VI.

[259] Als Brahms im Juli 1891 der Freifrau von Heldburg den humorvollen Brief über Mühlfeld schrieb und sich mit seinen eben fertig gewordenen Klarinettsachen in Meiningen einlud, dachte er vorerst an das Trio, für das er sich in der Person Hausmanns eines vortrefflichsten Cellisten versichern wollte. Seine Einladung wurde, wie er voraussah, mit Freuden begrüßt, und ihm nahegelegt, auch Joachim, der sich selbst gemeldet hatte, für die bevorstehende musikalische Festivität zu gewinnen.1

Im Oktober schrieb Brahms nach Meiningen:


»Verehrteste Frau Baronin,


Darf ich in aller Kürze mitteilen, daß Joachim und Hausmann am 23. und 24. November in Meiningen sein könnten, und anfragen, ob das (und ich dazu) Seiner Hoheit und Ihnen genehm und recht wäre? Ich möchte mir erlauben, einige Tage früher zu kommen, und wünschte sicher dasselbe für Hausmann.

Sie erwähnten neulich bei dieser Ihrer Angelegenheit Steinbachs. Ich weiß nicht, ob Sie dabei an ein eigentliches Konzert-Engagement, überhaupt an eine öffentliche Betätigung mit Orchester der Herren dachten. Ich glaube nun nicht, daß dies nebenbei in den zwei Tagen möglich wäre, jedenfalls aber würde es uns um alle nötige Ruhe und Behaglichkeit für unsere – Pardon – Ihre eigentliche Sache bringen. (Diese Ihre Sache sind zwei recht schwere Stücke!)

Damit aber doch etwas Interessantes auf das Papier kommt, schreibe ich ab aus einem ›Curieusen Antiquarius von 1709‹: [259] ›Meiningen wird die Harffen-Stadt genannt, weil sie in Form einer Harffen gebauet ist.‹

Ist das so geblieben, oder ist die Stadt zeitgemäß zur Konzertflügelform vorgeschritten? ...«

Seine Ankunft (20. November) meldete Brahms mit der Bitte an, ihn nicht gleich mit einem prachtvollen Diner in Verlegenheit zu setzen, höchstens wäre er zu einer Tasse Kaffee zu verführen. Er probierte am 21. das Trio mit Mühlfeld und Hausmann, am 24. das Quintett mit Joachim und verlebte mit den Berliner Freunden, dem ebenfalls eingeladenen Rudolf v.d. Leyen und »Fräulein Klarinette« im Herzogsschlosse ein paar glückliche Tage, die sich für ihn zu einer behaglichen Woche ausdehnten. Seine Werke enttäuschten ihn nicht. Joachim brachte dem Freunde das Opfer, nach einem Konzert in Darmstadt die Nacht durch zu reisen, um am 24. morgens in Meiningen das Quintett probieren und abends vorspielen zu können – er mußte am 25. schon wieder nach Berlin zurück. Auch Klara Schumann, die im Sommer die Meininger Herrschaften bei Richard Voß kennen gelernt hatte, wurde dort erwartet. Leider erlaubte ihr leidender Zustand die Reise nicht, sie konnte die liebenswürdige Einladung der Baronin nicht annehmen und mußte sich von Joachim über das, was sie versäumt, berichten lassen. Die anderthalb Tage, schreibt er, werden ihm unvergeßlich bleiben. Er ist von den beiden neuen Kompositionen, »die ihres Urhebers ganz würdig sind«, entzückt. Das Quintett wäre vielleicht tiefer, das Trio freundlicher. »Brahms«, schließt er, »ging auf meinen Vorschlag, die Stücke in unserm nächsten Berliner Quartett, am 12. Dezember, zu bringen, aufs reizendste ein, will selbst spielen. Ihm zuliebe soll einmal von unserer Gewohnheit, nur Streichmusik zu bringen, abgegangen werden: das muß der Dümmste verstehen!«

Man muß den konservativen Geist des Berliner Singakademie-Publikums, insbesondere des der seit einem Menschenalter am gleichen Modus festhaltenden Joachimschen Quartettsoireen, gekannt haben, um die Wichtigkeit ermessen zu können, welche jenem Ausnahmefall beigelegt wurde. Als handelte es sich um einen revolutionären Staatsstreich, sahen viele, auch die Künstler, dem Abende des 12. Dezember in banger Erwartung entgegen, an welchem das [260] Joachimsche Quartett, wie Brahms an Simrock von Meiningen schreibt, durch ihn seine Jungfernschaft verlieren sollte:2 er dringe mit Klarinette und Klavier in das keusche Heiligtum, nachdem er vergebens abgeraten habe, ein Mozartsches Streichquartett von Trio und Quintett in die Mitte nehmen zu lassen. Aber die zwei Tage vor der Aufführung abgehaltene öffentliche Probe erweckte die günstigste Stimmung für das unerhörte Ereignis, und der Abend brachte dem Meister und seinen Genossen Ovationen, wie sie in den heiligen Hallen der Singakademie seit Olims Zeiten nicht dagewesen waren. Das Publikum, mit Hans von Bülow und Adolf Menzel an der Spitze, geriet außer Rand und Band und begehrte nichts weniger als einda capo des ganzen Quintetts. Joachim verstand sich zu einer Wiederholung des Adagios, das besonders stürmischen Beifall gefunden hatte, und es wurde »so oft und so lange gespielt, wie es der Klarinettist nur aushalten konnte«.3

Schon bei dem vorjährigen Berliner Aufenthalt war Brahms in nähere Beziehungen zu seinem illustren Ordensbruder (Pour le mérite), dem »Hof-, Kriegs-und Staatsmaler Friedrichs des Großen« getreten. Beide standen, hoch an Jahren, auf dem Gipfel ihrer Meisterschaft, im Zenith ihres Ruhmes. Sie hatten gleich bemerkt, daß sie zueinander gehörten, und vertrugen sich deshalb so prächtig, weil sie Menschen eines Schlages und in den entscheidenden Fragen des Lebens und Berufes auch Männer eines Sinnes waren. Es gab keine grimmigeren Verächter des leeren Scheines und des hohlen Klanges als Adolf Menzel und Johannes Brahms. Mit jenem, vom Wesen der Dinge abgezogenen Kultus des Oberflächlichen, der das Mittel zum Zwecke macht, wollten sie nichts zu schaffen haben. Die Wahrheit galt ihnen als Mutter der Schönheit. Das geübte Auge, das geprüfte Ohr beherrschte nicht ihr Denken und Empfinden, sondern diese vorzüglich ausgestatteten Organe dienten ihrem Willen, wenn er sie in die Tiefe ihres Gemütes hinab, an die Hoheit ihres Geistes heranreichen [261] ließ. Ihre Technik war in allen Schulen zu Hause, aber hatte sie alle beizeiten absolviert und das letzte aus sich selbst gelernt. Ein Ergebnis von Kennen und Können, setzte ihre Kunst die genaueste Wissenschaft des Gegenstandes voraus, an dem sie ihre idealisierende Macht erwies. Dennoch bedeutete ihr jede neue Aufgabe ein Novissimum, an das sie mit der heiligen Einfalt eines Kindes heranging, um sie mit der schöpferischen Kraft eines Gottes zu lösen. So eigneten sie sich die Welt an, die sie erlebten und erträumten, durchforschten und durchfühlten, und machten sie zu der Welt ihres Inneren, nach der sich die andere da draußen zu richten hatte, wenn sie vor ihrer Kritik bestehen wollte. Ehe Brahms sein Requiem und Triumphlied sang und seine Symphonien dichtete, hat er zum Tanze aufgespielt und à la mode-Stücke für den Musikalienmarkt komponiert, und ehe Menzel den Triumph des großen Preußenkönigs feierte, ehe er das hohe Lied der Arbeit anstimmte, hat er Schablonen für Zimmermaler entworfen, Etiketten für Weinhändler und Vignetten für Geschäftsanzeigen gezeichnet.

Als Menzel die Klarinettstücke in der Singakademie hörte, bekam er eine seiner jugendlichen mythologischen Anwandlungen, wie sie, fast eine Verkündigung Klingerscher Phantasien, in den Holzschnittbildern zu den Werken Friedrichs des Großen spuken. Er zeichnete mit chinesischer Tusche einen griechisch profilierten, männlich-weiblichen Idealklarinettisten, eine Art Muse im Smoking, mit Kragen und Manschetten und einem Kopfschmuck von Haaren und Blättern, und setzte in seiner monumentalen, geschwungenen Pinselschrift darunter: »Nur die Euterpe selbst konnte eine gewisse Partie in einem gewissen – – so blasen! A.M.«4 Brahms, dem das Blatt so wohl gefiel, daß er sich nicht davon trennen mochte, schrieb in einem Dankbrief an Mühlfeld, dem er seine eigene Photographie beilegte, folgendes:

»Lieber und geehrtester Herr! Mit den herzlichsten Grüßen sende ich hier das gewünschte Bild und denke ein besseres versprechen zu können. Adolf Menzel in Berlin hat die Klarinettistin im Quintett gezeichnet (ich sagte doch schon immer ›Fräulein‹!). – [262] Wenn sich das Bildchen photographieren läßt, sende ich Ihnen eine Kopie. Es ist Ihnen nicht sehr ähnlich, aber desto schmeichelhafter für Sie!5

Sie mögen denken, wie große Freude es mir ist, daß Sie sich nicht vergebens mit meinen Stücken plagten, und daß eben diese ein Anlaß wurden, so vielen andern Ihre Meisterschaft zu zeigen. Mit ungemeinem Behagen begleite ich Sie im Geiste auf Ihren Fahrten und wiederhole mir in Gedanken die schönen künstlerischen Genüsse, deren sich so oft erfreuen durfte Ihr dankbar ergebener J. Br.«

Brahms konnte die Gastfreundschaft, die ihm im Hause Simrock geboten wurde, nur kurze Zeit genießen; denn er reiste schon am 13. Dezember nach Wien, und Joachim begleitete ihn. Seine und Joachims Ankunft in Wien hatte er Epstein mit der Versicherung angezeigt, sie äßen mit. Beide nahmen zu Beethovens Geburtstage an dem Festmahle der Wiener Konservatoriums-Professoren teil, das diese, auf Grund eines menschenfreundlichen Vermächtnisses, seit dem Jahre 1887 regelmäßig am 16. Dezember in dulci jubilo vereinigt. Eduard Marxsen, Brahms' alter Lehrer, der in seiner Jugend bei Bocklet und Seyfried in Wien studierte,6 war der gütige Spender dieser periodischen Festivität. Hatte sein Schüler durch die Herausgabe der hundert Variationen, die er zum achtzigsten Geburtstage Marxsens bei Simrock erscheinen ließ,7 dafür gesorgt, daß der längst aus der Mode gekommene Komponist der CAFFEE-Phantasie noch einmal als Autor in die Öffentlichkeit trat, so suchte der Lehrer sich in Wien ein noch wärmeres Andenken bei seinen Berufsgenossen zu sichern. Noch acht Tage vor seinem am 18. November 1887 erfolgten Tode schickte er dem Legat für das Beethoven-Geburtstagsessen eine besondere Summe nach »auf ein Gläschen Champagner dazu«. Ihr Teil daran hatten sich Brahms, der übrigens ständiger Ehrengast des Liebesmahles war, und Joachim redlich verdient, indem sie in einem großen Konservatoriumskonzert mitwirkten, das am 15. Dezember zugunsten des Lehrkörpers stattfand. Joachim spielte [263] Max Bruchs damals neues drittes Violinkonzert und mit Brahms Ungarische Tänze, Brahms begleitete Gustav Walter und Marianne Brandt zu Liedern von Schubert und Rubinstein, Hellmesberger dirigierte das Orchester.

