nur den Feudalismus, nicht aber die, diesen Feudalismus [228] ausbeutende katholische Kirche bezeichnen. Ich glaube, Sie hätten des Kampfes der deutschen Nation für ihr Leben durch die Reformation mit größerer Wärme gedenken können. Die Gründe der Unvollendung und Hinfälligkeit dieser Reformation dürften mit mehr Bedauernis z.B. in der Politik Österreichs aufzudecken gewesen sein, sowie der Untergang oder Verfall Spaniens, Italiens und in einem gewissen Sinne selbst Frankreichs recht deutlich auch daraus nachzuweisen gewesen sein dürfte, daß dort die Inquisition oder sonstige Ketzerverfolgung gerade die begabtesten und tüchtigsten Individuen (wie es für gewiß in Frankreich die Hugenotten waren) vollständig ausrottete. Ich wüßte von der Kirche kein Wort zu sagen, als daß sie, hätte das Christentum bereits in ihr gelebt, dieses total ruiniert habe. So ganz im allgemeinen heutzutage aber nur vom »Christentum« als oberster Macht des Daseins zu sprechen, muß ich für gefährlich und höchst mißverständlich halten, und fürchte, Sie werden sich dem – stillen oder lauten – Vorwurf nicht entziehen können, in diesem Punkte mit unverständlicher Absicht zurückhaltend gewesen zu sein, wozu – nehmen Sie mir dies nicht übel! – die Sonderbarkeit, daß Sie biblische Texte nach der lateinischen Übersetzung der Vulgata anführen, leicht verführen könnte. Daß Sie der christlichen Religion nur in ihrem populären Gewande, mit dem Gottschöpfer und dessen erster Offenbarung an die Juden gedenken, will ich mir aus Ihrem Plane, der immerhin auf leichte Eingänglichkeit Ihrer Ideen berechnet zu sein scheint, erklären; dennoch glaube ich, daß auf diesem Gebiete der allerwesentlichste Punkt für eine Fortentwickelung des Volksbewußtseins liegt. Man streiche ihm den Gott im »feurigen Busche« und zeige ihm dafür einzig das »Haupt voll Blut und Wunden«. Dann wird auch das Volk wissen, woran es mit dem Christentum ist, und vielleicht wird dieses »Haupt« dereinst aus dem Chaos, dem wir unaufhaltsam zueilen, erst wirklich als Religionsschöpfer sich erheben.‹

Man sieht, die Gedanken, welche ein Jahr später in ›Religion und Kunst‹ mächtig zum Ausdruck strebten, erfüllten bereits den sinnenden Geist des ›Parsifal‹-Dichters, und die Frage: ›wollen wir hoffen?‹ erneuerte sich ihm auch bei diesem Anlaß. Wohl vermeinte er nicht allein in seinem eigenen unausgesetzten Bestreben, sondern auch in dem seines politischen Freundes eine höhere Macht als wirkend zu erkennen; nur sei es nicht die Macht, welche die ›Geschichte‹ der Menschheit hervorbringt. Er fand in den Gedanken des Politikers und Volkswirtschaftlehrers das Reich der Geschichte in den ›freien Willen‹ gesetzt, wogegen er die wahre ›Freiheit des Willens‹ nur in dem Akt der Verneinung der Welt, somit in dem Antritt des Reiches der ›Gnade‹ erkennen konnte, welcher zugleich das Reich seiner Kunst war.51 ›Böte uns das[229] Reich der Geschichte etwas anderes als das Walten der Willkür, – welche doch gewiß nicht die Freiheit des Willens, sondern das Gebundensein desselben unter die Herrschaft der blinden Selbstsucht bezeichnet, – so wäre es doch sehr zu verwundern, daß z.B. Ideen, wie die Ihrigen, so gar keinen Einfluß auf den Gang derselben ausübten. Mir ward dies bereits an dem tiefen Zweifel an dem Erfolge Ihrer vor 1866 erschienenen Schriften klar. Wie unmöglich mußte es mich dünken, daß Sie auch nur eine machtvolle Kapazität für sich gewönnen, z.B. einen unserer Fürsten, Minister, Abgeordneten usw. Und wie steht es nun? Alles rollt wie in den Abgrund des Wahnsinns hin, und – geschieht dies mit Freiheit des Willens – so muß man bekennen, daß dieser Wille wenigstens heroisch sei, denn er drängt zum Untergange alles Bestehenden. Ich glaube aber bestimmt, daß auch nur dieser Ausgang uns offensteht, und bin durch geschichtliche Analogien dazu gelangt, unsere Rückkehr in barbarische Zustände um die Mitte des folgenden Jahrtausends vorauszusehen. Der friedliche, den Sie uns zeigen, setzt eine zu große Vernunft des menschlichen Geschlechts voraus Leider kann uns aber auch keine Religion auf den rechten Weg leiten, denn – nach meinem Dafürhalten – hat sie sich erst noch zu offenbaren, und Jesus Christus soll erst noch erkannt und nachgelebt werden.‹ ›Lassen wir den Darwinismus in Ruhe: ich glaube, hier ist mit dem Gefühle wenig auszurichten. Offenbar beginnt der Mensch mit dem Eintritt der Lüge (List, Verstellung) in die machtvolle Reihe der Entwickelung der Wesen;52 mit dem Eintritte der unerschütterlichsten Wahrheit in alle Machtgebiete des Daseins wird sich Gott offenbart haben; der Weg vom Menschen zu ihm ist das Mitleid, und sein ewiger Name: Jesus.‹

