IX.

[400] Von dem wärmer gewordenen persönlichen Verhältnisse, das zwischen Brahms und der Gesellschaft der Musikfreunde eingetreten war, gab die Bereitwilligkeit Zeugnis, mit der er einem Wunsche der Direktion entgegenkam. Zur Erinnerung an die vor fünfundzwanzig Jahren erfolgte Eröffnung des Musikvereinsgebäudes fanden in dessen großem Saale mehrere Festkonzerte statt, auch ein vom Konservatorium der Gesellschaft am 18. März 1895 veranstaltetes, bei welchem sich das von J.N. Fuchs vorzüglich eingeübte Schülerorchester produzierte. Brahms setzt, dadurch, daß er die Leitung seiner Akademischen Festouvertüre selbst in die Hand nahm, gleichsam das Siegel auf das Diplom. Im Saal war ein fürchterliches, Gedränge, und ich konnte nicht zu meinem Sitz gelangen. Vom Generalsekretär Koch unter dem Podium auf einen ruhigen Platz neben der Orgel, geführt, saß ich in der Nähe, der Loge, wo die Prinzessin Mary von Hannover und die Herzogin von Cumberland den das Podium besteigenden Meister mit lebhaftem Beifall begrüßten. Ich konnte Brahms gerade ins Gesicht sehen – ein denkwürdiger Anblick. Er war mit ganzer Seele bei, der Sache, und das Feuer seines Pathos riß die begeisterte Jugend vollends hin. Trotzdem machte er den Eindruck, als ob er unter den Dämonen, die sein Taktstock heraufbeschwor, zu leiden habe, als ob er erst mit ihnen ringen müsse, ehe er sie beherrschte. Immer wieder drückte er die geballte Linke, aufs Herz, als ob es ihn, schmerze, und gebrauchte sie dann wieder, um anzutreiben oder zu kalmieren. Sie hatte bei ihm eigentlich mehr zu sagen als die Rechte, weil das Wenige, das sie sagte, von entscheidender Bedeutung war. Er trug weder Pincenez noch Brille. Seine Augen bekamen einen eigenen, fremdartigen, starren Glanz, als sähe eine manchmal bis zum Entsetzen gesteigerte Angst aus ihnen heraus. Jeder [400] Forteschlag erschütterte seinen stämmigen Körper, und die grauen Haarsträhne flogen um sein Haupt. Als ich nach der Ouvertüre unter dem Podium zurückgegangen war und die andere Seite des Saales gewonnen hatte, empfing ich ihn im Korridor vor dem Eingang ins Künstlerzimmer mit einem freudigen »Schmollis, alter Herr!«, das er kommentmäßig im Sinne der »Akademischen« mit einem »Fiduzit, junger Fuchs!« erwiderte. Wer hätte damals gedacht, daß Brahms bei dieser Gelegenheit zum letztenmal in Wien dirigierte! Oster als sonst hörte ich ihn um eben jene Zeit Klavier spielen. Fast immer, wenn ich ihn zwischen zehn und elf Uhr vormittags besuchte, saß er am Flügel und beschäftigte sich mit Bachscher Musik, zumeist mit Orgelfugen, die ihm so geläufig waren, als ob sie für Klavier geschrieben worden wären. Er glaubte sich dieser forte betriebenen Liebhaberei wegen rechtfertigen zu müssen und sagte: »›Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe‹! Ich spiele nämlich nur, um das verdammte Klavier unter mir zu übertönen. Und dazu ist so eine Fuge wie geschaffen. Das Frauenzimmer von der neuen Partei im zweiten Stock ist sonst nicht klein zu kriegen. Erst tat sie Wunder wie, als ich sie einmal auf der Treppe traf: ›Wenn ich gewußt hätte, daß ich den Herrn Doktor störe, hätte ich das Klavier auf die Straße geworfen.‹ Was habe ich der ›schönen Nachbarin‹ nicht schon für Liebenswürdigkeiten hier oben durch den Fußboden gesagt, um sie zum Schweigen zu bringen! Die feinsten Stücke habe ich nur für sie gespielt. Glauben Sie, daß sie auch nur ein einzigesmal aufgehört hat, um zu horchen?«

An den Gesellschaftskonzerten nahm Brahms noch größeres Interesse, seit Richard v. Perger von Rotterdam nach Wien berufen worden war,1 wozu er stillschweigend seine Zustimmung gegeben hatte. Als ihm Perger das Programm für die erste von ihm zu leitende Serie zur Kritik vorlegte, antwortete er eingehender und ausführlicher, als sonst seine Gewohnheit war, in einem Schreiben, das ein scharfes Licht auf seine eigene Direktionstätigkeit zurückwirft und mehr zwischen den Zeilen lesen läßt, als den Verkleinerern seiner Verdienste lieb sein kann.