Am nächsten Tage wurde nach einem Diner bei Viktor v. Miller ebendort mit dem Quartett Rosé eine Orientierungsprobe für das Klarinettquintett abgehalten, bei welcher Joachim die Klarinettpartie auf der Bratsche spielte. Daß das Titelblatt der Partiturausgabe, nicht bloß bei dem Quintett, sondern auch bei den übrigen Klarinettstücken die Weisung »für Klarinette (oder Bratsche)« enthält, wird leicht übersehen. Die eingeklammerte Bratsche wünscht, wie der kleine Druck zeigt, nicht aufzufallen. Nur in der Not darf zu dem Saiteninstrument gegriffen werden, wenn absolut kein annehmbarer Klarinettist zu beschaffen sein sollte. Nachdem Rosé und Genossen das Quintett mit Joachim noch einmal wiederholt hatten, eilte Brahms schon wieder in den Musikverein zur Hauptprobe seines Klarinett-Trios, das am 17. Dezember 1891 zum ersten Male in Wien von Brahms mit dem Klarinettisten Adalbert Syrinek und Ferdinand Hellmesberger aufgeführt wurde. Böse Zungen behaupteten, daß die im Weingeist vereinigten Geister Marxsens und Beethovens dem Meister das Spiel verdorben hätten, so daß er sich mit einem Achtungserfolge begnügen mußte. Tatsache ist, daß Brahms überhaupt nicht gern im Quartett Hellmesberger auftrat, seitdem dessen glorreicher Primarius die Regierung seinen Söhnen Pepi und Ferdinand übergeben hatte. Auch bei den »Philharmonikern«, die Brahms bei der Premiere seiner e-moll-Symphonie zugunsten Bülows und der Meininger übergangen hatte, ohne ihnen während der seither verflossenen sechs Jahre etwas Besonderes zu tun zu geben, war er nicht beliebt, und sie brachten am 3. April seine, A-dur-Serenade schläfrig und verdrossen zur Aufführung. Die bekannten Lümmel im Stehparterre, welche glaubten, nun blühe ihr Weizen, singen wieder an, heftig zu zischen, und provozierten dadurch eine Demonstration des Publikums für den unbillig gekränkten Meister, die sie gründlich aufs Maul schlug. »Die A-dur-Serenade«, schreibt Brahms an Bülow, »hatten wir auch gerade letzten Sonntag. Aber wir haben an einem Mal genug, denn sie hat niemandem [264] Spaß gemacht, niemandem – denn auch mich kann ich nicht ausnehmen.« – Ähnlich äußerte sich Brahms zu seinem alten Freunde Otto Dessoff, als dieser 1892 die Serenaden in den Frankfurter Museumskonzerten wieder aufführte und sich mit dem Komponisten über die Tempi durch klassische Beispiele zu verständigen suchte: »Deine Art vergleichender Tempo-Angabe finde ich sehr gut und übe sie schon lange – Freunden gegenüber, öffentlich könnte sie sehr mißverstanden werden! Deinen Brief vor mir, gab ich mir nun ein kleines, stilles Konzert, abwechselnd Br., Beeth. und Mozart, und Deine Tempi waren mir alle sehr recht, wenn ich so aus der Erinnerung jeden Satz der Serenade anfing. Hervorgesucht aber habe ich das Stück nicht, denn ›besondere Anschauungen oder Absichten‹ habe ich keine. Ich dirigiere oder spiele so ein älteres Stück mit mehr oder weniger Katzenjammer (bisweilen auch mit allem Behagen), hüte mich aber vor genauerer Betrachtung und gar der damit zusammenhängenden Kritik.«8

Mit dem Quintett machten Arnold Rosé, August Siebert, Sigmund Bachrich, Reinhold Hummer und F. Steiner am 5. Januar 1892 freudiges Aufsehen, und das Verdienst der Künstler wurde nicht in Schatten gestellt dadurch, daß noch im Laufe desselben Monats das Quartett Joachim mit Mühlfeld ihre Berliner Triumphe in Wien wiederaufleben ließen. Hier war keine geheiligte Tradition mehr zu durchbrechen: das Quintett erschien am 19. Januar zwischen Quartetten von Mozart (G-dur, K. Nr. 387) und Beethoven (C-dur, op. 59), das Trio am 21. zwischen Schumann (F-dur) und Beethoven (B-dur, op. 130) – die Generalprobe, mehr für die Zuhörer als für die Spieler, war der Aufführung am Tage vorher bei Fellingers vorangegangen, der Billroths, Fabers, Millers, Hanslick, Kundmann und der Verfasser beiwohnten. Nach dem zweiten Abend gab es im »Roten Igel« eine Festivität, wie das ehrwürdige »Beisel« noch keine erlebt hatte. Auf Brahms' Anordnung wurden auch bei dieser besonderen Gelegenheit die vornehmeren Lokalitäten des ersten Stockwerkes gemieden, und keiner der gewöhnlichen Abendgäste des Parterre-Restaurants durfte in seiner Ruhe gestört werden. Aber da sich [265] das letzte (Beethoven-) Gewölbe, in welchem Brahms sonst immer saß, als zu klein für die vom Bösendorfersaale herüberkommenden Freunde erwies, so wurden im mittleren (Durchgangs)-zimmer längs der Wand fünf Tische zusammengestellt, an welchen in bunter Reihe alles Platz nahm, was zu dem erweiterten Freundeskreise gehörte. Vergebens bemühten sich zwei schöne Frauen um den Helden des Tages, den sie gern zum Nachbar gehabt hätten. Er war aus seinem Winkel am unteren Ende der Tafel nicht herauszulocken. Dort saß Brahms zwischen seinen beiden Klarinettisten (Steiner, den niemand kannte oder wiedererkannte, und Mühlfeld, den jeder gern hätte näher kennen lernen mögen) und sah darauf, daß sie die besten Bissen bekamen und mit Bier und Wein aufmerksam versorgt wurden. Dabei behandelte er den Klarinettisten des Rosé-Quartetts mit besonderer Auszeichnung, damit er sich nur ja nicht, dem fremden Künstler gegenüber, zurückgesetzt fühle.9

Joachim führte die neuen Kammermusikstücke in England ein. Mühlfeld wurde dazu telegraphisch nach London berufen. Der Herzog von Meiningen hatte ihm ein für allemal Urlaub erteilt, wohin immer er als Kammervirtuose des geliebten Meisters gehen würde. Das Quintett wurde zuerst von Joachim, Straus, Ries und Piatti nach vier gründlichen Proben – Mühlfeld machte die letzten drei mit – am 28. März in einem der Monday-Popular-Konzerte gespielt. Der Erfolg war so groß, daß die Spieler dreimal, statt einmal, wie üblich, hervorgerufen wurden, und so nachhaltig, daß sie das Quintett für Samstag neben dem Trio (mit Miß Fanny Davies am Klavier) aufs Programm setzten, und am folgenden Montag beide Stücke wiederholten. Ein begeisterter Bericht von J.A. Fuller-Maitland, dem ausgezeichneten Musikkritiker der »Times«,10 ließ den Werken und den ausführenden Künstlern Gerechtigkeit widerfahren; und Joachim konnte dem Freunde nach Wien schreiben: »Du hättest Deine Freude daran, wie alle Guten: Stanford, Hubert, Parry, Grove usw. usw., [266] Dich hier lieben und verehren.« Damit aber nicht genug, erfolgte am 4. April eine dritte Aufführung des Quintetts bei mehr als ausverkauftem Hause, und das Trio, das zum zweitenmal »freier« gespielt wurde, gefiel noch besser als vorher. Joachim fügt hinzu, er gewinne das Stück (das Trio) immer lieber und bedauere nur, nichts dabei zu tun zu haben. Der »treffliche Behrens«, ein treuer englischer Brahms-Verehrer, war für den pekuniären Teil des Unternehmens, soweit er die Extraausgabe für Mühlfelds Reise und Honorar betraf, eingetreten, und Wilson, ein amerikanischer Konzertunternehmer, wollte Joachim für Chicago engagieren, indem er beteuerte, Brahms werde von der Regierung aufgefordert werden, hinzukommen.11

Zum zweiten Male wurde Brahms von der Universität Cambridge der Doktortitel honoris causa angeboten, und zum zweiten Male mit Dank abgelehnt. Brahms richtete in dieser Angelegenheit an Charles Villiers Stanford de dato Wien, 23. April 1892, folgendes Schreiben:


»Lieber und sehr geehrter Herr, ich nehme die Feder schwer in die Hand, denn wie soll man von vieler Dankbarkeit sprechen und ein Nein dazu sagen? Und doch bin ich Ihnen für Ihre Freundlichkeit und Ihrer Universität für die hohe Ehre, die sie mir erweisen will, ernstlich und herzlich dankbar – und doch wird es zum Juli auf ein ›Nein‹ hinauslaufen, wenn ich es auch heute Ihnen und mir selbst verschweigen und ausreden möchte.

Aber bedenken Sie vor allem freundlich: ich kann nicht nach Cambridge gehn, ohne auch London zu besuchen, in London aber wie vieles zu besuchen und mitzumachen – das alles aber im schönen Sommer, wo es auch Ihnen gewiß sympathischer wäre, mit mir an einem schönen italienischen See zu spazieren.

Wie sehr bin ich verführt, Ihre Einladung anzunehmen. Ist es nicht zudem eine ganz eigentliche schöne Musikfeier, und muß ich nicht fürchten, daß der alte Verdi mich an Jugendlichkeit und Dankbarkeit übertrifft und beschämt!?12 Aber wollte ich [267] auch heute meiner Neigung folgen und mein Kommen versprechen, ich weiß doch nur zu bestimmt, daß ich seinerzeit unmöglich zum Entschluß der Reise und alles Möglichen, was notwendig damit zusammenhängt, kommen würde.

So entschuldigen Sie mich lieber gleich heute möglichst gütig und freundlich, schelten auch ein weniges, lachen über den schwerfälligen Philister – aber halten nicht für gleichgültig und undankbar

Ihren sehr und herzlich ergebenen

J. Brahms.«


Wenn es angegangen wäre, seiner Büste, anstatt sich selbst den Doktorhut aufsetzen zu lassen, so hätte er den Abguß des Modells nach Cambridge schicken können. Denn was allen früheren, auf die Verewigung seiner Persönlichkeit abzielenden Bemühungen bisher mißlang, sollte endlich der hartnäckig sanften Überredungskunst des »freundlichen Miller« glücken. Auch war Brahms von der Last der auf seinem Ehrenscheitel gehäuften Zeichen der Anerkennung bedrückt und mürbe gemacht worden, und so ließ er sich von einem Viktor zum andern, von Miller zu Tilgner, wie ein Lamm zur Schlachtbank schleppen. Nur bedang er sich dabei aus, daß den drei Sitzungen, die er Tilgner zusagte, auch der Maler und Radierer Ludwig Michalek beiwohnen durfte, und da keiner der beiden Künstler dagegen Einspruch zu erheben wagte, obgleich natürlich jeder ihn gern allein für sich gehabt und vor sich gesehen hätte, so nahm die gefürchtete Prozedur in Tilgners Atelier ihren langsamen Anfang und ihr rasches Ende. Es war ein Glück, daß Brahms den Verfasser erst zur letzten Sitzung hinbeschied – ich »sollte mir die Geschichte doch mal ansehn« – sonst besäßen wir weder die Tilgnersche Büste noch die Michaleksche Radierung, die beide, außer ihren künstlerischen Qualitäten, doch auch ihren persönlichen Wert haben. Ich wollte den teils abgespannten, teils ungeduldigen Meister bewegen, seinen rücksichtsvollen Quälgeistern noch einige Séancen, aber jedem extra und zu besserer Tageszeit,13 zu gewähren, mit der Begründung, daß, [268] ganz abgesehen von deren verschiedenen Individualitäten, der Bildner sein Modell doch anders gewendet und belichtet haben möchte als der Zeichner. Brahms erwiderte darauf: »Das hätte mir noch gefehlt. Ich bin froh, daß ich heute damit fertig bin.« Die letzte Sitzung (im Januar 1891) sollte bis zum Einbruch der Dämmerung dauern, aber Brahms sprang schon nach einer Viertelstunde von der Estrade herunter und rief: »Länger halte ich's nicht aus.« Ob er sich Bild und Büste überhaupt jemals näher betrachtet hat, bleibt zweifelhaft, wenn er auch beides gelegentlich an Freunde verschenkte.14 Den ihm sympathischen Radierer empfahl er an Bülow, mit den Worten: »Falls ein Kupferstecher, Herr Michalek, Dich besuchen sollte, und falls er es wünschen sollte, sei und sitze ihm so geduldig wie ich!!!« – Bülow wird das schlechte Gewissen kaum geahnt haben, das sich in drei Ausrufungszeichen Erleichterung verschaffte.

Was Brahms Miller und Tilgner gewährt hatte, konnte er füglich der Frau Anna Franz und dem verdienstvollen Karl Kundmann, dem Schöpfer des Schubert-, Tegetthoff- und Grillparzer-Denkmals in Wien, nicht abschlagen. Frau Dr. Franz, geborene Wittgenstein, die Schwester der Frau Dr. Kupelwieser, Frau Professor Brücke, Frau Professor Oser und Fräulein Klara Wittgenstein – lauter Freundinnen des Meisters, in deren Häusern er verkehrte15 – hatte die Büste bestellt, und Brahms machte sein »Autor-Exemplar« Simrock zum Geschenk, mit dem Bemerken, es sei schlecht von ihm (Brahms) gewesen, daß er Meister Kundmann so wenig Zeit gegönnt hätte.