Gedanken, welche auch jetzt noch, dreißig Jahre nach ihrer ersten Aufzeichnung und bei uneingeschränkter Verehrung und Bewunderung des Genius, dem sie angehören, der jetzt lebenden Mitwelt nur zu ihrem kleinsten Teile vertraut sind, konnten dem – bei allem bewunderungswürdigen Weitblick – doch in den Grenzen des politischen Denkens haftenden Schriftsteller, an den sie gerichtet waren, damals doch noch um so weniger leicht verständlich und zugänglich sein, als ihm, dem durch seinen Bildungsgang rettungslos im dicksten Schellingianismus Befangenen, die befreiende Lehre Schopenhauers über den[230] ›Willen‹ nicht aufgegangen war. Seine Antwort auf den obigen bedeutenden Anruf des Künstlerdenkers ließ diesen daher zu seinem Bedauern erkennen, wie jene befreiende Lehre bloß aus dem Grunde, daß sie mit der Politik keinen Kompromiß eingehe, von ihren Nichtkennern als die Tätigkeit lähmend und beeinträchtigend empfunden wurde. Er ließ sich daher für diesmal daran genügen, ihm seine Bedenken auf privatem Wege, anstatt etwa durch die ›Bayreuther Blätter‹, mitgeteilt zu haben, während diese letzteren darauf angewiesen wurden, durch die Feder Wolzogens auf die positiv-produktive Seite der Frantzschen Gedanken kraftvoll hinzuweisen. In seinen Unterhaltungen kehrte er immer wieder gern auf diese Quelle seiner Befriedigung zurück, sobald sie, wie in seinen Unterredungen mit Feustel, das Gebiet der Politik betrafen. Feustels uneingeschränkter Bewunderung für Bismarck gegenüber ward er nicht müde, in seiner großartigen Lebhaftigkeit ihm auseinanderzusetzen, wie wenig dieser große und einflußreiche Staatsmann der Aufgabe gewachsen sei, die das Schicksal ihm zugeführt. In seiner Lektüre wechselte er in dieser Zeit, wie es sein Bedürfnis war, zwischen Aristoteles und Polybius; bedauerte die Seichtigkeit einer neuen Judenbroschüre von Marr (vgl. S. 180), beschäftigte sich eingehend, selbst in schlaflosen Nächten, mit der Glagauschen Broschüre: ›Des Reiches Not und der neue Kulturkampf‹, verbrachte mit den Seinen zwei heitere Abende bei der Lektüre des Gogolschen Lustspieles: ›der Revisor‹, oder trug ihnen Platos Verteidigungsrede des Sokrates vor; erfreute sich in Nohls in neuer Ausgabe erschienenen populären Beethovenbiographie des Ausspruches: ›nun nichts mehr von Opern u. dgl., sondern für meine Weise!‹, den er bald darauf in dem Aufsatz ›über das Opern-Dichten und -Komponieren‹ zitierte,53 und nahm sogar zur Abwechselung einen Band Victor Hugoscher Dramen zur Hand, der ihm gerade in einer neuen illustrierten Ausgabe vorlag. In bezug auf die Nohlschen Darlegungen über die Abstammung Beethovens äußerte er, man könne für eine wirkliche Erkenntnis des inneren Zusammenhanges der Dinge sich nicht genug von den täuschenden Vorstellungen von Zeit und Raum lossagen: ›ein elektrischer Funke wirke über Generationen hinweg‹. Von Friedrich dem Großen habe Beethoven nichts an sich gehabt, eher von dessen Vater, sagte er lachend. Seine Reise nach Berlin erklärte er sich durch die Unruhe des Genies: ›immer etwas suchend, was es nirgends findet‹; die ihm seitens des Wiener Adels erwiesene Gunst aus den Gewissensbissen über die Vernachlässigung Mozarts. Unwillig machte ihn wiederum der triviale Versuch, ›Fidelio‹ mit einer Liebesepisode in Beethovens Leben zusammenzubringen. Der Band Victor Hugo brachte ihm diese grelle, schon so veraltete Welt wieder recht nahe, und ihr Anblick erfüllte ihn zugleich mit Erstaunen über das Talent und mit Widerwillen dagegen. [231] ›Fratzen, aber gut theatralische Fratzen!‹ sagte er vom Ruy Blas. Zwei Szenen aus dem ›Angelo‹, die er gut gemacht fand (zwischen Catharina, Angelo und Thisbe, und dann zwischen Catharina und Thisbe) las er seiner Frau vor und gedachte dessen, wie darin einst Minna als Darstellerin rührend gewesen sei. Nur störte ihn an dem Ganzen die Überladung mit historischer Lokalfarbe. Goethe habe es z.B. im ›Tasso versucht, das Reinmenschliche zum Ausdruck zu bringen und die einzelnen Gestalten bei aller geschichtlichen Treue vom bloßen äußeren Kostüm loszulösen. Die Griechen hätten das Glück gehabt, daß ihr Kostüm zur Natur so stimmte; und bei Shakespeare glaube man wirklich, daß diese Menschen, so wie sie erscheinen, mit ihren Lordschaften usw. geboren seien: so ein venezianisches Stück von Victor Hugo dagegen strotze förmlich von historischem Kolorit. An der Verteidigungsrede des Sokrates rühmte er, daß das Wesen der Philosophie hier von der Seite der Verneinung, der bloßen Negation angefaßt würde: was wäre das Positive? würde man fragen. Das Unaussprechliche, die Seelenruhe, die aus der Zerstörung alles täuschenden Truges sich entfalte und die Handlungen eingebe, in denen diese Seelenruhe sich dokumentiere.