[401] »Geehrter Herr,« schreibt er im Juni 1895, »meinen besten Glückwunsch zur Rückkehr in die Heimat, die auch der lieben Frau recht sein wird. Eigentlich möchte ich es damit gut sein lassen, da wir uns ja hoffentlich im Sommer sehen.

Sie wünschen aber, daß ich meine Meinung über Ihren Programm-Entwurf äußere!

Wenn ich mich darauf einlasse, und, wie es nötig ist, eilig – so bitte ich vor allem zu bedenken, daß Sie Ihr Programm nicht für mich machen, ich dagegen meine Betrachtungen wirklich ›für mich‹; andere werden Ihnen hinwieder das grade Gegenteil sagen, und Sie müssen schließlich das Fazit für sich ziehen.

Von mir werden Sie begreifen, daß ich vor allem denke, wie die Wiener kaum eine Ahnung von wahrhaft großer Chormusik haben, wie sehr wenig hier Bach und Händel gekannt sind, und wie gar nicht ihre großen Vorgänger. Nur unter ganz wenigen Hauptwerken wird jährlich Eines gewählt. (So Sie diesmal die Matthäus-Passion.)

Den A cappella-Gesang angehend, gibt es auch diese wenigen Ausnahmen nicht, und wenn auch nicht viel Zeit dafür bleibt, so ist die Wahl dafür um so leichter, die Wirkung um so sicherer.

Schließlich wäre im allgemeinen noch zu sagen, daß Sie nicht lauter Chormusik machen können, daß Sie für Intermezzi zu sorgen haben. Auch hier haben Sie den Vorteil, daß alles, was nicht zum allergewöhnlichsten Symphonie- und Konzertprogramm gehört, neu ist. Hier denke ich an Bach, Händel und ihre besten Nachfolger.

Will der Herr Direktor für zartere Gemüter nebenbei besorgt sein, so wünschte ich, er purzele nicht gleich bis zur französischen Eva hinunter. Schon der vielen erfolgreichen deutschen Aufführungen wegen nenne ich den Franziskus von Tinel. Vielleicht käme Tinel selbst ganz gern nach Wien. Der Belgier gilt als halber Franzose, und so ist bei einem deutschen Publikum – – usw.2

[402] Den Christus von Kiel kenne oder erinnere ich nicht.

Gegen die C-dur-Messe von Beethoven und das herrliche Requiem von Cherubini spricht sehr, daß im katholischen Wien derlei Werke in den Kirchen handwerksmäßig malträtiert werden, und deshalb die nötige Pietät bei Sängern und Hörern fehlt.

Sie werden mit Schrecken sehen, wie weit meine Kritik geht; das wird aber wohl bei jedem so kommen, den Sie um seine Meinung fragen. Es zeigt, wie weit der Horizont ist, den Sie überschauen können. Sie müssen schließlich die Ihnen gemäße Richtung kennen und einschlagen, wobei Sie die herzlichsten Wünsche begleiten

Ihres ergebenen Brahms.«


Der Brief ist in Ischl geschrieben, wohin Brahms, nach einem vom Tonkünstlerverein veranstalteten Abschiedsabend im Prater, am 15. Mai abgegangen war. An der Traun und Ischl konnte er sich von den Anstrengungen des Winters gründlicher ausruhen als auf der schönsten italienischen Reise. Der Versuchung, sich als dramatischer Gelegenheitsmusiker zu betätigen, war er klüglich aus dem Wege gegangen. Paul Lindau, der neue Meininger Theater-Intendant, wollte den Antritt seines Regimes mit einer besonderen dramaturgischen Tat hervorheben, und war auf Grabbes »Don Juan und Faust« verfallen. Die klaffenden Lücken des szenischen Baues sollten von einem erfinderischen Musiker ausgestopft werden, und Brahms sollte dieser Musiker sein. Ohne mir etwas von Lindaus Anträgen zu sagen, fragte mich Brahms eines Tages nach meinem Urteil über das Grabbesche Drama. Ich nannte es gesprächsweise und in aller gebotenen [403] Kürze ein verrücktes, für das Theater unbrauchbares Gedicht, das voll genialer Einfälle stecke. Das sei auch seine Meinung, pflichtete er mit einem Seufzer der Erleichterung bei und weihte mich in Lindaus Plan ein. »Große Lust dazu habe ich von Anfang an nicht gehabt, und nun tue ich's gewiß nicht. Es fehlt an musikalischem Stoff in dem Gedicht, abgesehen davon, ob es was taugt oder nicht. Das ist mit ›Egmont‹, ›Som mernachtstraum‹ oder ›Manfred‹ eine ganz andere Sache.« Nun tat es mir leid, daß ich ihm den Spaß verdorben und die Welt um eine gewiß höchst eigentümliche Komposition gebracht haben sollte. Ich fügte also meiner vorschnellen Kritik hinzu, es wäre doch nicht undenkbar, dem Drama mit Musik aufzuhelfen, wenn er sich so frei wie möglich dabei bewege, was dann den Vorteil hätte, daß seine Komposition, auch abgelöst von Grabbe und dessen Gestalten, ihre selbständige Geltung fände. »Da könnte ich ebensogut oder noch besser gleich was anderes komponieren, es brauchte ja nicht gerade ein ›Faust‹ oder ›Don Juan‹ oder gar eine unsinnige Verquickung beider zu sein.«