An der Aufführung des Dóczi-Straußschen »Ritter Pasman« in der Wiener Hofoper, der nach wiederholten Aufschüben zu Neujahr 1892 unter Wilhelm Jahn mit Glanz in Szene ging, [269] nahm Brahms freundschaftlichen Anteil. Er hatte schon im November Simrock um einen Klavierauszug gebeten, in der Erwartung, Generalprobe und Aufführung des Werkes noch vor seiner Berliner Reise zu erleben, und es widerfuhr ihm, daß er wie vor einer eigenen Premiere zitterte. »Die ganze Begebenheit«, schreibt er, »interessiert mich doch recht herzlich, und ich wünschte, der gute Strauß käme gut durch. Ich denke mit Teilnahme seiner, er ist nicht jung, furchtbar aufgeregt, und – die Frau, die nur immer noch einheizt!« Nach dem Studium des Klavierauszuges hatte es Brahms gleich weg, daß der dritte Akt mit Ballett oder das Ballett mit dem dritten Akt die Hauptsache war, und er wunderte sich, wie andere, darüber, daß ein solcher, von musikalischem und poetischem Leben glühender Akt nicht imstande war, ein doch auch sonst reich mit Vorzügen ausgestattetes Werk, das so bald in der Gunst des Publikums sank, über Wasser zu halten. Noch weniger aber begriff er den unerhörten Erfolg, den Massenets »Werther« bald darauf (am 16. Februar) davontrug, und war ergrimmt darüber, daß ein solcher »französischer Zuckerbäcker« sich an Goethe ungestraft versündigen durfte. Auch ich, der ich mir als Bearbeiter und Übersetzer der Oper Mühe gegeben hatte, zu retten, was zu retten war, und einigen Unsinn der französischen Librettisten glimpflich zu entfernen oder ins Sinnige umzudichten, bekam mein Teil weg, und als Hanslick in seiner Gegenwart mich befragte, warum mein Name auf dem Titelblatte der deutschen Partitur fehle, höhnte Brahms: »Beruhige Dich, Massenets, Werther' kommt ja doch in Kalbecks sämtliche Werke!«16 Nun konnte gar nichts Drolligeres passieren, als daß Brahms eine begeisterte Tischrede anhören mußte, die der Komponist des »Werther« zu seinem Lobe vom Stapel ließ. Wir waren mit Johann Strauß und Massenet vom Herausgeber eines großen Wiener Blattes zum Diner eingeladen – doch Massenet möge selbst erzählen: »Brahms und Strauß ... ich sah sie mir genau an und sagte mir, daß es zwischen diesen beiden großen Komponisten eigentlich keine[270] weitreichenden Unterschiede gab [!], da sie doch beide, jeder in irgendeiner Art, symbolisieren: Wien, die große Stadt, Wien, die schöne Stadt. Brahms schien mir die Verkörperung der Wiener Seele in ihrer entwickeltsten Art, ein Denker, dessen Ideen sich in Grazieeinhüllen; selbst in seinen strengsten und ernstesten Schöpfungen offenbart sich, was man eine süße Fälle nennen könnte. Johann Strauß – aus seinen Werken atmet der Duft von Wien. Ich betrachtete seine Hände, die in so vielen Konzerten dirigiert hatten, zu denen sich die reizenden Wienerinnen drängten. Ich beneidete ihn: denn wer soviel zarte Herzen unter so schönem Busen höher schlagen macht, verdient Bewunderung. Ich wiederhole es: Brahms und Strauß, das ist die Schönheit und die Verführungskunst von Wien.«

Offenbar hatte der liebenswürdige Franzose dieses einem Interviewerservierte Rede-Mousseux für den Braten schriftlich eingekapselt; entsprachen dessen Wendungen doch fast wörtlich seinem Toaste vom Februar 1892! Nur wurden sie anders geordnet. Als ihm der musikalische Denker, der ihm das Wien von der intellektuellen Seite zu repräsentieren schien, persönlich vor Augen trat, muß er dermaßen erschrocken sein, daß er die Parallele aufhob und die Reihenfolge änderte. Er begann mit Johann Strauß, und Jean errötete vor Vergnügen über die artigen Schmeicheleien des Redners, der ihm zuletzt noch den Titel »Grand-maître de Vienne« mit Nachsicht der Taxen verlieh. Nun aber stieß der Unglückliche ein gewaltiges »Mäh« hervor, das bekanntlich, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, »aber« heißt. »Mais«, begann Massenet wieder, »le grand Grandmaître de Vienne et le plus grand musicien du monde, c'est notre ami admirable Brahms«. Nun wurde Brahms rot, während Strauß' Angesicht in der Komplementärfarbe spielte, und alles über die Taktlosigkeit des sonst so gewandten und verbindlichen Parisers erstaunte. Brahms ging, mit dem Glase in der Hand, zu seinem gekränkten Freunde hin und sagte etwas, das ihn sofort zum Lachen brachte, dann verneigte er sich höflich vor Massenet und schwieg.

Daß Billroth, bei seinem herzlichen Enthusiasmus für alles ihn künstlerisch Anregende, auch von »Werther« stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, nahm ihm Brahms geradezu übel. [271] Der wirklich großartige Opernabend, mit dem unvergleichlichen Paar van Dyck (Werther) und Marie Rénard (Lotte), sollte in Sachers Restaurant in gehobener Stimmung unter Freunden festlich ausklingen. Wie in alten glücklichen Zeiten improvisierte Billroth ein Göttersouper, schickte den Logendiener ins Parkett zu Brahms, Hanslicks und uns mit seiner Visitkarte hinunter, suchte während der großen Pause in dem hinter dem Theater gelegenen Lokal ein elegantes Zimmer aus, stellte das exquisiteste Menu zusammen und erschien, seine schöne schlanke Tochter Else am Arm, strahlend von Heiterkeit, unter den dankbaren Gästen. Brahms wollte dem Freunde den Spaß nicht verderben und schluckte manches bittere Wort, das ihm auf der Zunge schwebte, mit dem Champagner hinunter, – es wurde nur solcher eingeschänkt. Um so ungenierter machte er hinterdrein seinem Herzen Lust und behauptete, dergleichen wäre Billroth früher gewiß nicht passiert, er hätte seit seiner Krankheit den Geschmack für deutsche Musik und deutschen Wein verloren.

Im Zusammenhange damit steht ein Vorfall, der sich im November 1892 ereignete. Billroth hatte sein erinnerungsreiches stattliches Haus in der Alserstraße verkauft und war in die nächste Nähe der Universität und des Parlaments, dem er als Herrenhausmitglied angehörte, in die Kolingasse gezogen. Dorthin hatte er den damaligen Rektor Magnifikus Professor Adolf Exner, Hanslick und mich zum Abendessen geladen, mit der Zusicherung, Brahms würde uns etwas von seinen neuen Klavierkompositionen aus dem Manuskript vorspielen, »wenn wir brav seien«. Der Flügel stand offen da, mit brennenden Kerzen in silbernen Leuchtern, und Brahms wurde auch gleich, nachdem wir fünf versammelt waren, aufgefordert zu spielen. Der feierliche Apparat verdroß ihn, und er sagte: »Ach nee, wir wollen nu mal lieber die Austern essen.« Billroth zog zwar ein schiefes Gesicht, ließ aber gleich auftragen, und es wurde bald sehr angeregt und gemütlich. Nach zwei Stunden, als schon gehörig pokuliert worden war, Brahms aber noch immer keine Miene machte, Billroths Versprechen einzulösen, schleppte ihn dieser zärtlich scheltend an den Flügel. Brahms blies die herabgebrannten Kerzen aus und fing an wundervoll zu spielen. Er begann mit einem zarten, [272] trillerreichen, langsamen Satze, den niemand kannte, der aber, seinem Stil nach, von Bach sein mußte. Nachdem er geendigt hatte, sagte einer der Herren nichts weiter als »Sehr schön«! Ich fragte: »War das nicht von Bach?« – Da drehte sich Brahms mit ironischem Lächeln um: »Ob von Bach, von Massenet oder von mir, das ist doch alles ganz egal.« Dann erst ging er auf seine, mir bereits von Ischl her bekannten »Phantasien« und »Intermezzi« über, kam immer mehr ins Feuer und gab noch die g-moll-Rhapsodie hinzu, die zum Glück jedem geläufig war, als hätte er sagen wollen: op. 79 kann sich übrigens auch noch hören lassen, trotz op. 116 und 117.

Ehe er im Ischler Sommer dazu kam, die Klavierstücke niederzuschreiben und zu ordnen, wäre er gern wieder nach Italien gefahren, gab aber den Plan auf. Der Prater hielt ihn fest, der diesmal in der »Wiener Musik- und Theaterausstellung« noch eine außergewöhnliche Anziehungskraft besaß. An die Freifrau von Heldburg, die mit ihrem Gemahl eine Orientreise antreten wollte, schrieb Brahms im Mai: »Ein wenig werden Sie doch sich ausruhen müssen, ehe Sie den großen Reiseplan weiter vornehmen. Meine Reisen sind kleiner, aller Herren Länder mache ich in der Ausstellungs-Rotunde ab. Meiningen macht sich da wunderschön. Drei verschlossene Mappen fragen mich ganz deutlich, warum ich sie denn nicht auf das genaueste kenne, und ich verspreche ihnen, mich das nächste Mal zudringlicher um ihre Bekanntschaft zu bewerben. – Er (Ihrer) reist auch immer lustig so fort17 und bläst in England, Holland und Deutschland zu unserem Ruhm und Preis.«

Der großartigste Zusammenfluß von kostbaren Drucken und Handschriften auf der Wiener Ausstellung, die von öffentlichen und privaten Sammlungen der ganzen Welt beschickt worden war, hatte nebenbei das Gute, so manchen verborgenen und unbekannten Schatz zutage zu fördern. Mandyczewski wurden die Manuskripte dreier Bachscher Kantaten zum Kauf angeboten, und Brahms fühlte sich versucht, die Reliquien seines heiligen Schutzpatrons zu erwerben. Aber als Sammler durch Geschenke, als Käufer durch minimale [273] Preise verwöhnt – für die ihm von Epstein zugetragenen sechs Haydnschen Streichquartette hatte er die Bagatelle von dreihundert Gulden gezahlt! – schienen ihm die vom Verkäufer geforderten fünfzehntausend Mark eine horrende Unsumme zu sein. Für das Autograph der einen Kantate, die ihm besonders am Herzen lag (»Ach Gott, wie manches Herzeleid«), wollte er allenfalls zweitausend Mark springen lassen. Aber auch das bereute und widerrief er schon am nächsten Tage. Wie charakteristisch für den Amateur und Mann! Er, der Tausende und Zehntausende an Hilfsbedürftige und Unterstützungswürdige – auch darin unterschied er sehr genau – gern und leicht verschenkte, wollte seiner Liebhaberei kein solches Opfer bringen, weil er das Geld für Sachen und Personen brauchte, die ihm wichtiger erschienen als der Besitz einer teuern Handschrift. Lieber verteilte er das Geld unter die von der Cholera heimgesuchten Hamburger oder an arme Musiker, unter denen ihm sein Freund Theodor Kirchner die meiste Sorge machte.

Als Brahms (1891) von Toni Petersen angegangen wurde, für den nach Hamburg Übersiedelten und dort in Not Geratenen eine öffentliche Sammlung einzuleiten, hatte er ihr geantwortet, das könne er nicht tun, dagegen bitte er, Kirchner die beiliegenden tausend Mark zu geben, die ihm gerade von einem Verehrer der Kirchnerschen Musik gebracht worden seien. Natürlich war Brahms dieser Verehrer. Und da die Angelegenheit dann einen anderen Verlauf nahm, als er gedacht und gewünscht hatte, dankte er zwar für die weiteren Nachrichten der Bürgermeisterstochter, mußte aber bekennen, daß ihm ihre Raisonnements nicht recht einleuchteten – »aber gar nicht!« Von den tausend Mark hätte er gewünscht, sie wären Kirchner einfach zur Verfügung gestellt worden: »Einstweilen wissen ja Sie so wenig wie ich, ob ihm besser mit einer größeren Summe gleich, oder mit mehreren kleineren gedient ist.« Das Richtige wäre, seiner Meinung nach, wohl gewesen, er hätte ihm selbst das Geld geschickt, »jetzt ist es an Ihnen, zu sorgen, daß das angenehme Gefühl herzlicher Teilnahme durch eine Mittelsperson nur noch angenehmer werde! Meinerseits steht ihm gern noch z.B. die Hälfte zu Diensten, und für das nächste Jahr kann ich in meinem und meines Freundes Namen das Gleiche versprechen. Wenn Sie also noch ein übriges sorgen, so möchte ich schließlich [274] bitten, zu bedenken, daß Kirchner ein alter Mann ist, über dessen Zukunft man wohl nicht gar zu weitläufig zu beraten braucht!« – Wie zartfühlend und wie entschieden! Brahms und sein anonymer Freund hielten redlich Wort, und ihre Unterstützungen hörten auch nicht auf, als Kirchner in Frau Mathilde Schlüter in Hamburg den guten Engel seines Greisenalters fand,18 sondern dauerten fort, bis Brahms, der um zehn Jahre Jüngere, sechs Jahre vor seinem Freunde starb.

Für den Entgang der Bachschen Manuskripte hielt sich Brahms an eben erschienenen gedruckten Kompositionen älterer und neuerer Meister schadlos. »Haben Sie«, schreibt er aus Ischl am 30. Mai 1892 an Mandyczewski, »haben Sie den ersten Band Denkmäler« (Scheins Orgelsachen) und schwelgen Sie in Betrachtung und Bewunderung, ihn und – Bach angehend? Eine wie große und tiefe Natur er selbst, und von wie hohem Interesse – Bach vor Augen – alles, was Kontrapunkt, Fuge, Choral und Variation betrifft! Das ist ein üppiger Sommer! Ein neuer Band Schütz liegt da, ein Bach ist zu erwarten, und ich – habe zudem noch die Partitur von »Carmen!«

Hinter dem letzten Gedankenstrich erwartet man etwas ganz [275] anderes als die »Carmen«-Partitur. Auch mit Simrock, der Bizets Werke in Verlag genommen und die damals schwer aufzutreibende Partitur für Brahms besorgt hatte, spielte dieser Versteckens. »Carmen ist glücklich hier angekommen,« schreibt er drei Tage vorher, »und mir eine ganz besondere und unerwartete Freude. Ich habe mir die Partitur sehr, sehr gewünscht, aber längst die Hoffnung auf ihren Besitz aufgegeben. Sie brauchten sie mir aber nur zu leihen, und ich danke Ihnen allerschönstens dafür.« Nun folgt ein ähnlicher Passus wie in dem Briefe an Mandyczewski von dem »üppigen Sommer« und seinen musikalischen Herrlichkeiten, mit nochmaligem zärtlichen Hinblick auf Simrocks Geschenk: »Neben all diesen schönen alten Propheten nun dies reizende Weltkind!19 Zudem gute Bücher genug, und was außerdem der Tag bringt.« – Abermals der spannende Gedankenstrich, und darauf die wie eine geheimnisvolle Andeutung klingende neckische Widerrede: »Wenn Sie etwas gescheieter wären, als Sie aussähen, würden Sie begreifen, daß man in solchem Fall kein Verlangen nach neuen Sonaten und Quartetten von Brahms hat!«

Doch das Geheimnis läßt sich bald nicht länger bewahren. Brahms braucht für das, »was außerdem der Tag bringt«– Notenpapier. Er hat von Wien keines mitgenommen, ein Beweis, daß ihn die Muse in Ischl überraschte! – und Mandyczewski muß es ihm beschaffen. Genau einen Monat später kommt der Auftrag: »So ein 24–36 Seiten Querformat für Klavier könnten Sie mir wohl gelegentlich schicken. Sie wissen: Hier gibt's viel Klavierspielerinnen, und Sie bedenken, daß diese gern den Mund und die Finger voll nehmen. So erschrecken Sie also nicht! 12 Seiten mit 16 Linien könnten Sie beilegen, – damit ich die Albumblätter auch hübsch skizzieren kann« ...