Wir möchten an dieser Stelle nicht über ein seltsames Buch hinweggehen, das er während des Lesens oft aus der Hand legte und doch immer wieder aufnahm. Es war dies Haugs Kommentar zum, alten Testament‹,54 den er, der in der Vorrede gegebenen Anweisung gemäß, tatsächlich vom zwölften Kapitel, anstatt vom ersten aus, zu lesen begann. Der erstaunliche Scharfsinn des Verfassers, verbunden mit dem autodidaktisch Primitiven seiner theologischen Kritik, welche die dargestellten Vorgänge – anstatt sie als komprimierte Mythenzüge, und noch dazu in höchst komplizierter Verflechtung verschiedener miteinander verschmolzener, zum Teil gewaltsam zur Einheit redigierter Texte zu erkennen – auf Grund einer wörtlichen rabbinischen Übersetzung schlechtweg als untrennbares Ganzes auffaßte und sie im Sinne längst veralteter rationalistischer Methode ›nach der Anleitung täglicher Erfahrung im Menschenleben‹ rein psychologisch Schritt für Schritt erörterte, ließ ihn die Geschichte Abrahams und Sarahs, sowie der ihm folgenden Patriarchen mit Aufmerksamkeit, selbst mit teilnehmender Erregung verfolgen, da die Charakterzüge des jüdischen Wesens, durch den Kommentator mit unerbittlicher Schärfe aufgedeckt, an sich selbst sein Interesse in Anspruch nahmen; als er aber dann an die erste Hälfte des Buches, die über alle Maßen phantastische Darstellung der Schöpfungsgeschichte mit ihrer südpolaren Herkunft der Juden und der nordpolaren der Indogermanen55 kam, gab er es auf, so viel Vergnügen er an [232] einzelnen Einfällen fand.56 ›Mein Herr Hang ist am Ende verrückt‹, hatte er schon vorher lachend dazwischen ausgerufen, und mit dem gleichen Urteil schloß er das wunderliche Buch: ›Das ist wieder ein Deutscher, mit den originellsten, tiefsten Gedanken, aber – verrückt!‹57 Nichtsdestoweniger treffen wir in demselben Buche neben jenen ausschweifenden Exzentrizitäten auf Geistesblitze eines unabhängigen historisch-kritischen Denkens, die sich mit den eigenen Gedanken des Meisters über die Grundlagen unserer, auf Eroberung und Gewalttätigkeit beruhenden modernen Ständeordnungen und Staatsverfassungen – von ›Oper und Drama‹ bis in die letzte Zeit58 – auf das unmittelbarste berühren. ›Es ist das unschätzbare Verdienst der ersten Bücher des a. T., die raubtiergleichen Elemente des südpolaren Menschenschlags als das Material für dies Räubertum in allen Phasen seiner Entwickelung dargelegt zu haben, von den grausamsten Formen des direkten Raubmordes, der in Menschenblut watet, bis zu den raffiniertesten, intelligentesten Formen des sozialistisch destillierten Meuchelmordes, der statt Blut nur noch den Schweiß des Zehrfiebers riecht. Die Genesis zeigt, wie dies Räubertum, von dem intelligentesten Feldherrntalent eines bestialischen Pfaffentums dirigiert, sich in den Schluchten der armen Gebirgsgegenden Kanaans festzusetzen versuchte, um die ehrliche Landesbevölkerung auszurotten, ihr Eigentum zu annektieren und die Gebirgspässe und Jordanfurten zu beherrschen, welche die Handelskarawanen in ihre Gewalt lieferten. Daß dies Räubertum sich als völlig legitim und ehrenhaft, ja rühmlich und preiswürdig betrachtete, ist völlig verständlich, wenn man [233] die altertümliche Anschauung berücksichtigt, welche im Menschen nur ein unbedeutendes Element der ganzen Natur erkannte. Indes braucht man nicht so weit zurückzugreifen: nur wenige Jahrhunderte zurück blühte das europäische Raubrittertum ohne solche, in tiefer Weltanschauung begründete Legitimation, und doch »adelig« vom Scheitel bis zur Sohle. Und noch näher liegendes Verständnis läßt sich aus dem Faustrecht des 19. Jahrhunderts selbst gewinnen, welches, die zweite Phase des antiken Judentums kopierend, an statt plötzlich tötende Waffen in seiner Hand zu führen, mit rohem Rechnen das Opfer durch viele Hände gleiten läßt.59 Dieses rechnende Faustrecht des 19. Jahrhunderts hat sich bekanntlich durch seine Nationalökonomie ebenfalls das Adelsdiplom in dieser Form ausstellen lassen: »nur aus der größeren Befriedigung des Egoismus erwächst der Gesellschaft ihr Gedeihen!« Aber der Verfasser der Genesis hat lange vor diesen Weisen den toddrohenden Atem der Raubtiere gekannt und denunziert.‹60 ›Esau war das, seine Absichten wie seine Waffen offen zur Schau tragende Raubtier, dessen Wesen dadurch gemildert wurde, daß er zugleich viele der besten Züge der Menschennatur damit verband; Jakob dagegen die tückisch schleichende Raubtiernatur, mit sorgfältig verborgenen Waffen zum Festhalten der Beute, die womöglich ohne Blutvergießen getötet wird.‹ In Josephs Brüdern finde man (bei ihrem Mordanschlag auf sein Leben) den degenerierten Esau wieder; unter ihnen ist Juda, der es vorteilhafter findet, den Bruder als Sklaven an die Ismaeliten zu verhandeln, mehr Rechner als Totschläger. ›Joseph selbst (als Wohltäter der Ägypter) ist der gewissermaßen veredelte Jakob; er schleicht noch vorsichtiger; er tritt so leise auf, daß er selbst fest davon überzeugt ist, das könne niemand wehe tun. Die Krallen hat er ganz abgeschafft und sie in gallertartige, wie Gummi dehnbare, aber doch mächtige Polypenarme umgewandelt, mit Schröpfköpfen und Saugwarzen an den Enden; und er setzt sie nur da an, wo beim Sangen kein rotes Blut kommt und wo die wenigsten Gefühlsnerven liegen. »An dieser Stelle, meine Herren, spürt das dumme Volk unser Saugen am wenigsten!« so spricht er mit dem menschenfreundlichsten Lächeln seiner wohlwollenden Natur. Dazu hat er sich von Jakobs menschlich physischem Schmutze sehr rein gewaschen, trägt seine Kleider und hat in den Saugwarzen verführerische, liebenswürdige Manieren; so daß das Aussaugen wirklich manierlich geschieht, dem Opfer sogar eine Zeitlang ein gewisses Vergnügen gewähren kann. Für seine Intelligenz ist das Goldmachen ein längst gelöstes Problem; er wickelt es in ein paar sehr sublimer, sehr abstrakter Phrasen von Fortschritt, Industrie, Konkurrenz, Nationalökonomie und was dergleichen [234] sorgfältig präparierter Mäntelchen mehr sind. Das ist der zivilisierte, aber nichtsdestoweniger »der wahre Jakob«. So sind die embryonalen Elemente des Judentums beschaffen, so portraitieren sie sich selbst.‹61 Die Bezeichnung des Juden als ›rechnendes Raubtier‹ frappierte ihn durch ihre Drastik; und seine direkte Bezugnahme auf die geistvolle Darstellung des – in anderen Stücken leider so wunderlich schrullenhaften – Kommentators bekundet sich darin, daß er den Ausdruck kurze Zeit darauf in dem offenen Brief an Ernst von Weber ausdrücklich zwischen Anführungszeichen zitiert, wenn auch ohne Namensnennung, bloß für den Kenner.62 Genau, wie bei dem in demselben Briefe vorkommenden, von uns (S. 178 Anm.) bereits erwähnten, ebenfalls ohne Namensnennung des Autors bloß zwischen Anführungszeichen gegebenen Zitat aus Plutarch, von dem Tiere, das ›kein Bitten, kein Flehen um Gnade, kein Bekenntnis des Besiegtseins kennt‹ ...

