9.

Es ist bekannt, daß die Entstehung der Oper mit dem Bestreben zusammenhing die Weise, in welcher die antike Tragödie dargestellt worden sei, ausfindig zu machen und zu reproduciren. Die Opera seria zeigt in ihrer späteren fest ausgebildeten Form, wie weit sich diese auch von jenen ersten Bestrebungen entfernt hat, doch noch den Einfluß derselben. Daß, worauf man damals hauptsächlich ausging, war das Recitativ, eine Vortragsweise, welche zwischen dem rein musikalischen Ausdruck der lyrischen Poesie – für welchen man damals fast ausschließlich den mehrstimmigen Gesang gebrauchte – und der gewöhnlichen Sprache die Mitte hielt, geeignet dem Dialog sowohl in der epischen Erzählung als bei der dramatischen Action zu dienen, rasch, biegsam, ausdrucksvoll, musikalisch in ihren Elementen, aber diese leichter und freier gestaltet als in der eigentlichen Verarbeitung der damals üblichen künstlerischen Form. Es bedurfte langer Zeit und Anstrengung, ehe der Compromiß zwischen Sprache und Gesang, auf dem das Wesen des Recitativs beruht, zu Stande kam; dieses blieb dann die Grundlage der Opera seria, auf welcher den Monodien und Chören der antiken Tragödie entsprechend die musikalisch ausgeführten Gesänge hervortraten, in welchen die gesteigerte lyrische Stimmung ihren Ausdruck fand.

[240] Da man von der antiken Tragödie ausging, so waren auch die Gegenstände, welche man für die Oper geeignet hielt, der alten Mythologie oder Geschichte – beide wurden damals ja als vollkommen gleichartig angesehen – fast ausschließlich entnommen. Die Art, wie sie in der Oper poetisch aufgefaßt und behandelt wurden, war freilich von antikem Geist so entfernt als möglich. Die Aufführung der Opern wurde bald ein integrirender und zwar einer der wichtigsten Theile der Hoffeste, und dies bestimmte am meisten den Charakter ihrer Ausbildung. Man suchte dem Text eine unmittelbare Beziehung auf das Fest und die Gefeierten zu geben, wählte danach den Gegenstand und führte ihn in jener allegorischen Weise aus, in der die Ungeheuerlichkeit einer poesielosen Phantasie mit der einer devoten Schmeichelei wetteifert, und für welche die »fabuleuse Historie« eine unerschöpfliche Rüstkammer abgab. Den Traditionen der alten Tragödie gemäß hatte man auch den mimischen Tanz mit dem Gesang verbunden, mehr und mehr wurde aber nicht die Steigerung der poetischen Wirkung, sondern ein blendender Glanz sinnlicher Pracht der Zweck dieser Vereinigung der verschiedenen Künste. Auf eine vernünftig zusammenhängende Handlung, dichterische Darstellung der Leidenschaften und Situationen kam es immer weniger an, sondern nur auf einen bunten Wechsel von Costumes, Maschinerien und Decorationen, wozu man in der Mythologie allen möglichen Apparat und in der Willkühr, welche man in der Behandlung derselben für erlaubt hielt, die poetische Berechtigung fand1. Der Aufwand, [241] die Pracht der Decorationen und Costumes, die Leistungen der Maschinisten, in welchen sich Anfangs die Höfe von Italien und Frankresch, dann auch die deutschen von Wien, München, Dresden und Stuttgart überboten, waren außerordentlich und übertreffen in vieler Hinsicht noch die anerkennenswerthen Bestrebungen der Decorationsoper unserer Zeit2. Die Musik suchte in diesem Strudel sich oben zu erhalten so gut sie es vermochte und wirklich erfahren wir, daß man auch damals neben der Befriedigung anderer Sinne sich noch durch die Composition habe entzücken lassen.