Das für die Reinschrift bestellte Notenpapier entspricht ziemlich genau dem Quantum, das die zehn als op. 116 und 117 veröffentlichen Klavierstücke erfordern; sie nehmen im Druck, der nur fünf Doppelsysteme auf der Seite hat, ohne Titelblätter, dreiundvierzig Seiten ein. Die Kompositionen waren also bereits fertig, [276] sei es im Kopf oder auf dem Papier, und die zwölf enger rastrierten, für Skizzen und Konzepte bestimmten Blätter sollten anderen Entwürfen dienen. Es ist anzunehmen, daß ein Teil dieser und der späteren unter op. 118 und 119 herausgegebenen Capricci, Intermezzi, Balladen, Romanzen und Rhapsodien weit älteren Datums ist, als das Jahr ihres Erscheinens anzeigt. Einige mögen schon in Pörtschach entstanden sein, ja, eines und das andere Stück könnte, der Erfindung nach, bis in die Düsseldorfer Frühzeit zurückreichen. Beweisen lassen sich, bei dem Mangel an dokumentarischen Zeugnissen, dergleichen nur mit Vorsicht auszusprechende Vermutungen allerdings nicht. Die früh zur Reise gelangte Eigentümlichkeit des vollgriffigen, gekoppelten, harmonisch durchbrochenen, von rhythmischen Verschiebungen bewegten Brahmsschen Klaviersatzes, noch mehr aber die ungemein sorgfältig nachfeilende und ausgleichende Hand, mit der Brahms seine Arbeiten überging, würde die scharfsinnigste philologische Kritik in Verlegenheit setzen. Nicht nur die Hand, auch die Worte des Meisters würden jeden irre führen, der gedankenlos auf sie schwört.

Brahms hat diese Klavierstücke Wiegenlieder seiner Schmerzen genannt. Derartige Ausdrücke pflegte er, wenn sie ihm gefielen, zu wiederholen und zu verallgemeinern, wie wir aus analogen Fällen wissen. Er hat das ungemein glückliche und bestechende Bild, soviel uns bekannt ist, zum ersten Male im Gespräch mit Rudolf v.d. Leyen gebraucht, und spielte darauf an, als er ihm am 9. November 1892 von Wien aus schrieb: »Ich freue mich ungemein, daß das erste der drei Wiegenlieder dorthin [nach Krefeld] geraten ist, und so schön bei Ihnen anklingt. Schreiben Sie mir seinerzeit, ob das den andern auch so gelingt.« Der Empfänger des Briefes bemerkt dazu (auf S. 82 seines öfter zitierten Buches): »Die hier erwähnten ›drei Wiegenlieder‹ sind die später unter op. 117 erschienenen ›drei Intermezzi für Pianoforte‹. Die Bezeichnung ›Wiegenlieder‹ bedeutet, daß er mir einmal sagte: ›Es sind drei Wiegenlieder meiner Schmerzen‹.«

Wann und wo die Äußerung gefallen ist, wird nicht ausdrücklich mitgeteilt. Wir brauchen jedoch nur eine Seite zurückzublättern, so finden wir die Notiz: », Brahms besuchte uns, wenn auch ohne Konzert, vom 15. bis 17. März 1890 in Krefeld.« [277] Zwar haben die Freunde einander auch das Jahr darauf in Meiningen, bei der ersten Aufführung der Klarinettstücke, wiedergesehen. Aber die Möglichkeit einer derartigen ausführlichen Mitteilung (am Klavier) war dort so gut wie ausgeschlossen. Sollte sie dennoch erfolgt sein, so würde auch das zur Feststellung der Tatsache genügen, daß die »Drei Intermezzi« schon vor dem Sommer 1892 vorhanden waren. Die »andern«, von denen Brahms wünschte, sie möchten auch so schön bei seinem Partner in der Villa Carlotta anklingen, sind dann die inzwischen bei Simrock herausgegebenen, auf zwei Hefte »Phantasien« verteilten sieben Kapriccios und Intermezzi op. 116. Auf sie würde das Gleichnis nur ganz im allgemeinen zutreffen, insofern nämlich, als jedes Werk eines von Leiden mehr als von Freuden bewegten Künstlers ein Wiegenlied seiner Schmerzen genannt werden dürfte.

Das erste Intermezzo von op. 117 hatte die Metapher hervorgerufen. Dieses sanft im Sechsachteltakt schaukelnde lieblich schwermütige Es-dur-Andante verrät seine poetische Abkunft mit der Überschrift:


»Schlaf' sanft, mein Kind, schlaf' sanft und schön!

Mich dauert's sehr, dich weinen sehn.«


Dieses von Herder aus dem Schottischen übersetzte und in seine »Stimmen der Völker« aufgenommene »Wiegenlied einer unglücklichen Mutter« – im Original führt es den historischen Titel »Lady Anne Bothwell's lament« – gehört, gleich der Edward-Ballade, zu den Texten, die, mit mehr als einer (Brahmsschen) Melodie verbunden, dem Tondichter sein lebenlang nachgingen.20 Seit Allgeyer 1854 in Düsseldorf Brahms zu Herder hingeführt hatte, kam die berühmte Volksliedersammlung nicht mehr von seinem Tisch. Nächst der Bibel war sie eines seiner liebsten Bücher, das ihn immer wieder zur Komposition anregte. »Murrays Ermordung«, op. 14 Nr. 3, stammt aus derselben Quelle.21

Wenn man das Intermezzo mit den Adagios der Klaviersonaten [278] zusammenhält, möchte man darauf schwören, es habe einmal eine ähnliche Bestimmung erfüllen sollen wie jene aus Liedern hervorgegangenen langsamen Sätze. Möglicherweise ist die zum Adagio gehörige Sonate auch nicht ausgeblieben, aber als unzureichend beseitigt worden. Mit einer neuen Melodie, vielleicht einer andern als der im Intermezzo erhaltenen, ausgestattet, meldete sich 1878 das Lied zum gesungenen Worte. Im Pörtschacher Textbuche geht es dem »Edward« unmittelbar voran. Nur die beiden ersten Strophen sind ausgeschrieben – »5 Verse« steht darüber, womit Brahms andeutete, daß er nicht alle sieben Strophen des Originals komponieren wollte. Aber auch die fünf Achtzeiler werden ihm zuviel gewesen sein, und er griff dann wohl auf die erste Fassung zurück, um das vom Texte unabhängige Lied in absolute Musik zu verwandeln wie die Gedichte »Verstohlen geht der Mond auf«, »Mir ist leide« und »Der Abend dämmert« in op. 1, 2 und 5. In der Edward-Ballade op. 10, Nr. 1 läßt sich der Anfang noch singen, ohne daß sich das Klavierstück vom Liede emanzipiert. So auch hier:


6. Kapitel

Selbst ein weinendes Wiegenkind, ist die Melodie in die den Rhythmus markierenden Oktaven eines im Sopran liegenden Orgelpunktes eingebettet. Schauerlich klingen diese Oktaven, wenn sie sich verdoppeln und zu dem von Tränen verschleierten es-moll-Mittelsatz überleiten! Es ist, als ob die Wiege leer und die Mutter vor Gram gestorben wäre. Bei der Rückkehr des Hauptsatzes aber sieht man, wie Herder sagt, »die Mutter über die [279] Wiege hängen, im Angesichte des Kindes die väterlichen Züge betrachtend, weinend sich trösten«.

Das als Nr. 2 im Dreiachteltakt folgende b-moll-Andante, »non troppo e con molto espressione« ist thematisch mit Nr. 1 verbunden und schließt sich so logisch an wie die Vision der Verlassenen, die bei leisem Harfenschlag und ritterlich werbenden Liebesklängen von entschwundenen Tagen träumt. Unruhige, im Baß verdoppelte Figuren:


6. Kapitel

vermitteln zwischen dem zweiten und dritten Intermezzo, einem cis-moll-Andante con moto (2/4), dessen leidenschaftlich sprechende Melodie ebenfalls nach einem Texte zu verlangen scheint. Sollten sich die heimlich Getrennten nicht vereinen lassen in dem Liedanfange:


6. Kapitel

Oder wäre es nur ein Zufall, daß Brahms an derselben, oben erwähnten Stelle dieses ebenfalls aus dem Schottischen stammende, bei Herder dem Wiegenliede folgende Lied zur Komposition vorgemerkt hat? Man lese nur das ergreifende Gedicht in den »Stimmen der Völker« nach – »wie voll Ausdrucks wahrhafter Empfindung!« ruft Herder aus – und man wird merken, daß der Gefühlsinhalt von Text und Komposition ebenso kongruieren, wie sie im Anfang sich formell decken! Bei dem A-dur-Mittelsatz mag man an die Verse denken:


[280] »Ach, als wir kamen in Glasgowstadt,

Wie wurden wir angeschaut!

Mein Bräutigam, gekleid't in Blau,

In Rosa ich, die Braut!«


Und das Più lento der Koda mit der rhythmischen Vergrößerung der Melodie, dem stumpf schneidenden Als im Baß und der Reduplikation der Figur


6. Kapitel

deklamiert es nicht so gut wie wörtlich die Schlußzeile des Gedichts: »Denn was ich war, denn was ich war, werd' ich doch nie!«

Sollten diese Ausführungen auch nur die eine Wirkung haben, daß die Intermezzi beim öffentlichen Vortrage nicht mehr getrennt, sondern alle drei hintereinander gespielt werden, so fände unser Wahrscheinlichkeitsbeweis die kräftigste praktische Unterstützung und bestände die Probe. Mit Bevorzugung der ersten Nummer, die den Durchschnittspianisten beiderlei Geschlechts am bequemsten zu dem Ruf eines »Brahms-Spielers« verhilft, die andern ebenso schönen, wenn auch minder bequemen Stücke zu ignorieren, ist ein leidiger Mißbrauch.

Der findige Simrock witterte in op. 117 Nr. 1 gleich einen der gangbarsten Verlagsartikel, so etwas wie ein Seitenstück zu »Guten Abend, gut' Nacht«, und suchte Brahms für eine Extra-Ausgabe zu gewinnen. »Es geht leider durchaus nicht«, erwiderte dieser, »daß man das Ding als Wiegen- oder Schlummerlied ausgibt. Es müßte dann ja dabei stehen, ›Wiegenlied einer unglücklichen Mutter‹ [der Herdersche Titel] oder eines trostlosen Junggesellen, oder, mit Klingerschen Figuren: ›Singet Wiegenlieder meinem Schmerze‹ Nr. 1, 2 und 3.« Wichtig ist, daß Brahms hier selbst auf die metaphorische Bedeutung der Intermezzi hinweist, wenn auch nur in seiner ironischen Art, die den Ernst gern mit dem Scherz vertauscht.22

[281] Für die engere Zusammengehörigkeit von 1, 2 und 3 der »Phantasien« op. 116 tritt Brahms, dem Verleger gegenüber, ebenfalls ein: Die Phantasien sollten wohl, schreibt er, am besten in einem Heft erscheinen. Wolle sie Simrock aber in zwei Heften geben, so gehörten die ersten drei und die letzten zwei zusammen. Das Titelblatt könne dann, wie in op. 76, die einzelnen Nummern angeben. Danach hätte Brahms anfangs nur fünf Stücke unter dem gemeinsamen Titel »Phantasien« herausgeben wollen. Das aber waren zuviel für ein, zu wenig für zwei Hefte. Wenn er also auf der Untrennbarkeit von 1–3 bestand, so mußte er sich für das gar zu dünne zweite Heft zu einer Zutat verstehen. Sie lag in dem Intermezzo Nr. 6 und dem Kapriccio Nr. 7 bereit, so daß im ersten Heft zwei Kapriccios ein Intermezzo in die Mitte nehmen, während im zweiten auf drei Intermezzi ein epilogisierendes Kapriccio folgt. Brahms war bereit, sofort Rat zu schaffen, hatte also mehrere Stücke in der Reserve.

Nicht die überwiegend dreiteilige Form, sondern der Charakter unterscheidet bei Brahms zwischen Kapriccio und Intermezzo, und diese Unterscheidung spricht sich vor allem im Tempo der Stücke aus. Nur in den Kompositionen der ersten Zeit gilt das Intermezzo seinem Wortsinn gemäß als Zwischenstück, als mehr oder weniger bedeutsames Einschiebsel. Während es in der f-moll-Sonate op. 5 den Vermittler zwischen Scherzo und Finale abgiebt, der die viersätzige Sonatenform als poetisierender Eindringling mit einem melancholischen »Rückblick« auf die Liebesszene des Andantes erweitert, tritt es in den Balladenop. 10 als Scherzo auf und erinnert an die »Entremés« der spanischen oder die »Intermezzi« der italienischen Bühne. Allmählich entwickelt es sich zu jenen, teils unheimlichen, teils lieblichen Tonsätzen, die seit dem ersten Klavierquartett in den späteren zyklischen [282] Instrumentalwerken des Meisters das Scherzo ablösen.23 Sein ursprüngliches Allegro-Temperament, das es in op. 10 offenbart, schwächt sich zum Allegretto ab und nimmt dann, nachdem erst das Intermezzo in den Klavierstücken op. 76 dem Kapriccio gegensätzlich zur Seite gestellt worden war, immer mehr den Andante-Charakter an. So kommt es, daß bei Brahms zuletzt Scherzo und Adagio ihre Rollen wechseln: das Intermezzo wird zum Adagio, und für den verloren gegangenen Lustigmacher tritt das »Kapriccio« ein, dem das Weinen oft näher ist als das Lachen. Dem Humor wie der guten und üblen Laune wird der weiteste Spielraum eröffnet, ohne daß Intermezzist und Fee Kaprice zur Heiterkeit verpflichtet würden. Feminines und maskulines Naturell fließen durch- und ineinander, das Kapriccio gefällt sich sowohl in männlichen Bocksprüngen wie in weiblichen Launen, das Intermezzo verrät weibliches Sentiment und männlichen Ernst.