Wir sind uns bewußt, den Leser in diesem Kapitel viel mit den gewissermaßen äußeren Beziehungen des geistigen Umganges in Anspruch genommen zu haben, den der große Einsame innerhalb der Wände seines Hauses sich bereitete. Wir glauben, daß ein intensives Verständnis seiner eigenen literarischen Kundgebungen während der ›Parsifal‹-Periode dadurch gefördert werden kann. Zeichnen sich diese letzteren nicht, wie die Schriften der ersten Züricher Periode, durch ihren äußeren Umfang aus, da sie doch mit all ihren grundlegenden Gedanken nur einen Band der ›Gesammelten Schriften‹ füllen, so sind sie dafür andererseits von einer Tiefe und konzentrierten Gedrängtheit, die ihr Verständnis, selbst auch die Würdigung der vollen Schönheit ihrer Diktion, bis zum heutigen Tage verhältnismäßig auf einen engeren Leserkreis einschränkt. Sie haben noch nicht zur Menschheit, noch nicht einmal zum größeren Teil der Deutschen gesprochen, wiewohl sie in fremde Sprachen übersetzt, in den ›Bayreuther Blättern‹ Jahrzehnte hindurch nach vielen Richtungen hin kommentiert, durch Studienwerke, wie Wagner-Lexika und -Enzyklopädien, lehrhaft in ihre substantiellen Bestandteile aufgelöst worden und andererseits umfassende Gedankenarbeiten aus der Bayreuther Schule durch sie hervorgerufen sind. Die Frage jedoch, die in ihnen allen sich ausdrückt, ist die gleiche, wie in der Titelaufschrift dieses Abschnittes: ›wollen wir hoffen?‹ Und ihre Beantwortung ist ebenfalls zu Beginn desselben gegeben: ›wer mit mir hoffen will, der hoffe auch in meinem Sinne; kann ihm ein flüchtiger Anschein nicht genügen, so hofft er mit mir‹.

Und auch in bezug auf das rein Tatsächliche in den Vorgängen dieser Sommermonate kehren wir am Schluß dieses, durch mancherlei Exkurse und [235] Episoden angeschwollenen Kapitels wieder zu dessen Eingang zurück. ›Jetzt ruhe ich aus‹, hieß es dort, ›und harre eines Sommers (?), um zu Hause eine Brunnenkur zu betreiben‹ und alsdann ›mit grenzenloser Muße und Freude an die Instrumentierung des »Parsifal« zu gehen.‹ Jenes eingeklammerte Fragezeichen hinter dem Worte ›Sommer‹, auf welches wir gleich anfangs (S. 190 f.) verwiesen, hat recht eigentlich den Inhalt dieses Abschnittes gebildet. Der erwartete ›Sommer‹ – kam überhaupt nicht; die vereinzelten guten Tage waren, wie erwähnt, zu Spaziergängen und Ausflügen reichlich benutzt worden; doch waren sie noch nicht so anhaltend schön gewesen, daß er an einen Beginn der geplanten Kur auch nur denken konnte. Als die von allen Wetterpropheten des Jahres 1879 vorausgesagte ›Hitze‹ Ende Juni ihre ersten Vorboten sandte, schwüle Tage mit starken Gewittern wechselten, die Nächte mit Öffnen und Schließen der Fenster vergingen, war es doch nur auf ganz kurze Zeit. Er machte trotzdem einen Versuch, in der Morgenfrühe sein Mineralwasser zu trinken und sich danach, in Begleitung der zweiten Tochter, Blandine, in der Frische des Hofgartens zu ergehen – bald aber kamen neue Regenschauer und eine Kälte, wie im April. Auf die Erklärung Dr. Landgrafs: die Kur solle aufgegeben werden, es käme nun das ›schlechte Wetter‹, erwiderte er mit Heiterkeit: er wolle nun seinen bestellten Rakoczy dem Magistrat zustellen, damit die – damals in Bayreuth noch fehlende – Wasserleitung zustande käme. Endlich – pünktlich mit Beginn des August – setzte sich eine Wendung zum Bessern durch: die Brunnenkur nahm ihren Anfang. Trotzdem waren seine Nächte schlecht, wie bereits nach dem ersten Ansatz zur Kur: kaum war er abends zu Bette gegangen, als Kongestionen nach dem Kopfe hin ihn zu quälen begannen, so daß er wieder aufstehen mußte und im Hause umherwandelte. Beklemmungen auf der Brust und eine Halsröhrenentzündung gesellten sich hinzu. Die Hitze draußen war so arg, daß er tagsüber ausschließlich im Saale sich aufhielt, mit Lektüre und Arbeiten für die Blätter beschäftigt; sie gestattete nur spät abends auszugehen. Das Abendbrot ward im Freien genommen; dann erst begannen – im Mondenschein – die Spaziergänge im Freien, mit vieler Freude an den Glühwürmchen in den dichten Gebüschen. Und während er selbst sich mit Brustbeklemmungen plagte, vollzog sich noch ein neuer Angriff auf das ruhige Behagen der Häuslichkeit: die zwölfjährige Tochter Eva bekam den Scharlach und die andern Kinder mußten zur Vermeidung der Ansteckung ausquartiert werden.