Allein die Ausbildung der Oper nach dieser Richtung hin führte zu einer Reaction, welche zunächst aus zwei Ursachen hervorging. Die eine war der äußerliche Umstand, daß die Opern des außerordentlichen Aufwands wegen nur an fürstlichen Höfen bei feierlichen Gelegenheiten gegeben werden konnten. Nun aber wollte das Publicum an Genüssen der Art Theil nehmen, es verlangte regelmäßige Wiederholung und für Theaterunternehmer (impresarj), welche Geld einnehmen und nicht zusetzen wollten, wurde es eine Nothwendigkeit den Aufwand für die äußere Darstellung einzuschränken3. Hierzu kam dann ein anderes ungleich bedeutenderes Moment, ohne dessen Hervortreten jenes erste wahrscheinlich [242] gar nicht zur Geltung hätte kommen können, die Ausbildung der Gesangskunst zu einer Höhe, daß sie das musikalische Publicum zu beherrschen fähig war und es möglich machte den Genuß des Sehens durch den des Hörens zu ersetzen. Dies ist der Ausgangspunkt für die Umbildung der Oper, welche unter dem Zusammenwirken günstiger Umstände ihre feste Gestalt durch Dichter und Componisten erhielt, während das belebende Element wesentlich von den Sängern ausging4.

Die Neugestaltung der Oper5 wird allgemein Alessandro [243] Scarlatti6 zugeschrieben, dem Schüler des römischen Kapellmeisters Giacomo Carissimi7. Scarlatti gründete die neapolitanische Schule, deren Meister in ununterbrochener Tradition die italiänische Oper des vorigen Jahrhunderts gestaltet und ausgebildet haben8. Wie weit Scarlatti[244] die seit ihm im Wesentlichen feststehende Form erfunden oder dem schon vorhandenen ein bleibendes Gepräge verliehen, welchen Antheil seine Nachfolger an dem weiteren Ausbau im Einzelnen gehabt haben, das ist bis jetzt nicht hinreichend erforscht, wie denn auch die Mehrzahl dieser Meister in der Geschichte der Musik noch wie die Schatten in der homerischen Unterwelt erscheinen, matte Scheinbilder ohne individuelles Leben9, das ihnen erst die Darstellung eines gründlichen Forschers geben kann10. Hier, wo es nur die [245] Aufgabe ist, die Grundzüge jener Form, welche Mozart in fester Ueberlieferung fertig überkam, klar und anschaulich zu machen, kann man auf das Detail individueller Richtungen und Talente wohl verzichten. Denn allerdings ist ein stets und mit Recht als charakteristisch hervorgehobener Zug in der Entwickelung dieser Oper ihre Stabilität, daß sie an den einmal aufgenommenen Formen mit Zähigkeit festhält. Zum Theil war dieses in den allgemeinen Ansichten und Verhältnissen der Zeit begründet, welche auch sonst ähnliche Etscheinungen hervorriefen, zum Theil lag es im Charakter der Italiäner, deren Neigung einer Schönheit zugewendet ist, welche für jede empfängliche Natur unmittelbar ansprechend und leicht faßlich ist, wofür es neben sinnlichem Reiz vor Allem einfacher und klar ausgesprochener Formen bedarf. Dieser Schönheit werden dort noch heute Neuheit und Charakteristik wenn es sein muß, und allerdings auch wenn es nicht sein muß, willig geopfert. Endlich liegt dieses Festhalten an der einmal gewonnenen Form im Wesen der sich natürlich entwickelnden Kunst selbst. Wenn dieselbe sich Formen gebildet hat, in welchen ein ihr wesentliches Element seinen Ausdruck findet – und gewiß war es für die Musik wesentlich Formen zu finden, in denen der Gesang künstlerisch zur Geltung kam –, hält sie dieselben mit Eifer und Zähigkeit bis zur Einseitigkeit fest, bildet allmählich an ihnen fort und giebt sie nicht leicht eher auf als bis sie sich vollständig ausgelebt haben. Und diese Stetigkeit einer oft fast unmerklich fortschreitenden [246] Ausbildung ist die nothwendige Bedingung für die Wirksamkeit jener großen Meister, welche die nach den verschiedensten Richtungen scheinbar bis zur Erschöpfung ausgebildeten Formen als Vorbereitungen zu einem Größeren empfangen, um sie insgesammt einer höheren Stufe der Vollendung zuzuführen und ein neues Ganze aus ihnen erstehen zu lassen.