Mehr der Ausführung als der Erfindung nach scheinen uns die beiden Hefte der »Phantasien« und die ihnen 1893 auf dem Fuße folgenden »Klavierstücke«, namentlich die von op. 118 der letzten Periode des Brahmsschen Schaffens anzugehören. Die neuen Kapriccios haben wahrscheinlich den Anstoß gegeben, die Schleusen aufgezogen, den Fall zum Sturze gebracht. Das Presto energico in d-moll könnte, in diesem Betracht, die Ouvertüre zu der Fülle dramatischer, epischer, lyrischer und idyllischer Szenen genannt werden, die sich in der Phantasie des Tondichters abspielten, indem sie eigene und fremde Erlebnisse, Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit verknüpfend, alles in die intimste Beziehung zu seinem Innenleben setzten. Wie ein wütender Bach, der sich mit elementarer Gewalt Bahn bricht, jedes Hindernis überspringt oder mit sich fortreißt, zum Abgrund hin, um ins Ungewisse einer fremden, seiner nicht gewärtigen Gegend niederzuschäumen, stürmen die bald gestoßenen, bald gebundenen, von ritardierenden Synkopen vergebens aufgehaltenen Achtel des Kapriccios dahin. Sich erst chromatisch fortschiebende, dann in Oktaven niedersausende Bässe holen ein liebliches Bild herauf, das eine Weile, wie der Regenbogen über dem Wasserfall, schwebt und schnell wieder in die tosende Nacht versinkt.

[283] Im Intermezzo (Nr. 2) werden die latenten Variationen eines sanften Mollthemas, das durch Echowirkung am Schlusse seiner achttaktigen Periode immer eine rhythmische Unregelmäßigkeit hervorruft, der dreiteiligen Liedform geschickt angepaßt. Ein kurzes, interpoliertes A-dur-Sätzchen verrät die eigentliche Quelle der Melodie, den oberösterreichischen Ländler:


6. Kapitel

Ein Allegro passionato, g-moll im alla breve-Takt, setzt ein gewaltiges Schlußzeichen hinter die erste Serie. Die phantastische, laut klagende Melodie mit ihren forcierten halben Noten und wilden Sprüngen


6. Kapitel

ist von einer anziehenden Bizarrerie, welche nur dadurch gemildert wird, daß sie sich verkürzt in den Achteln der selbständigen Begleitung spiegelt. Eine verzauberte Prinzessin, wird sie in dem marschartigen Es-dur-Mittelsatze unter Glockenklängen feierlich auf den Thron erhoben:


6. Kapitel

[284] Ein Märchen à la Aschenbrödel in drei Kapiteln oder abermals ein Kleeblatt von Balladen! Die drei Intermezzi des zweiten Heftes sind Lieder ohne Worte, wie die Adagios der Klaviersonaten. Was dort noch nicht zu Worte kommen wollte, findet hier keine mehr. Sie zeigen, daß der Ursprung der Brahmsschen Lyrik, aus dem er als echter Tondichter schöpfte, noch lange nicht versiegt war, und bestätigen von neuem die Erfahrung, daß die Melodie die wahre Seele der Musik ist: die melodische Erfindung des Komponisten entscheidet zuerst und zuletzt über den Wert seiner Werke. Wie der »letzte Beethoven« ist auch der »letzte Brahms« ganz von Melodie durchtränkt, und auch bei ihm wird es, wie er von den Beethovenschen Quartetten zu sagen pflegte, »immer verklärter«. Nur suchte der Quell, ehe er sich in den Strom ergoß, der vom Fels zum Meere, von der Zeit zur Ewigkeit hinübergleitet, ein anderes Bett, bis er den Kreislauf des Seins vollendete und am jenseitigen Ufer das alte Jugendland wiederfand. Ein reizendes Frage- und Antwortspiel, bei welchem beide Teile in einer Person zusammenfallen, beherrscht den Hauptsatz des Intermezzos. Das, zum Thema gehörige, Motiv:


6. Kapitel

enthält die Aufforderung zu dem unmittelbar folgenden süßen Geständnis:


6. Kapitel

Lauter Seufzer sehnsüchtiger Liebe, die das gedrückte Herz befreien, bis es den Mund übergehen läßt:


6. Kapitel

[285] Die Musik singt und spricht nicht nur, sie zeichnet auch. Das holde Antlitz einer früh Verklärten erscheint. Ist es etwa die Arme, die sich mit ihrem »Immer leiser wird mein Schlummer« in den ewigen Schlaf hinübersang? Auch das war ja ein »Wiegenlied der Schmerzen«! Frappant berührt die todestraurige Schlußtendenz:


6. Kapitel

welche direkt an jenes Lied erinnert: »Wenn ich bleich und kalt«. In einer als Zwischensatz auftretenden Durchführung gibt der figurierte Baß seine Selbständigkeit auf, auch die Mittelstimmen schweigen, und es klingt in dem Gesange wie die Verkündigung eines neuen Stückes (des zweiten Intermezzos aus op. 118).

Eines der Stücke scheint immer als Keim in dem andern enthalten zu sein; oder es hat seinen Absenker, der zu einer Tochterpflanze aufwächst.

Aus den ersten Takten des vierten scheint das fünfte Intermezzo hervorgegangen zu sein, eine der zartesten und delikatesten Gestaltungen tonbildnerischer Phantasie. In Rhythmus und Harmonie sucht die schnellatmige, von Pausen unterbrochene scheue Melodie fortwährend auszuweichen, als ob sie der derben Hand eines täppischen Gesellen entschlüpfen wollte. Ein solcher lasse auch die Finger von den Tasten, daß er sich nicht an dem zarten Sylphchen vergreife! Das kleine Stück hat nur zwei Teile, die wiederholt werden, und ein paar verhallende Schlußakkorde.

Etwas breiter tritt das nächste Intermezzo (Nr. 6) auf, eine im Menuettschritt einherstolzierende Schöne, die Schäfertracht angelegt hat und mit ihrem Seladon Komplimente und Plätze wechselt. Zwei im doppelten Kontrapunkt stehende Motive:


6. Kapitel

[286] kreuzen miteinander und bilden, vereint und getrennt, acht- oder sechstaktige Perioden; der Mittelsatz (gis-moll) mit seiner vorwurfsvollen Melodie:


6. Kapitel

der der Szene eine ernstere Wendung gibt, ist ein Kind beider Motive.

Im Schlußkapriccio (Nr. 7) führt ein krauser, widerhaariger Humor, voll diabolischer Lustigkeit die Hände des Spielers gegeneinander, als suche er die Teufeleien der »Kreisleriana« und »Davidsbündlertänze« mit dem Feldgeschrei »Krieg den Philistern«! zu übertreffen.

Beiden, dem zweiten Heft einverleibten Stücken (6 und 7) ist, auch im Klaviersatz, die erneuerte liebevolle Beschäftigung mit Robert Schumann anzumerken.

Brahms hatte Klara die Erlaubnis teils abgetrotzt, teils abgeschmeichelt, einen Supplementband zu der großen Breitkopf & Härtelschen Schumann-Ausgabe zusammenstellen und revidieren zu dürfen. Es war ihm dies eine heilige Überzeugungs- und Gefühlssache, ebenso wie die Publikation der d-moll-Symphonie in erster Fassung, um deretwillen die Entzweiung zwischen ihm und seiner alten Freundin eingetreten war.24 Wie seltsam mochte es ihn [287] berührt haben, als er die Adagios der beiden ersten Schumannschen Klaviersonaten in einem beiseite gelegten Liederheft »als ganz entzückende Lieder« wiederfand – das war ja sein eigener Fall! Und die Variationen für zwei Klaviere, so wie Schumann sie ursprünglich gedacht und notiert hatte: mit Horn und zwei Violoncellen, durften doch auch nicht fehlen! Bei der von Brahms im Wiener Tonkünstlerverein mit Brüll und drei Orchestermusikern veranstalteten Aufführung offenbarte das alte op. 46 seine neue eigentümliche Klangschönheit Und Robert Schumanns letzter Gedanke vom schwarzen Rosenmontag 1854, den Brahms selbst so herrlich variiert hat, sollte den Band schließen: »Dieser schöne letzte Gedanke winkt so rührend freundlich hinaus und zurück – niemand hat noch solchen Abschied von unserer Erde genommen.« So schreibt Brahms versöhnt an die Wiederversöhnte am 24. Oktober 1892.25 Wie er weiter sich »nur mit Mühe« enthielt, »allerlei Schwärmendes« über Robert und Klara zu sagen, lehrt der Schlußpassus der Vorrede, mit der er den Nachlaß Schumanns von »Ischl, Juli 1893« begleitet:

»Das dieses Heft abschließende ›Thema‹ ist ganz eigentlich Schumanns letzter musikalischer Gedanke. Er schrieb es am 17. Februar 1854 und fügte noch fünf Variationen hinzu, von deren Mitteilung hier abgesehen wird. Sagt doch an dieser Stelle die leise, innige Melodie genug. Wie ein im Entschweben grüßender [288] Genius spricht es uns an, und wir gedenken mit Verehrung und Rührung des herrlichen Menschen und Künstlers.«

Im Mai 1893 war Brahms »in Versuchung«, wie er sagt, Klara Schumann ein kleines Klavierstück abzuschreiben, weil er gern wüßte, wie sie sich damit vertrage. »Es wimmelt von Dissonanzen! Diese mögen recht sein und zu erklären – aber sie schmecken Dir vielleicht nicht, und da wünschte ich, sie wären weniger recht, aber appetitlich und nach Deinem Geschmack. Das kleine Stück ist ausnehmend melancholisch, und ›sehr langsam zu spielen‹, ist nicht genug gesagt. Jeder Takt und jede Note muß wie ritardando klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wollte, mit Wollust und Behagen aus besagten Dissonanzen!« ...

Selbstverständlich erlag Brahms der Versuchung, schrieb das kleine Stück für Klara ab und richtete es so ein, daß es gerade an seinem 60. Geburtstage in ihre Hände kam. Sie quittiert darüber in ihrem Tagebuche mit den Worten: »Mai 1893. Brahms hat mir mit einem Briefe ein reizendes kleines Stück gesandt, voll von Dissonanzen, in die man sich aber mit Wonne hineinlegt. Traurig süß ist das Stück! Ich empfing es als Geburtstagsgruß an seinem 60. Geburtstag ... Es hat mich diese Aufmerksamkeit sehr erfreut ...« Litzmann datiert die Sendung auf gut Glück: »Wien, Mai 1893.« Nun war aber Brahms schon am 15. April nach Italien gereist, von wo er erst am 10. Mai, also drei Tage nach seinem 60. Geburtstage, in Wien anlangte. Am 7. Mai saß er noch in Neapel am Schmerzenslager seines in Messina verunglückten Freundes Widmann, wie später ausführlicher dargestellt werden soll.26 Brahms wird das Notenblatt also wahrscheinlich von Messina – dort traf er am 3. Mai von Gardini ein – oder noch in Taormina an Frau Schumann geschickt haben. Wohl wußte er, daß er der verehrten Frau, der er trotz aller Kränkungen, die sie ihm, und die er ihr angetan, bis an ihr und sein Lebensende herzlich ergeben blieb, mit nichts eine größere Freude bereiten würde, als dadurch, daß er sich dankbar für die künstlerische Förderung [289] und Anregung erzeigte, die er von ihrem Gatten empfangen. Gerade damals, beim feierlichen Abschluß der monumentalen Schumann-Ausgabe, wollte er ihr einen eklatanten Beweis seiner Jünger- und Nachfolgeschaft geben, wenn er auch sich mehr zu Schumann als zu dessen Schule bekannte, der er in der Tat niemals angehörte, und so komponierte er das liebliche Klavierstück, so recht in Schumanns Geist und Stil, »ausnehmend melancholisch«, »von Dissonanzen wimmelnd«, die vielleicht nicht nach dem Geschmack der Empfängerin seien – eine unschuldige Neckerei! – und »sehr langsam zu spielen«, wie Schumann hier selbst vorgeschrieben haben würde. Konnte er mehr tun, als sich an seinem 60. Geburtstage gleichsam als Sohn der Schumannschen Kunst bekennen und zugleich die einst in idealer hochgestimmter Jünglingsschwärmerei von ihm angebetete Klara durch eine Anspielung auf die »Dichterliebe« ihres Gatten noch einmal an seine eigene Düsseldorfer Wertherperiode erinnern? Feinfühlig und zurückhaltend, wie er war, glaubte er, deutlich genug gewesen zu sein, als er ihr das Intermezzo in h-moll (op. 119 Nr. 1) zugehen ließ. Denn nur um dieses kann es sich hier handeln, wie jeder halbwegs musikalisch geschulte und künstlerisch fühlende Mensch einräumen wird, vorausgesetzt, daß Brahms das fragliche Stück überhaupt in seine Werke aufgenommen hat. Das von Litzmann als »wahrscheinlich« angezogene es-moll-Intermezzo (op. 118 Nr. 6) kommt gar nicht in Frage, da die zuvor gegebene Brahmssche Charakteristik seiner Komposition weder auf den Anfang dieses großartigen Phantasiestückes, à la Ossian, noch auf den heroischen, kräftig rhythmisierten Mittelsatz und das trostlose Ende paßt. Am deutlichsten spricht für dash-moll-Stück das, was Klara in ihr Tagebuch schreibt. »Ein reizendes kleines Stück«, das »traurig süß« ist, kann das es-moll-Intermezzo nicht sein.