Wieviel Erfrischendes, Lebenerhaltendes für den Meister im Genuß seiner Familie lag, ist schon zu verschiedenen Malen hervorgehoben. Er erfreute sich der individuellen Eigenart eines jeden einzelnen Kindes, der Hoffnungen, die sie ihm dadurch für die Zukunft gewährten, und wünschte keines von ihnen anders als es war. Nach dem diesjährigen Maienfestspiel waren sie, wie bereits das Jahr zuvor, in ihren Kostümen photographiert worden: von Siegfrieds[236] Bildnis fand er, es sehe dem Goethebildnis der kleinen Ausgabe (von 1834) sehr ähnlich. Dem Knaben war schon damals, wie in seiner ganzen ferneren Entwickelung, neben seinem Humor und seinen höchst originellen Bemerkungen, die unverbrüchliche Ruhe, der Gleichmut, die Unnahbarkeit eigen, die sich ihm unter den schwierigsten Verhältnissen seines späteren Lebens gegen alle künstlich genährte Verkennung und erbitterte Feindschaft stets als sicheres Schutzmittel bewähren sollte; die liebevolle Sorge der Eltern wurde sogar zuweilen durch diese, so früh ihm eigene überlegene Ruhe beängstigt. Dem gegenüber sprach es dann einmal der Meister aus, wie er durch seinen Blick soeben wieder einen wunderbaren Eindruck erhalten und darin etwas Urverwandtes, intensiv Intelligentes, nicht zu Beschreibendes gelesen habe. ›Das bin ich‹, habe er zu sich gesagt. Der Wunsch nach einem passenden Knabenumgang (S. 24) war – in dem von ihm gemeinten Sinne eines engeren Anschlusses unerfüllt geblieben; war es doch ihm selbst in seiner eigenen Kindheit ebenso ergangen! Trotzdem blieb Siegfried mit einem kleinen Kreise von Bayreuther Altersgenossen im steten Verkehr, und an seinem letzten – zehnten – Geburtstag hatte er zehn Buben in Wahnfried zu Gaste, die, als er aus dem Hause in den Garten trat, zur Freude seines Vaters, wie ein Pfeil auf ihn zuschossen. Auch machte er gelegentlich in ihrer Begleitung Ausflüge in die Umgegend im engeren und weiteren Sinne: mit zweien derselben fuhr er so unter der Leitung seines Lehrers nach Himmelskron. In den Sommertagen geleitete ihn der Meister nach wie vor zur Schwimmschule; umgekehrt wiederum er den Vater häufig auf seinen Nachmittagsgängen zu Angermann, und mit herzlichem Lachen bemerkte dieser eines Tages, daß für seinen Sohn ein eigenes ›Stammglas‹, mit der eingravierten Aufschrift: ›Herr Siegfried Wagner‹, zugleich mit dem seinigen vor sie auf den Brettertisch gestellt wurde. Als Abgesandter des Hauses war er auch bei ernsten Anlässen, wie bei dem – ganz Wahnfried mit Trauer erfüllenden – Tode des Stadtgärtners Helmrich63 bei dessen Leichenbegängnis der Vertreter des Hauses. Die Äußerung des Meisters während seiner Lektüre von Konstantin Frantz: ›Fidi müsse Nationalökonom werden, da könne er der Menschheit nützen‹, haben wir schon an früherem Orte (S. 118) vorweggenommen. Nun trat mit der Erkrankung der [237] jüngsten Schwester eine Störung in das häusliche Leben von Wahnfried, und der erste Gedanke war die Entfernung der anderen Kinder und ihre Übersiedelung an einen Ort, der sie vor drohender Gefahr einer Ansteckung schützte. Anfangs war hierzu das weit abgelegene Hotel Fantaisie ausersehen, welches ihnen allen bei seinem ersten Einzug in Bayreuth eine unvergessene Heimstätte gewährt hatte. Weil daselbst aber eine sofortige Aufnahme nicht möglich war, wurden sie für die erste Nacht in das Hotel ›Sonne‹ übergeführt; tags darauf aber auf den Riedelsberg, Feustels anmutigen Besitz in der Nähe der Stadt, wo er sie denn auch zugleich unter liebevollster, freundlichster Familienobhut wußte. Die Krankheit nahm ihren normalen Verlauf, aber Wahnfried stand in Haus und Garten leer und der Meister vermißte Siegfried und Isolde am Hühnerhof, wo er sonst gern mit ihnen verweilte. Bei seinen täglichen Nachmittagsbesuchen auf den Riedelsberg fand er den kürzesten Weg dahin, quer über die dazwischen liegenden Wiesen, durch störende Gräben versperrt, wie sie sich zur Kanalisation überall durch das üppig grünende Gelände zogen: im kleinen wie im großen immer schaffend, ließ er alsbald, zur Ermöglichung direkter Kommunikation über das störendste dieser Hindernisse die entsprechende Brücke schlagen. Im weiteren Fortgang ermöglichte es sich ohne Gefahr, daß die Kinder das Mittagessen in Wahnfried einnahmen und gleich darauf das Haus wieder verließen. In diese Zeit der allmählichen günstigen Entwickelung fällt auch ein Besuch Liszts, dem wir sogleich nähere Aufmerksamkeit zu widmen haben. Und noch Eines ist hier zu erwähnen: kurz vor Beginn der Krankheit Evas und obgleich seine eigene Kur nicht zum Abschluß gelangt war, hatte er (7. August 1879) sich bereits an die erste Arbeit an seiner Partitur gemacht.