Fußnoten

1 Die deutsche Zauberoper ist ein Reflex dieser Festoper. Indem sie dem gemeinen Publicum einen ähnlichen Sinnengenuß bieten wellte, wie ihn die vornehme Welt in jenen großen Opern fand, schlug sie denselben Weg ein, nur entlehnte sie die Elemente dazu dem Kreise der nationalen Vorstellungen und Anschauungen und führte sie phantastisch aus, wenn auch selten poetisch. Dies nationale Element ist jedenfalls sehr bedeutend und hat sich, wie wir sehen werden, künstlerisch wirksam erwiesen.


2 Die prachtvollen in Folio gedruckten Textbücher mit ausgeführten Kupferstichen, welche man bei solchen Festlichkeiten vertheilte, geben eine Vorstellung von dem Glanze dieser Aufführungen.


3 Es ist meines Wissens nicht bekannt, wann es regelmäßige Sitte wurde, die Oper zur Hauptfeier des Carnevals zu machen, woran sich die Ausbildung der zum großen Theil noch jetzt in Italien gültigen Einrichtungen der impresa knüpft; ebenso wenig ist die allmähliche Entwickelung derselben nachgewiesen, was von mannigfachem Interesse sein würde.


4 Während die ersten Anfänge der Oper mit Vorliebe und Eifer erforscht sind – es genügt auf Kiesewetter (Schicksale und Beschaffenheit des weltlichen Gesanges S. 38ff.) zu verweisen – ist dagegen für die Geschichte der Oper seit Scarlatti Wenig oder Nichts gethan. Das bekannte Buch von Stef. ArteagaLe rivoluzioni del teatro musicale Italiano. Venedig 1785 3 Bde., in deutscher Uebersetzung von Forkel: Geschichte der italiänischen Oper. Leipzig 1789 2 Bde. – giebt für die eigentliche Geschichte der Oper geringe Ausbeute. Arteaga hatte sich mit musikalischen Studien nicht selbst beschäftigt, dieser Theil seines Buchs soll auf Mittheilungen vom Padre Martini beruhen; Arteagas Leistung ist die ästhetische Kritik nach allgemeinen Grundsätzen. – G.W. Finks Wesen und Geschichte der Oper (Leipzig 1838) ist dürftig und offenbar meist aus abgeleiteten Quellen geflossen. Eine sorgfältige Detailforschung würde für die Kunst- und Culturgeschichte des vorigen Jahrhunderts interessante Aufschlüsse geben. Ich selbst habe eine solche nicht anstellen können; was ich selbständig kennen lernen und prüfen konnte ist gering gegen die ungeheure Masse des Materials und ich werde mich gern bescheiden, wenn meine Darstellung von groben Mißgriffen frei geblieben ist.


5 Es ist beachtenswerth, daß die Oper in Paris, welche Lully hauptsächlich seit 1672 begründete, aus Italien auswanderte, ehe dort die Umgestaltung der Opera seria vollbracht war, und von allen Reformationen unberührt blieb, welche man in Italien vornahm. Als später Gluck die französische große Oper reformirte, fand er daher dort einen eigenthümlichen Boden für seine Bestrebungen vor.


6 Alessandro Scarlatti war 1659 in Trapani geboren. Im Jahr 1680 schrieb er in Rom die OperL'onestà nell' amore, und lebte seit 1693, mit einer Unterbrechung von 1703–1709, wo er sich in Rom aufhielt, in Neapel; hier starb er 1725. Er hatte nach seiner eigenen Angabe im Jahr 1715 bereits 106 Opern componirt.


7 Giacomo Carissimi – geb. in Padua, im Jahr 1672 gegen 90 Jahr alt, Kapellmeister an der St. Apollinariskirche in Rom, – kann als Begründer des modernen Gesangs im Recitativ wie in der Cantate angesehen werden. Obgleich es nicht erwiesen und nicht einmal wahrscheinlich ist, daß Scarlatti sein unmittelbarer Schüler war, so ist es unzweifelhaft daß seine Schule bestimmenden Einfluß auf ihn übte.