Brahms hatte Unglück mit seinen versteckten Aufmerksamkeiten (Siehe Joachim und das a-moll-Quartett!).27 Auch Frau Schumann mag die zarte Anspielung nicht bemerkt, sich an das Lied »Am leuchtenden Sommermorgen« nicht erinnert haben, dessen in gebrochenen Akkorden und dissonierenden Vorhalten schwelgendes [290] Nachspiel Schumann zum Epilog seiner »Dichterliebe« benutzte, es wäre denn, daß die von dem Herausgeber des Tagebuches durch ... angedeuteten ausgelassenen Stellen etwas davon verlauten ließen. »Sei unsrer Schwester nicht böse, du armer blasser Mann!« Auch dieses Blumenwort ist auf Frau Klara gemünzt, und die Tempobezeichnung des Liedes, an die sich Brahms unterwegs nicht genau erinnerte, heißt bei Schumann wirklich: »Ziemlich langsam«, während bei Brahms im Druck »Adagio« vorgeschrieben steht.

Gleich die ersten Takte des Intermezzos mit dem Überschwang ihrer Schwermut stellen den Charakter des Stückes fest, genau so, wie der Komponist ihn brieflich angegeben. Der leise, über sechzehn Takte sich erstreckende Gesang reiht einen Seufzer an den andern:


6. Kapitel

Mit jeder gehaltenen Note wird ein neuer träger Anlauf genommen, der gleich wieder in sich zurücksinkt, als fehle ihm mit der Kraft auch die Lust, den Schmerz abzuschütteln, der die Freiheit der Bewegung fesselt und hemmt. »Jeder Takt und jede Note muß wie ritardando klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle, mit Wollust und Behagen aus besagten Dissonanzen.« In der Tat ist die ganze Melodie ein fortwährendes Zögern und Zurückhalten. Für »besagte Dissonanzen« wird, auch gleich von Anfang an, durch die Begleitung gesorgt, die, von der Melodie ausgehend, ohne nach ihr und ihren harmonischen Wünschen und Bedürfnissen zu fragen, in Terzen absteigt. Das ergibt zusammen folgendes Notenbild:


6. Kapitel

6. Kapitel

[291] Wer es von weitem erblickt oder flüchtig ansieht, wird ausrufen: Schumann! Erst bei näherer Betrachtung kommt Brahms hervor. Der Einfall berührt sich äußerlich mit der neunten Variation über ein Thema von Robert Schumann (op. 9),28 innerlich mit dem Brahmsschen Liede: »Wenn mein Herz beginnt zu klingen« (op. 106 Nr. 4). Auch das ist ein Kind der »Dichterliebe«, und was dem Sänger vorschwebte bei »Bleiche Wonnen unvergessen und die Schatten von Zypressen«, scheute sich, die Namen Roberts und Klaras zu nennen. Aber nur einem Brahms konnte es einfallen und gelingen, aus den à la Schumann nachschlagenden Noten im vierten und sechsten Takte der oben zitierten Melodie (14a) das walzerartigeD-dur-Sätzchen:


6. Kapitel

zu entwickeln, das mit seiner abgeflatterten, matten Fröhlichkeit einen noch tristeren Eindruck macht als der wiederholte Hauptsatz oder die pp ritardierende und abermals più p ritardierende Koda, welche die Flügel vollends hängen läßt.

Von ähnlichen Entwickelungs- und Verwandlungskünsten lebt das flottere zweite Intermezzo von op. 119. Seine ängstlich in e-moll hüpfenden und trippelnden anapästischen Sechzehntel verraten [292] sich im weiteren Verlaufe der Begebenheit als Variante eines mit Süßigkeit getränkten Liebeslied-Walzers in E, der den Mittelsatz einnimmt. Die rhythmisch-melodische Metamorphose vollzieht sich in der Weise, daß das Thema:


6. Kapitel

vereinfacht wird in:


6. Kapitel

und dann in das Andantino grazioso übergeht:


6. Kapitel

Die letzte rhythmische Vergrößerung


6. Kapitel

führt zum Durschluß.

Die ersten drei Stücke von op. 119 sind ebenso nahe verbunden wie die von op. 116. Bei dem dritten Intermezzo in C leuchtet dies erst recht ein. Sein »Grazioso e giocoso« ist, wenn man will, eine neue, zu individueller Selbständigkeit ausgebildete Lesart von Nr. 2. Das Motiv:


6. Kapitel

erinnert an das Klappern der Mühle, das Klatschen der Dreschflegel oder das Stampfen der Pflasterrammen; man könnte es [293] sich ganz gut auf Glöckchen oder abgestimmte Ambosse geschlagen denken und merkt ihm seinen rhythmischen Wankelmut an, mit dem es gern zum Dreivierteltakt abschwenken möchte. Überdies deutet sein lustiger Klopfgeist auf die Verwandtschaft mit der Else vom Worstniggsee bei Pörtschach hin, die im h-moll-Kapriccio (op. 76) ihr neckisches Wesen treibt.29 Wie dort bei der Wiederholung des Satzes die Melodie in die Mitte gelegt wird, so ist sie hier schon von Anfang an von den Begleitstimmen umgeben. Eine, der Wiege, ihren Kindern und Liedern zugewendete Liebhaberei des Einbettens begegnet uns bei dem »einschichtigen Abseiter« und Kinderfreunde jetzt öfters.

Die gewaltige Es-dur-Rhapsodie, welche nicht nur das Heft sondern den Reigen Brahmsscher Klavierwerke überhaupt abschließt, steht nur insofern in Zusammenhang mit den ihr vorangehenden Intermezzi, als sie wieder an Schumann anknüpft. Die Erinnerung an seinen »Karneval« gleitet wie ein Traum vorüber. Der Marsch der Davidsbündler gegen die Philister hat seinen kapriziösen Dreivierteltakt aufgegeben, ohne darum ein »solides Haus« geworden zu sein. Denn er ist unter die Zigeuner gegangen, und Chopin folgt ihm mit dem Trio seines cis-moll-Scherzos auf dem Fuße nach. Beide aber liefern nur den Mörtel zu den mächtigen Quadern des zyklopischen Urweltsbaus, den Brahms hier auftürmt. Nicht übel schildert W.A. Thomas-San-Galli in seiner Studie »Johannes Brahms« (1912) das Wesen des pyramidalen Stückes. Ihm scheint das Thema wie aus Marmor gehauen. »Energische, fallende Arpeggien verbinden massige Crescendi des Überganges. Ein dumpfes Triolenintermezzo bereitet den Mittelsatz vor, dessen klingende Vorschläge und reiche As-dur-Akkorde unser Herz schmeichelnd gewinnen. Nun kehrt sich der Satz um: die Triolenpartie folgt im ursprünglichen Es-dur, die Arpeggien rauschen herab, die Crescendi bereiten ein Schicksal vor. Da setzt in wuchtigen Griffen, von springenden Oktaven gefolgt, das Thema ein. Gewaltiger Ansturm dicker Oktaventriolen, härteste Griffe gebieten tyrannisch Halt.«

Straffer in der Form und nicht minder kräftig, ja eher [294] noch entschiedener im Ausdruck als die Es-dur-Rhapsodie ist die g-moll-Ballade, das dritte unter den Klavierstücken op. 118.30 Ein Pendant zu derg-moll-Rhapsodie op. 79, bekennt sie sich zu dem gleichen Kredo der von Poesie durchgeistigten Musik und läßt vermuten, daß sie in demselben Jahr, wie jene, in dem Brahmsschen Balladenjahr 1878, am Wörthersee entstanden ist. Der Wechsel von fünf-, vier- und dreitaktigen Perioden gibt dem Hauptsatz einen eigenen Charakter. Sein Held scheint gewohnt, den unbändigen und unbeugsamen männlichen Willen, der keine höhere Macht anerkennt, zu tyrannischer Willkür zu versteifen und zu verhärten. Sein Thema hat sich förmlich verrannt in das Motiv:


6. Kapitel

es ist davon kaum abzulenken, gewiß nicht abzubringen. Glaubt man, nun werde ihm eine andere Form und Richtung gegeben werden, so fällt es trotzig mit einer jähen Wendung in sein starrköpfiges sic volo, sic jubeo zurück. Den beiden zehntaktigen Forte-Perioden des Anfangs (g-moll) antwortet in der Fortsetzung der Melodie (Es-dur) ein leiser Mahnruf wie die beschwichtigende Stimme eines liebenden Weibes:


6. Kapitel

[295] Er steigert sich zu der flehentlichen Bitte:


6. Kapitel

und wächst mahnend und beschwörend an. Aber der Mann beharrt auf seinen finsteren Trotze. Meisterhaft ist der synkopierte Rückgang zum Thema gebildet, mit einem Realismus in Tönen, der dem Zuhörer die Szene lebendig vortäuscht. Die drohende Stimme erhebt sich zornig in die höhere Terz, vom g 2 bis zumb2, dann verrauschen die Fluten der Leidenschaft. Als sänne die eingeschüchterte Frau über ein anderes Mittel nach, den Zorn ihres Gebieters zu stillen, greift sie das von den sanfter wogenden Achteln der Begleitung herangeschaukelte Motiv:


6. Kapitel

auf, in dem wir einen in 23b keimenden Gedanken erkennen. Der Septakkord


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läßt C-dur erwarten; die neue, das Trio regierende, von 24, 23a und b abgeleitete Melodie aber setzt pp (una corda) in H-dur ein:


6. Kapitel

Ihre süßen Sexten und Terzen sollen den Tyrannen betören; liebeberauscht und siegessicher glaubt die Sängerin des Schmeichelliedes an die dunkle Ursache der Entzweiung erinnern zu dürfen; die Variante des Grundgedankens (21) taucht in dis-moll auf. Noch inniger ertönt dann der Liebesgesang, um unvermerkt nach einem zögernd herbeigeführten, erwartungsvollen Halt [296] den gewagten Versuch zu erneuern. Die auf das Hauptthema losgehende Melodie nähert sich dem Dominantseptakkord von g, – da fährt auch das Motiv 21 in gewohnter Weise auf. Die Wiederholung zieht die von Anfang an befürchtete tragische Katastrophe nach sich; bei dem fortissimo angeschlagenen, langaushallenden g trifft der verhängnissichere Spruch oder Streich, welcher das Schicksal der Armen entscheidet, wie ein Fallbeil, und ihr in Moll transponiertes Schmeichellied (25) hallt als dumpfe Klage nach.

Diese Ballade hätte sich wohl für eines der Duette geeignet, auf die Brahms im Sommer 1878 Jagd machte. Wir würden dann wissen, welches berühmte oder berüchtigte Paar hinter seinen in vieldeutige Töne zerflossenen Gestalten steht. Vielleicht handelt es sich immer noch um den Mörder Darnleys und die unglückliche Lady Bothwell, und vielleicht lag es nur an dem Nichtvorhandensein eines konvenablen Textes, daß Brahms sich, frei von allen Wortfesseln, rein mit seiner tondichterischen Einbildungskraft in den Gegenstand vertiefte, in einer Weise, als habe er ein musikalisches Epos ohne Worte schreiben wollen, analog der liedgewordenen Geschichte von der schönen Magelone. Dieses Balladen- und Romanzenbuch läge dann in seinem op. 118 aufgeschlagen vor uns. Aber was kommt es schließlich darauf an, da seine Kapitel von keiner Überschrift abhängen?

Die eben besprochene Ballade, deren Phantasieinhalt ja an keinen uns überlieferten bestimmten Vorgang gebunden ist, bezeichnet ohne Zweifel den dramatischen Höhepunkt des ganzen Heftes. Aus dem ihr vorangehenden Intermezzo mit seiner lieblich heiteren, wie unschuldiges Kinderglück anmutenden Melodie:


6. Kapitel

blickt uns ein lächelndes Mädchenantlitz entgegen. Das Leben kommt der Holden wie ein sanfter durch immergrüne Fluren geschlungener Reigen vor, und sie selbst schwebt anmutig im Menuettschritte dahin. Die Beleuchtung der Szene wechselt: im fis-moll-Mittelsatze [297] hat sich das Akkompagnement von der Melodie emanzipiert und schleicht ihr wie ein Schatten nach. Es entspinnt sich ein kurzes, ausdrucksvolles Duett zwischen beiden Stimmen. Die Repetition des Hauptsatzes aber weiß dem Tanzliedchen leidenschaftlichen Nachdruck zu verleihen, als wäre die frühere Unbefangenheit verloren, als mischten sich in das tiefe Atemholen der sinnlich Erregten sehnsüchtige Seufzer der Liebe. Geheime Beziehungen zwischen 26a und 22, 26b, und 23 sind wohl nicht nachzuweisen, doch wäre es nicht undenkbar, daß die Heldin des Intermezzos sich mit der Heldin der Ballade identifizierte.