Fußnoten

1 Über diesen Ausdruck vgl. Band III des vorl. Werkes, S. 365


2 ›R. Wagner an seine Künstler‹ (herausgegeben von E. Kloss, Nr. 257, S. 304).


3 Vgl. Wolzogen, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 30. Die vorausgehende Stelle: ›Ich bin Reaktionär in der Instrumentalmusik bis auf Beethoven zurück‹ usw. gehörte, nach Wolzogens eigener Angabe, einem anderen Gespräch (vom 24. Febr. desselben Jahres) an und ist nur ihrem Inhalt entsprechend, bei der Zusammenstellung der ›Erinnerungen‹ – ursprünglich für einen Wiener Vortrag – mit dem Folgenden redaktionell kombiniert worden.


4 Vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 343: Gedicht ›an das deutsche Heer‹.


5 In den ›Bayreuther Blättern‹ und den Gesammelte Schriften X, S. 171 ist es übrigens mit lateinischen Lettern gedruckt.


6 Dagegen fand er den Zug bemerkenswert, daß dieser geistvolle, scharf beobachtende russische Denker und Dichter – aus zarter Freundschaft für MmeViardot – den zersetzenden Einfluß des Judentums mit Stillschweigen übergehe und auch wo er es in bestimmten Zügen kennzeichne, das Wort ›Jude‹ unausgesprochen lasse!! – Ganz dieselbe künstliche Lahmlegung und Unschädlichmachung glückte bekanntlich durch jüdische Verheiratung bei dem zweitgrößten Schriftsteller Rußlands, dem Grafen Leo Tolstoi, zu dessen Weltruhm das internationale Judentum getrost an seinem Teile mit beitragen konnte, da es sicher war, daß alle anderen schleichenden Schäden seines unglücklichen Vaterlandes von ihm ruhig aufgedeckt, nur der eigentlich fressende Krebsschaden nicht mit einer Silbe berührt werden durfte!


7 Vgl. Wolzogen, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 76/77.


8 Die Zeitgenossen des großen Religionsstifters verlangten von ihm zu seiner Beglaubigung Zeichen und Wunder; er lehnte diese Forderung ab und verwies sie auf die Wunder der sie umgebenden Natur. Das größte Wunder aber sei das, daß die Menschen Mitleid miteinander hätten; in diesem Wunder offenbare sich die Göttlichkeit ihres Schöpfers. ›Ihr habt Mitleid miteinander: Allah hätte euch auch so schaffen können, daß ihr kein Mitleid miteinander hättet, – wie wäre es dann gewesen?‹ Vgl. ›Vorlesungen über Heldenverehrung‹, S. 122 der deutschen Ausgabe, und Wagner, Ges. Schr. Band X, S. 259.


9 Die hier gemeinte Stelle lautet: ›Novalis bemerkt von Shakespeare, daß seine Dramen zugleich Erzeugnisse der Natur seien, tief wie die Natur selbst. Ich finde eine große Wahrheit in diesem Spruch. Shakespeares Kunst ist nicht Kunstgriff; das was ihr den höchsten Wert verleiht, ist nicht mit Plan oder Absichtlichkeit da. Es wächst empor aus den Tiefen der Natur; die Geschlechter der spätesten Nachzeit werden noch neue Bedeutungen in Shakespeare finden, neue Auslegungen ihres menschheitlichen Wesens. Es ist die höchste Belohnung, die die Natur einem echten schlichten großen Gemüt gewährt, daß sie es dergestalt zu einem Teil ihrer selbst werden läßt. Die Schöpfungen eines so gearteten Menschen, alles was er immerhin mit klarem Vorbedacht und höchster selbstbewußter Anstrengung zutage bringen mag, wächst wesentlich unbewußt aus den unbekannten Tiefen in ihm hervor; – wie die Eiche aus dem Schoß der Erde erwächst, wie die Berge und Gewässer zur Gestaltung kommen; mit einem Ebenmaß, das sich auf die Gesetze der Natur selber stützt und jederlei Wahrheit angemessen ist‹ (Vorlesungen über Heldenverehrung, deutsch von Neuberg, S. 190/91).


10 Ludwig Schemann, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 35 und S. 56.


11 ›Heldenverehrung‹, deutsche Ausgabe S. 333.


12 Wolzogen, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 7/8.


13 Wolzogen, ebendaselbst, S. 8. Der Einleitungssatz: ›Heute ward mir das Mysterium‹ usw. und das Datum des 12. Mai 1879 wurden uns durch H. v. Wolzogen ergänzungsweise mitgeteilt.