8 Leonardo Leo (1694–1756 oder 1745), aus derselben Schule hervorgegangen und in derselben Richtung wirkend, war lange nicht so fruchtbar als Scarlatti. Der Schüler und Nachfolger Scarlatti's Francesco Durante (1693–1755) war zwar für die Oper selbst nicht thätig, allein aus seiner vortrefflichen Schule ging eine Reibe von Componisten hervor, welche fast alle in beiden Gattungen der Oper wie für die Kirche mit Auszeichnung schrieben. Hier mögen nur die bedeutendsten genannt werden Nic. Porpora (1685 oder 1687–1767), Dom. Sarri (1688–1732), Leon. Vinci (1690–1734 oder später), Franc. Feo (1694–1740 oder später), Ad. Hasse (1699–1783), Terradeglias (17..–1734), Jesi genannt Pergolese (1707–1739), Pasq. Cafaro (1708–1787), Duni (1709–1775), Dav. Perez (1711–1778), Nic. Jomelli (1714–1774), Rinaldo da Capua (geb. 1715), Tom. Traetta (1727–1779), Guglielmi (1727–1804), Nic. Piccini (1728–1800), Sacchini (1735–1786), Pasq. Anfossi (1736–1797), Giac. Paisiello (1741–1816), Franc. de Majo 1745–1774), Dom. Cimarosa (1754–1801). Es ist zum Erstaunen, daß in dieser langen Reihe von Componisten, in welcher wir bis zu Mozarts Zeitgenossen gelangt sind, die sämmtlich der neapolitanischen Schule angehören, nur vier sich befinden, welche nicht auch im Königreich Neapel geboren waren, Hasse, Terradeglias, Pergolese und Guglielmi. Das übrige Italien hatte diesen sehr wenige Operncomponisten von ähnlicher Bedeutung an die Seite zu stellen, namentlich Franc. Gasparini aus Lucca (1665–1737), der in Venedig und Rom thätig war, Balt. Galuppi (1703–1785), genannt Buranello der in Venedig und Gius. Sarti (1729–1802) der in Bologna gebildet war. Uebrigens galt Rom für den Ort, dessen Publicum am schärfsten kritisirte und Beifall wie Mißfallen mit dem größten Enthusiasmus äußerte, wo daher Künstlerreputationen hauptsächlich gegründet und zerstört wurden und natürlich auch die Parteiintrigue am lebhaftesten war (Burney Reise I S. 293); und grade Rom hat für die Oper bedeutende Meister weder geboren noch gebildet.


9 Wer sich überwindet Heinses widerwärtige Hildegard von Hohenthal zu lesen, wird aus seinen panegyrischen Zergliederungen schwerlich ein anschauliches und klares Bild von den einzelnen Meistern, geschweige denn von dem Entwickelungsgang der Oper bekommen. Indessen ist das Buch charakteristisch für die Stimmung und das Urtheil der damaligen Enthusiasten für italiänische Musik. Dazu gehört es auch, daß Mozart in dem im Jahr 1798 erschienenen Buche nur eine kurze beiläufige Erwähnung gefunden hat, aber nicht mit in die Reihe der Meister gestellt ist. – Auch die Charakteristik, welche Riehl (musikalische Charakterköpfe S. 111ff.) von Hasse giebt, ist ziemlich allgemein gehalten und gar Manches gilt von der Zeit überhaupt, nicht allein von Hasse.


10 Die größte Schwierigkeit liegt in der Unzugänglichkeit des wesentlichen Materials, der Opernpartituren. Die Fruchtbarkeit der meisten Componisten ist außerordentlich, sie schrieben für sehr verschiedene Theater, und nur die Opern, welche großes Gluck machten, gingen auf andere Bühnen über und wurden also wenigstens in Abschriften verbreitet, denn gedruckt wurde bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts keine oder sehr wenige italiänische Opernpartituren. Da ferner die Opern noch mehr als andere Compositionen eine nur momentane Würdigung erfuhren, so ist wenig Acht auf ihre Erhaltung gegeben; auch jetzt scheint in den Sammlungen die Oper des vorigen Jahrhunderts gegen andere Zweige der Musik eher zurückgesetzt zu werden.


Quelle:
Jahn, Otto: W.A. Mozart. Band 1, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1856, S. 1.
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