Um so auffälliger ist in der Romanze (Nr. 5) die mit der Hauptmelodie kontrapunktierende Oberstimme. Die Melodie wird von Alt und Tenor unisono gesungen, geht im 6/4 Takt, ist ebenso warm eingebettet wie die des Intermezzos op. 117 Nr. 1, dürfte also auch Anspruch darauf erheben, ein Wiegenlied, wie jene, zu sein. Merkwürdig genug erscheint die Tonfolge eben jenes vielbesprochenen Wiegenliedes (1) hier als Kontrapunkt im Sopran, rhythmisch verschoben und modifiziert, wie das Beispiel zeigt:


6. Kapitel

Dazu das neue, durch den Tenor in der tieferen Oktave verdoppelte Thema:


6. Kapitel

Der vierte Takt des Themas enthält immer eine abschließende oder überleitende Kadenz. Viermal nacheinander wird dieselbe [298] Periode eindringlich wiederholt, bei der ersten Repetition belebt sich der Gesang durch eine an- und abschwellende Achtelfigur:


6. Kapitel

bei der zweiten wechselt er den Platz mit seinem Kontrapunkt und erscheint im Sopran, während die alte Wiegenliedmelodie vom Alt übernommen wird. Die sechzehn gleichmäßig vorübergehenden Takte rufen das Bild eines langsam fortschreitenden stillen Zuges hervor, der sich vom hohen Ufer des Flusses dem Wasser zu bewegt. Trotz der Lieblichkeit seiner Musik hat er etwas vom Wesen einer ernsten Feierlichkeit. Ein Kahn nimmt die Teilnehmenden auf, die Wellen kräuseln sich um den Bug des Schiffes; unter gleichmäßigen Schlägen der Ruderknechte gleitet es dahin. Die erfrischende Fahrt durch die anmutig belebte Landschaft läßt alle Trübsal vergessen – kein zufälliger Beobachter würde vermuten, daß vielleicht das Kloster das Ziel der Reise ist, daß die schönste der hübschen jungen Frauen das heitere Licht des freien Tages niemals wiedersehen soll. Auch die Musik verhält sich streng objektiv. Die Baßfigur des Allegretto grazioso:


6. Kapitel

zeichnet den regelmäßigen Ruderschlag, der den schaukelnden Kahn forttreibt; ihr tiefes D klingt als ruhender Orgelpunkt durch den ganzen Mittelsatz fort. Um so freier bewegt sich darüber die zierlich gekräuselte, in Luft und Wasser webende Melodie der Barkarole mit ihren scharf dissonierenden Trillern auf gis, die auf eine fremde Unterströmung deuten. In der Nähe des anderen Ufers häufen sich die Triller und bilden Ketten von Wirbeln und Strudeln. Die Fiorituren der Zwischenglieder:


6. Kapitel

[299] lassen die Verkleinerung von 28, resp. 27 II a erkennen. Im Pianissimo des von 27 I a entlehnten Motivs:


6. Kapitel

kehrt der Sechsvierteltakt zurück, der mit »Schlaf' sanft, mein Kind« zusammenhängende Kontrapunkt meldet sich leise an, die Baßfigur 29 schweigt, die Ruder werden eingezogen, das Schiff landet. Nur die zu modulatorischen Zwecken gebrauchte Mollvariante von 31:


6. Kapitel

wirft einen Schatten auf das helle Bild. Die Wiederholung des Hauptsatzes beschränkt sich auf eine einzige, ausdrucksvoll gesteigerte Variation des Themas, und die drei ritardierenden Schlußtakte mit der Ausweichung nach der Unterdominante nehmen Abschied. Zwischen Ballade und Romanze erscheint als Nr. 4 ein Intermezzo in f-moll. Seine bukolisch angehauchte, dem Pibroch, der schottischen Sackpfeife, abgelauschte Hauptmelodie:


6. Kapitel

wird von einem achttaktigen, eigentümlich geschwellten Synkopen- und Triolen-Doppelthema piano eingeführt:


6. Kapitel

[300] Beide Gruppen treten, symmetrisch gegliedert, in Begleitung kanonischer Nachahmungen auf. Die imitierende Satzweise waltet durch das ganze Stück, als sollten verschiedene Gänge des Kanons durchlaufen werden. In dem stark modulierenden Mittelsatz entfaltet das unscheinbare Einleitungsthema verborgene melodische Reize (der graue Dämmerungsfalter zeigt, wie oft bei Brahms, seine bunten Unterflügel) und hält dem Hauptthema das Gleichgewicht. Werden wir hier an einen Soldatenmarsch, von schrillen Pikkoloflöten geblasen und mit Trommelschlag begleitet, erinnert, so wünschten wir in dessen Trio ein Alternativ zwischen weichen Holz- und tiefen Blechblasinstrumenten zu hören. Zu poetischer Deutung fordert das Intermezzo nicht heraus, lehnt sie aber auch nicht ab. Seine Unverbindlichkeit hat das Stück mit dem ersten kurzen, durch Wiederholungen verlängerten Intermezzo von op. 118 gemein. Der von auf- und abrollenden Passagen getragene, äußerst leidenschaftliche Gesang gleicht einer spannenden Introduktion, die um Aufmerksamkeit für größere Dinge, die da kommen sollen, bittet.

Anders verhält es sich mit dem letzten Intermezzo Nr. 6, das auch unter den Brahmsschen Werken eine Stelle für sich behauptet, obwohl es offenbar als Epilog der ganzen Sammlung gedacht ist. So oft man ihm im Konzertsaal begegnet – man möchte beinahe sagen: leider! – kann man sich des Gefühls kaum er wehren, daß diese merkwürdige Heldenklage als Solostück dort nicht hingehört. Es sollte ihr wenigstens die Romanze vorangehen, dieser aber wieder dasf-moll-Intermezzo, und so weiter zurück, bis zum Anfang der Reihe. Und noch eine zweite und dritte Wahrnehmung bleiben nicht aus, die, wenn sie auch noch subjektiver als die erste sein mögen, doch berechtigt scheinen, weil sie den Charakter des Stückes scharf beleuchten. Vernehmlicher als aus den andern Kompositionen des Meisters der letzten symphonielosen Zeit scheint uns die ungestillte Sehnsucht nach dem von ihm zu früh verlassenen Gebiet der Instrumentalmusik [301] herauszuklingen. Auch der nicht zu verwindende Schmerz, auf der Bühne des Lebens wie im Operntheater nur der Zuschauer geblieben zu sein, mochte ihn noch einmal mit voller Gewalt erfaßt haben, als er dieses lugubre Intermezzo seinen Klavierstücken einreihte. Es mutet dem Pianisten eine Mannigfaltigkeit der Tongebung und Klangfärbung zu, deren unter vielen Berufenen nur ein Auserwählter mächtig ist, und stellt an die Einbildungskraft des Zuhörers Ansprüche, für welche die bescheidene Werkeltagsphantasie des Durchschnittspublikums nicht ausreicht. Ein Sonntagskind der Poesie wäre allein imstande, die in Tönen wiedergegebenen rätselhaften Gedankenvorgänge und Gefühlszustände zu deuten und zu beschreiben, und nur ein Souverän des Pianofortes, der die Bravour Liszts mit dem Anschlag Rubinsteins vereinigt, vermöchte die Magie der dunkeln Töne zu bannen, die Kraft ihrer figurierten Rhythmen zu bändigen.31

Das Andante, »largo e mesto«, wird ritornellartig von einem unbegleitet auftretenden Motiv durchzogen:


6. Kapitel

Es berührt sich mit den Kreisen der e-moll-Symphonie, der Quartette op. 112 (Nr. 2), des Klarinettquintetts und des cis-moll-Intermezzos [302] (op. 117 Nr. 3). Was oben bei der Besprechung dieses letzten Stückes unter Hinweis auf den Zusammenhang mit andern und mit der schottischen Volkspoesie gesagt wurde, soll nicht wiederholt werden. Der Hirte, der die »traurige Weise« bläst, könnte ebensogut wie in den Hochmooren Schottlands in der römischen Kampagna, auf den Felsabhängen der Bretagne oder Mola-Taorminas seine Schafe weiden. Das zur Melodie anwachsende Motiv ist der Natur abgelauscht und fühlt sich überall zu Hause, wo der Mensch die Offenbarungen seiner Urmutter einfältigen Gemütes empfängt. Unwillkürlich wünscht man sich für das Solo des Anfanges eine Oboe herbei und phantasiert weiter ins Orchester hinein. Leise Harfengänge rauschen auf. Das Englischhorn antwortet der Oboe in der tieferen Oktave, beiden Instrumenten gesellen sich zweite Stimmen bei, die in Terzen mitgehen, das zweichörige Spiel von Schalmeien führt die Melodie bis zu dem schauerlich eintönigen, dumpf verhallenden Abgesang:


6. Kapitel

der im Subbaß verdoppelt wird, zum Dominantschluß in b. Sordinierte Hörner halten das gebundene F aus, während das Motiv von den Oboen an Fagott oder Baßklarinette abgegeben wird. Bei der sich anschließenden Wiederholung des Satzes tritt das Streichquartett hinzu. Der chevalereske Ges-dur-Mittelsatz nimmt in seiner Steigerung das volle Orchester mit Pauken und Trompeten in Anspruch und läßt eine Weile vergessen, daß sein Inhalt nur eine von der Hirtenweise heraufbeschworene Vision, das second sight der Schotten, ist. Das öde Gefilde, der verwilderte Schauplatz von Sagen und Geschichten, belebt sich in der Phantasie des weltverlorenen einsamen Träumers mit den Revenants der Geisterwelt. Sie kommen herab im Rauche der Höhen und steigen hinan mit den Nebeln der Seen, ein glänzender Zug kriegerischer Gestalten, immer greller angeglüht vom Feuerscheine zuckender Blitze: Kampfspiele wechseln mit blutigen Schlachten, Schildgekrach, Schwertschlag und Speergeklirr erschallen ... [303] Doch ein Windstoß, und der Ossiansche Spuk zerquirlt im entgeisterten Raume. Der Hirt sitzt wieder im Heidekraut auf dem kahlen Hügel und bläst die Schalmei. Aber sein kleines Lied bricht mit einem Aufschrei ab: er wird, was er geschaut, nie wiedersehen.

Wie Brahms sich solchen ihm ins Handwerk pfuschenden musizierenden und poetisierenden Eigenmächtigkeiten gegenüber verhalten haben würde?

Als er Simrock den Mund nach den Klavierstücken wässern macht, schreibt er ihm: »Ich kann nur kurz gratulieren [zum glücklichen Erfolg einer Badekur] und bedauere, daß ich so gar nichts für Sie habe – denn Klavierstücke kann ich Ihnen doch nicht wieder anbieten, trotzdem Sie sie schön von einem Leipziger Konservatoristen für Orchester setzen lassen könnten!« Dieser ironische Präventivausfall rechtfertigt die ernsthafte Frage, ob nicht Brahms selbst zuzeiten gern dieser Leipziger Konservatorist gewesen wäre, wenn er sich nicht schon bei früheren Gelegenheiten mit zu spät kommenden Änderungs- oder Arrangiergelüsten Witz gekauft hätte.32 Und welche Freude bereitete ihm die anonyme Sendung von Poetenhand (der Frau eines preußischen, im Elsaß stationierten Obersten), die ihm einen phantasievollen, gereimten Kommentar zu verschiedenen Stücken aus op. 118 und 119 brachte! Er fragte mich, was ich davon hielte, und da auch mir eines und das andere Gedicht sehr wohl gefiel, beauftragte er Dr. Fellinger, sie vervielfältigen zu lassen, und verteilte das sauber auf seines Büttenpapier abgezogene, mit einer Vignette von musizierenden Genien geschmückte Heftchen an nähere Freunde.33

Nicht minder großes Gefallen fand er an einem Briefe Philipp Spittas, der ihm am 22. Dezember 1893 schrieb:

»Die Klavierstücke und Übungen sind da, und ich danke Ihnen doppelt dafür, daß Sie sie mir schenkten, und noch mehr dafür, daß Sie sie komponiert haben. Unausgesetzt beschäftigen [304] mich die Klavierstücke, die von allem, was Sie für Klavier geschrieben haben, so sehr verschieden sind, und vielleicht das Gehaltreichste und Tiefsinnigste, was ich von einer Instrumentalform von Ihnen kenne. Sie sind recht zum langsamen Aussagen in der Stille und Einsamkeit, nicht nur zum Nach-, sondern auch zum Vor-Denken, und ich glaube Sie recht zu verstehen, wenn ich meine, daß Sie derartiges mit dem ›Intermezzo‹ haben andeuten wollen. ›Zwischenstücke‹ haben Voraussetzungen und Folgen, die in diesem Falle ein jeder Spieler und Hörer sich selbst zu machen hat. Könnte man sie nur recht spielen! Manches gelingt mir nach einigen Versuchen leidlich; aber das herrliche es-moll kriege ich nicht heraus, sondern ärgere mich nur über mein Gestümper. Nicht einmal das a-moll will mir gelingen, der Typus des ›Intermezzo‹, wie Sie es meinen. Nun wünsche ich nur, daß unsere Virtuosen sie nicht in den Konzertsaal zerren. Ballade, Romanze, Rhapsodie – meinetwegen! Aber die Intermezzi? Mit welch dummem Gesicht wird das Publikum dasitzen. Ihnen nochmals herzlichsten Dank! Wer der Welt immer noch soviel Neues zu sagen hat, darf noch lange nicht aufhören.