14 Ebendaselbst, S. 9.


15 Nämlich 1.) in seinen, unter dem Titel ›Bayreuth vor 30 Jahren‹ i. J. 1906 herausgegebenen posthumen ›Erinnerungen‹ (Dresden, Bertling) und 2.) bereits zu seinen Lebzeiten in einer ausführlichen brieflichen Mitteilung an N. Österlein vom 18. Nov. 1889 (in Österleins ›Wagner-Katalog‹ III, S. 266).


16 Vgl. zu der obigen die – hier durch Weglassung unnötiger Einzelheiten verkürzte – Schilderung Frickes bei Österlein a.a.O.


17 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 484.


18 Ebendaselbst, Band V, S. 83.


19 Ebendaselbst, Band II, S. 98/99.


20 Fricke, bei Österlein III, S. 266, und ›Erinnerungen‹, S. 151.


21 Band I des vorliegenden Werkes, S. 166 ff.


22 Vgl. das auf S. 67 dieses Bandes angeführte Beispiel von der ›Vampyr‹-Einlage!


23 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 105. 112 und Erich Kloss, ›Wagnertum in Vergangenheit und Gegenwart‹ (Berlin 1909) S. 164 ff.


24 Vgl. dazu Band I der großen Autobiographie: ›Mein Leben.‹


25 Schon bei der letztvorhergegangenen ›Siegfried‹-und ›Götterdämmerungs‹-Aufführung hatte es sich zugetragen, daß die Stimme der Gutrune wegen plötzlicher Stimmlosigkeit der betr. Sängerin der – Solovioline übertragen war (›Mus. Wochenblatt‹ 1879, S. 11), und auch die obenerwähnte erste Leipziger Gesamtaufführung verlief merkwürdig sang- und klanglos, so daß wir uns nicht erinnern, einen Bericht darüber je vor Augen gehabt zu haben. Sie wird auch in Neumanns ›Erinnerungen‹ merkwürdigerweise ganz mit Stillschweigen übergangen.


26 Da wir keine Veranlassung haben dieselbe hier auch nur im Auszug zu reproduzieren, verweisen wir dafür auf die Neumannschen ›Erinnerungen‹, S. 93/100.


27 Ebendaselbst, S. 95/98.


28 Für Wien war tatsächlich nicht so sehr das wirkliche Publikum, als die feindlich gesinnte Clique der Herren Hanslick, Speidel und Konsorten daran schuld, daß sich Direktor Jauner zu fast unverantwortlichen ›Kürzungen‹, d.h. Verunstaltungen, gezwungen sah, so daß die ›Götterdämmerung‹ bis auf weiteres ohne Nornen und Alberich gegeben wurde!


29 20. Februar 1879, an Angelo Neumann: ›Gedenken Sie auch, bitte, bitte! – nur immer des Einzigen, Ihre Aufführungen stets auf einem bedeutenden Fuße zu erhalten, ja – sie immer mehr zu veredeln: dann – ist Leipzig etwas und wird fortfahren zu interessieren‹ (Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 98).


30 ›Wenn ich in ganz Deutschland einen Dirigenten habe, auf dessen richtiges Tempo ich mich ganz sicher verlassen kann, so lege ich mich ruhig zum Sterben nieder. Ich hoffe gewiß, daß es mit Seidl dazu kommt; aber nur – um Gottes willen! – nicht noch einen zweiten da hineintaktieren lassen; dies wäre der Grund zu einem gänzlichen Verfall der Aufführungen!‹ (An Angelo Neumann, 20. Februar 1879.)


31 Vgl. Band II des vorliegenden Werkes, S. 417 f. 423.


32 ›Wollen wir hoffen?‹ Ges. Schr. X, S. 169.


33 Heckel, ›Erinnerungen‹, S. 138/39.


34 Man vergleiche hierzu den auf S. 198 Anm. 2 zitierten Ausspruch Carlyles über Shakespeare, der des Meisters Beifall gefunden hatte, von welchem er aber doch in sehr wesentlich charakteristischer Weise abweicht.


35 Ges. Schr., Band X, S. 188/90.


36 Vgl. hierzu die briefliche Auslassung Gottfried Kellers über den gleichen Fall: ›Der arme Gutzkow leistet an gemeiner Klatscherei gegen das Ende seiner Tage allerdings das Unglaubliche und scheint nach allem harten Schicksal wieder bei seinem knabenhaften Anfang anzugelangen. Neulich stach ihn der Hafer, als der Saltimbanque Sacher-Masoch in einem eigenen Zahnbrecher-Reklamenbuch sein Glück bei vornehmen Weibern anpries, daß er, Gutzkow, einen Artikel dagegen schrieb und prahlte, man solle nicht glauben, daß er nicht auch seine Liebesaffären gehabt habe und was für welche! wenn er seine Briefschatullen öffnen wollte usw. Das ist ja die reine Hochkomödie oder Hochkomik‹ (brieflich an E. Kuh, 18. November 1873; vgl. Baechtolds Leben Gottfried Kellers).


37 Band III des vorliegenden Werkes, S. 77.


38 Ebendaselbst, S. 72.


39 Wolzogen, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 31/32. Das Datum ist nach Angabe Wolzogens der 17. Juni 1879.


40 Ebendaselbst, S. 35/36. Vgl. Band II des vorliegenden Werkes, S. 259 (5. Auflage).


41 Vgl. Ludwig Schemann, ›meine Erinnerungen an Richard Wagner‹ (Stuttgart, Frommann 1902), S. 21 ff.


42 Ebendaselbst, S. 45.


43 Ebendaselbst, S. 52.


44 Ebendaselbst.


45 Wolzogen, ›Erinnerungen‹, S. 33.


46 Selbst seine Handschrift hatte durch die wiederholte Gelegenheit zur Kopie Wagnerscher Schriftstücke ihre individuelle Eigenart aufgegeben und war der Handschrift des Meisters – für Unerfahrene bis fast zum Verwechseln – ähnlich geworden!