Sehr interessieren mich auch die ›Übungen‹. Welche Grausamkeiten zum Teil, aber höchst belehrend und eine Art Schlüssel für Ihre freien Klavierkompositionen. Manche Gestaltungen derselben in Gang und Klang verstehe ich jetzt leichter ...«34

Besagten »Schlüssel« zu den technischen Geheimnissen seines Klavierstiles gab Brahms lange nicht aus der Hand. Nur hin und wieder zeigte er ihn den Freunden35 von weitem und machte sie neugierig auf seine »melodische« Klavierschule, in der alles andere eher als eine Melodie zu finden ist. Die »51 Übungen für Pianoforte«, welche 1893 zusammen mit den »Klavierstücken« erschienen, unterscheiden sich gerade dadurch von sämtlichen guten und schlechten »Etüden«, daß sie rein im Mechanischen aufgehen. Aus den Rädern, Kolben, Hebeln und Schrauben der Maschine hat sich der Geist zurückgezogen, aber die ungemein sinnreiche Konstruktion verrät, daß ein großer Erfinder hinter dem Mechaniker steht, [305] und jeder Bestandteil des Werkes zeigt, daß dieser Erfinder nur der Meister der Konzerte und Kammermusikwerke, der Variationen und Charakterstücke sein kann, mit dem Brahms die Klavierliteratur bereichert hat. Die »51 Übungen« unterweisen den Schüler mit eiserner Strenge in der Gymnastik der Finger- und Handgelenke, bringen ihm Geläufigkeit und Gewandtheit im doppelgriffigen Passagenspiel bei und machen ihn durch Kräftigung und Verfeinerung des Taktgefühls sattelfest auch für halsbrecherische Gangarten Brahmsscher Rhythmik und Metrik. Durch nichts wird der Übende von seiner Aufgabe abgezogen, keine Erholung ist ihm gestattet, kein Gedanke beirrt ihn, keine Empfindung schmeichelt ihm, solange er bei seiner musikalischen Zimmergymnastik bleibt, ist der Körper wichtiger als der Geist.

»Ich schicke hier wirklich,« schreibt Brahms am 12. Dezember 1893 an Simrock, »die schon zum Märchen und mindestens fünfundzwanzig Jahre alt gewordenen höchst melodischen Übungen. Nicht daß Sie sie kaufen und drucken, nur daß Sie Ihren Kennerblick einen Augenblick darauf verweilen lassen. Außer den Melodien kann Sie höchstens der Umfang (?!) reizen und das Titelblatt, das sehr bunt und schön werden müßte. Ich denke an alle möglichen Folterinstrumente, von den Daumenschrauben bis zur eisernen Jungfrau darauf angebracht, auch vielleicht einiges Anatomische, und alles in schönem Blutrot und Flammengelb. Das wäre so eine Nummer 10,000 gewesen!«36 Durch die Ironie, der Brahms hier freien Lauf ließ, leuchtet doch ein tieferer Ernst. Denn neben der Fingergelenkigkeit befördern die »Übungen« alle miteinander jenes der Melodie dienende Legato, das dem unvergleichlichen Klavierspiel des Meisters den Ausdruck der tönenden Seele gab. Wer sich ihre Technik so völlig aneignet, wie Brahms will, lehrt das Instrument singen.

An neuen Klavierstücken von Brahms (nach op. 119) sollten seine technischen Studien nicht mehr erprobt werden. Die Werkstatt hatte er geöffnet, sein Klavier blieb geschlossen.

Fußnoten

[306] 1 A. Moser, Briefwechsel II 249f.


2 Auch in einem an Hanslick gerichteten Briefe macht Brahms von dem nicht sehr glücklichen Bilde Gebrauch.


3 Aus demselben Briefe an Hanslick, den dieser am 1. Juli 1897 in der »Neuen freien Presse« mitteilte.


4 Siehe Maria Fellingers Brahms-Bilder, S. 31.


5 »Auf das schmeichelhafteste unähnlich«, wie sich Brahms in einem Briefe an die Baronin Heldburg noch präziser ausdrückt.


6 I 27.


7 I 34.


8 Vgl. I 369f.


9 Vgl. III 508 Anm.


10 Von demselben Autor ist neuerdings eine gehaltvolle biographischmusikalische Studie über Brahms (in deutscher Übersetzung von A.W. Sturm) erschienen, die reich an seinen und zutreffenden Bemerkungen ist.


11 A. Moser, a.a.O. II 255ff.


12 Verdi sollte mit Brahms zusammen zum Ehrendoktor in Cambridge promoviert werden, verzichtete aber, in Anbetracht der weiten Reise, auf die Ehre. An Brahms' Stelle erhielt Max Bruch den Doktorhut.


13 Brahms kam immer gegen 3 Uhr nach dem schwarzen Kaffee aus dem Kursalon ins Atelier, das Tilgner in einem nicht sonderlich hellen Raume des unteren Belvedere aufgeschlagen hatte. Da mußte Brahms, wenn er über die Schwarzenbergbrücke in die Karlsgasse ging, ohnehin vorüber, und so war es ihm am bequemsten.


14 Auch ich erhielt ein Exemplar der Büste und stellte sie auf einem Säulenpostament in meinem Arbeitszimmer auf. Je länger ich den robusten, in Haupt- und Barthaar, ja selbst in den Augenbrauen rokokomäßig verschnörkelten Gipsmann vor mir sah, desto weniger gefiel er mir, und ich versetzte ihn endlich auf eines meiner Bücherregale, wo Goethe, Beethoven und Homer auch ihre dekorative Schuldigkeit tun mußten. Bei seinem nächsten Besuche gewahrte es Brahms und bedankte sich ironisch, daß ich ihn zu den Unsterblichen erhoben hätte – »eine nette Gesellschaft!«.


15 Vgl. III 148.


16 Ein andermal sagte mir Brahms, als ich ihm mit allzu großer Befriedigung einen Fragebogen, den ich für das Brockhaussche Konversationslexikon ausfüllen sollte, unter die Nase hielt: »Ja, 'reinkommen ist leichter als drinbleiben.«


17 Mühlfeld.


18 Frau Schlüter schreibt dem Verfasser, der Kirchner 1901 in ihrem Hause besuchte und den Alten trotz seiner Gelähmtheit ziemlich guter Dinge, die Zigarre rauchend, auf dem Sofa liegend fand: »Ich sende Ihnen Theodor Kirchners letzte Aufnahme. Furchtbar war es zuletzt mit ihm. Die göttliche Musik, meine Verehrung für Kirchner und Brahms und der Zufall haben ihn mir, durch eine Schülerin, zugeführt. Ich nahm wöchentlich eine Musikstunde bei ihm, hörte von seiner Lage und zahlte pränumerando für viele Zeit. Das war im September 1894. Im Dezember hatte er einen Schlaganfall von seinem unregelmäßigen Leben. Freundinnen waren genug da, aber keine Fürsorgerin; da zahlte ich denn auch noch postnumerando nach Kräften ab, was ich dem genialen Musiker verdankte. Sie haben ja gesehen, wie gut es der alte Herr in seiner eigenen Etage bei mir hatte. Täglich ist er zu mir gekommen, ehe er dann, bis zum Tode, in meinem Hause wohnte. Ich habe nicht nur A gesagt, sondern das ganze Alphabet durchbuchstabiert, bis zum Z und Tz. Das Grab, in das wir den Achtzigjährigen am 21. September 1903 gelegt, wird von uns unterhalten. Aber ob Geburts- oder Todestag – keine Künstlerseele denkt mehr an den großen Schüler Robert Schumanns, an den Freund von Johannes Brahms, an den Meister so vieler seiner und poetischer Klavierstücke!«


19 Reminiszenz an Goethes »Diner zu Koblenz«: »Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.«


20 Vgl. I 191.


21 Durch den Namen Bothwell verführt, haben viele, und Brahms wahrscheinlich mit ihnen, geglaubt, die Heldin der schottischen Romanze sei die Gattin jenes berüchtigten Grafen von Bothwell gewesen, der nach Darnleys Ermordung die Königin Maria Stuart entführte. Seine von ihm geschiedene Frau war Jane Gordon; unsere Anne Bothwell aber wurde als die Tochter eines protestantischen Bischofs von Orkney ermittelt, die, von ihrem Geliebten Alexander Erskine verlassen, in den Mund des Sängers und der Leute kam.


22 Gegen Arrangements des Intermezzos konnte oder wollte Brahms nichts einwenden. Es erschien schon 1893 in Bearbeitungen von Paul Klengel für Violine oder Bratsche oder Violoncell mit Pianoforte und als Orchesterstück eingerichtet. Für Orgel wurde es 1897 von Edwin H. Lemare und 1909 von Alfred J. Silver bearbeitet. Auch hat Brahms selbst Hand angelegt, um das »Wiegenlied«-Intermezzo zu instrumentieren. Mandyczewski sah bei einem Ischler Besuche die erste Seite der angefangenen Partitur auf dem Tische liegen, und Brahms konnte das Blatt nicht eilig genug umdrehen, um es den Augen seines Besuchers zu entziehen. Wahrscheinlich veranlaßte ihn der so ganz klaviermäßige Mittelsatz des Stückes, die Arbeit abzubrechen.


23 Vgl. I 189.


24 »Neulich kam ich von einer langen Gesamtprobe [bei Viktor von Miller] nach Haus«, meldet Brahms an Klara, »und ganz wie selbstverständlich, ohne einen besonderen Gedanken, saß ich wieder am Klavier und spielte sie (die Variationen) ganz inniglich mit meinen zwei Händen vor! Es ist, als ob man an einem schönen sanften Frühlingstag spazierte, unter Erlen, Birken und blühenden Bäumen, ein sanft rieselndes Wasser zur Seite. Man wird nicht satt, zu genießen die ruhige, nicht warme, nicht kalte Luft, das sanfte Blau, das milde Grün, man denkt nicht, daß es auch Aufregung gibt, und wünscht keine dunklen Wälder und schroffen Felsen und Wasserfälle in die schöne Einförmigkeit. Wenn man nun für die Musik extra Philisteraugen hätte, so sähe man wohl mit Bedenken, wie das Thema viermal im selben Tone schließt, nennte die süßen, weichen Harmonien gar süßlich weichlich, und fürchtete sie in den Variationen oft wiederholt zu hören. Alles vergebens! Man taucht unter und genießt die holde Musik wie die zarte, erquickende Frühlingsluft und Landschaft« ... (Litzmann III S. 565.) Dieser Gefühlserguß – bei Brahms ein rarissimum – läßt den Dichter im Tondichter sehen und enthüllt auf das deutlichste in Worten Empfindungen, wie sie ihn selbst zum und beim Komponieren bewegten.


25 a.a.O. III 562.


26 »Eigentümlich fügte es sich«, heißt es in Widmanns »Eine Frühlingsfahrt durch Sizilien«, »daß infolge dieses Zwischenfalles Brahms seinen 60. Geburtstag, den 7. Mai, nun allerdings in stiller Verborgenheit zubrachte, nämlich als treuer Hüter und Pfleger an meinem Bette« ...


27 II 443ff.


28 I 175.


29 II 196. Auch in der Anmerkung zu S. 195 wird auf die späteren Klavierstücke Bezug genommen.


30 Ballade und Rhapsodie hoben die frühere Einteilung der Hefte auf. »›Monologe‹ oder ›Improvisationen‹«, schreibt Brahms am 23. Oktober an Simrock, »kann ich leider diesmal durchaus nicht sagen, mit dem besten Willen nicht. Es bleibt wohl nichts übrig als ›Klavierstücke‹! Schließlich beißen ja die einzelnen Stücke auch immer mit denselben Namen: Intermezzi, Kapricen, Rhapsodien usw. Die Leute finden doch ihre Lieblinge heraus« ... Ein Woche darauf lehnt er Simrocks Vorschlag, die Kompositionen »Phantasiestücke« zu taufen als »ganz unmöglich« ab. Lieber wäre ihm dann noch der Titel »Phantasien«; »gerade weil die vorletzten so heißen, und ich etwa folgende wieder so nennen könnte.« Er trug sich also 1893 mit dem Gedanken, noch mehr von derselben Art zu schaffen.


31 Auf den hohen Wert der Brahmsschen »Stimmungsmusik«, wie sie gerade diese letzten Pianofortewerke ausströmen, weist Walter Niemann in seinem Aufsatze »Brahms als Klavierkomponist« (»Die Musik« III 18) nachdrücklich hin. »Es sind«, sagt er, »Stimmungen eines echten Norddeutschen, in denen Brahms sein Eigenstes gibt, es sind Stimmungen, wie sie uns aus Theodor Storms unvergänglichen Meistererzählungen so zum Greifen deutlich entgegentreten, wie sie über seiner ›grauen Stadt am Meere‹ lagern: grübelnde, resignierte Melancholie, stille unbefriedigte Sehnsucht nach Sonne und Süden, dumpfe, schwere Verzweiflung wie unendlich seiner, durch Lebenskämpfe und mit dem Herzblut erkaufter, durch Lebenserfahrungen geläuterter, zurückhaltender oder grimmig sarkastischer Humor, vornehme Anmut, ganz selten einmal – und dann mit elementarer Gewalt durchbrechend – Lebens- und Liebeslust, alles umweht von der frischen, kräftigen und kerngesunden Luft der heimatlichen Marschen. Auch die wundervolle Ruhe der Darstellung, der köstliche, abgeklärte Stil Storms findet ein Äquivalent an Brahms' schlechterdings klassischer Meisterschaft über alle formalistischen Darstellungsmittel der Tonkunst.«


32 »Ich habe bisweilen daran gedacht«, schreibt Brahms am 17. September 1894 an Simrock, »mehrere Klavierstücke zusammenzufassen und daraus eine Art größerer Rhapsodie für Orchester zu machen. Das bloße Klavierstück ist eben kein Orchesterstück und wird keines.«


33 Das zum es-moll-Intermezzo gehörige Gedicht folgt im Anhang.


34 Zuerst mitgeteilt von Carl Krebs in der »Deutschen Rundschau« XXXV 7.


35 Briefwechsel mit Herzogenbergs I 1317. II 267.


36 Simrocks Verlagskatalog hatte das zehntausendste Werk ausgegeben.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915, S. 259-307.
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