47 Schemann, ›Erinnerungen‹, S. 50/51.


48 Gesammelte Schriften X, S. 216.


49 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 332.


50 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 8. 96/97.


51 Vgl. die hierhergehörigen Ausführungen in dem Aufsatz über ›Staat und Religion‹ (1864) im VIII. Bande der ›Gesammelten Schriften und Dichtungen‹.


52 Nicht erst in der Politik beginnen die Künste Talleyrands, vielmehr schon im Selbsterhaltungskampf des diluvialen Menschen gegen die umgebende Tierwelt. Es war nicht seine physische Stärke, die dem Menschen in diesem seinem Existenzkampf die Waffen lieferte; denn mit wenig Ausnahmen sind die erlegten Tiere, deren Skelettreste in den diluvialen Schichten liegen, ihm an Kraft so sehr überlegen, daß es selbst mit Hilfe von Pulver und Blei nicht leicht ist, Elefant, Nashorn, Grislybär und Wisent zu erlegen. ›Es galt hier mit geistiger Überlegenheit die unbewachten Augenblicke des Tieres auszukundschaften, es zu überraschen oder in Schlingen und Gruben zu Fall zu bringen. Um so bewunderungswerter steht der Wilde der europäischen Diluvialzeit vor unseren Gedanken‹ (Dr. Johann Ranke, ›die Vorgeschichte der Menschheit‹ in: Helmolt, Weltgeschichte, Band I, S. 130).


53 Gesammelte Schriften X, S. 219.


54 Das Alte Testament von ›Der-von-Schiloh‹, für jeden Wahrheitliebenden dem wirklichen Inhalte nach zum erstenmal verständlich ausgeschrieben von H. Haug, Berlin, Theobald Grieben 1872.


55 Vgl. übrigens Dr. Biedenkapp, ›der Nordpol als Völkerheimat‹ (Jena 1906).


56 Trotzdem beschäftigte die wunderliche Polartheorie seine Phantasie noch auf lange hinaus, und er wies in der Unterhaltung darauf hin, daß etwaige Spuren davon sich noch in der Edda, nämlich in der eisleckenden Kuh Audhumbla, antreffen ließen! ›Er könne nicht viel davon lesen‹, sagte er damals (2. Sept.) zu Wolzogen, ›er wolle aber fortfahren.‹


57 Wir heben hier beispielsweise den beachtenswerten, ungemein drastischen Kommentar von Genesis Kap. 10 hervor, mit den Angaben der Söhne Noahs, Sem, Ham und Japhet und den von ihnen abgeleiteten Völkerschaften, die den Ethnologen – bis auf Gobineau! – nach altem Herkommen so viel zu schaffen gemacht. ›In Rücksicht auf die allgemeine Menschengeschichte einerseits, und die unverwüstlichsten Stammes-(Rassen-)Charaktere andererseits, gewinnt es den Anschein, als werde dieser Völkertafel (sie nimmt bekanntlich das ganze obengenannte Kapitel ein!) eine Wichtigkeit beigelegt, welche sie durchaus nicht verdient. Es ist sehr fraglich, ob ihr Verfasser sich hat träumen lassen, daß er irgendeinen Leser finden werde, welcher seine Ausdrücke: »in ihren Ländern, nach ihren Völkern« (V. 5) dahin deuten werde, daß diese Länder den Nachkommen Noahs gehörten! Mit diesen Ländern sind doch zunächst nur diejenigen gemeint, in welche sie sich zerstreut haben. Man nennt sich heute »Wiener« und »Leipziger« und »Prager« und »Berliner«, – und wird es damals genau ebenso gemacht haben. Und daß die »Berliner«, auch wenn sie nicht gerade diesen Namen führen, die wirkliche Ursache von Berlins Größe, beziehungsweise beachtenswerter Existenz sind, das ist die heute gerade so zuversichtlich ausgesprochene und nachgesprochene Überzeugung, wie sie ehemals für Babel gelten mochte‹ (Haug, ›das alte Testament‹, S. 105/06).


58 Vgl. im ›Wagner-Lexikon‹ den Artikel ›Recht‹.


59 Vgl. hierzu den Artikel: ›Mitmenschen als Naturbedingung‹ im ›Wagner-Lexikon‹ (Ges. Schr. Band III, S. 84).


60 Haugs ›Altes Testament‹, einleitendes Vorwort: ›Zur Kulturgeschichte‹, S. XXXV–XXXVII (verkürzt).


61 Ebendaselbst, S. 364/67 (auszugsweise).


62 Vgl. auch Ges. Schr. X, S. 344 (›Erkenne dich selbst‹), wo er denselben Ausdruck anwendet, diesmal in voller Aneignung, ohne Anführungszeichen; er hatte ihn inzwischen – einmal eingeführt – als den seinigen adoptiert.


63 Der Stadtgärtner Helmrich, ein im blühenden Alter stehender, in seinem Geschäfte sehr tüchtiger Mann, der einst nach den Anweisungen des Meisters und unter Munckers sorgender Teilnahme den Garten von Wahnfried angelegt (Band IV, S. 396. 401), und noch bei der kürzlich erfolgten plötzlichen Entlassung des bisherigen Gärtners (S. 207 dieses Bandes) eben dieses Gartens von neuem kräftig sich angenommen, – jung, fröhlich, tätig, scheinbar ohne Sorgen, ein freundlicher, vom Meister und den Seinigen stets gern gesehener Menschen – hatte sich am 23. Juli, nachmittags zwischen 2 und 3 Uhr in der großen Restauration vor dem Festspielhause aus unbekannten, von niemand auch nur geahnten Gründen plötzlich erschossen (›Bayreuther Tageblatt‹ vom Donnerstag den 24. Juli 1979).


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 190-239.
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