Übrigens war es ihm dienlich, daß er freie und vollkommene Muße hatte, die zerstreuten und verbrauchten Kräfte zu ergänzen und zu sammeln. Denn der Winter, der ihm noch den riesigsten Schneefall in den Sommeraufenthalt nachsandte, hatte ihn stark mitgenommen, und neue Strapazen standen ihm bevor. Im Hinblick auf die mit Reisen und Geschäften verquickten Lustbarkeiten der letzten Zeit wäre die Frage nicht unberechtigt, ob Brahms seine Natur, der er etwas zumuten durfte, habe auf die Probe stellen und ihr ein Plus des Erlaubten abtrotzen wollen. Vielleicht auch bedachte er nicht, daß ein Übermaß genossener Freuden jedermann die größten Mühseligkeiten auflädt.

Hanslicks siebzigster und Menzels achtzigster Geburtstag beunruhigten ihn lange vorher. Er wußte, daß der eine im Winter, der andere schon im Sommer 1895 gefeiert werden sollte, aber wann? Simrock wird die Güte haben, in irgendeinem Lexikon nachzuschlagen und ihm das Datum mitzuteilen, und Brahms sagt ihm entschuldigend, daß er Simrocks Geburtstag auch vergessen habe. Menzel sei immer so liebenswürdig, ihm zu gratulieren, und er möchte diesmal wenigstens eine Liebe mit der [404] andern erwidern. »Ich habe kein Gedächtnis für Zahlen, und aufschreiben nützt bei mir nichts.« Sobald er erfahren hat, daß Hanslick am 11. September siebzig Jahre alt werde, entwickelt er sofort einen ganzen Feldzugsplan. Er schreibt an Miller, an Widmann, an Simrock, an Frau Fritsch-Estrangin, an Wittgensteins und viele andere, von denen er Teilnahme für den Freund voraussetzt, und ermuntert sie zu Gratulationen. Beinahe hätte er es nach Heyses Spruch gemacht: »Gibst einem ein Fest und lädst ihn nicht ein.« Aber Anfang September empfängt der Ahnungslose folgende herzliche Zeilen von Brahms:

»Lieber Freund, Du läßt Dir hoffentlich Briefe nachsenden, und so hörst Du, wenn ich hier den herzlichen Wunsch ausspreche, den 11. September mit Dir zu verleben.

In Gmunden beim freundlichen Miller? Mit ihm als Wissendem? Oder soll er dies beim Champagner wer den?

70 Kerzen auf den Tisch wirst Du nicht beanspruchen, aber die schöne Zahl der Jahre, und wie schön Du sie gelebt hast, das wird leuchten und strahlen in Herz und Gemüt, daß gewiß auch Dir wohl sein soll.

Inniger kann nicht wohl jemand mitfeiern als ich, und so sage recht bald ein Wort (von welchem Teil des Globus?) Deinem herzlich grüßenden und bittenden J. Brahms.«

Nach Aussee zu kommen, das Hanslick im September bereits verlassen hatte, war Brahms früher nicht zu bewegen gewesen: sie wären dort ja doch nie allein und könnten kein vernünftiges Wort miteinander reden. Zudem erwartete und hatte Brahms selbst viel Besuch, dem er weder ausweichen konnte noch wollte, und verkürzte sich die überflüssige, der Geselligkeit gewidmete Zeit mit dem Quartett Kneisel und anderen jungen Musikern beiderlei Geschlechts. Am Vorabende des 11. September traf er mit dem Jubilar bei Miller v. Aichholz in Gmunden zusammen. Ein vom Hausherrn bestelltes Feuerwerk erregte Brahms' ganz besonderes Wohlgefallen, und er versicherte, daß der Pyrotechniker der Feder sehr angenehm davon überrascht sein werde. Die Hauptüberraschung am folgenden Festtage aber war die von einem Doppelquartett der Kurkapelle besorgte Tafelmusik, die nach Millers Toast die Brahmsschen, Hanslick [405] gewidmeten Walzer (op. 39) anstimmte. Auch Brahms hielt eine Ansprache an seinen alten Freund, die, komisch und rührend zugleich, einige satirische, auf den Kritiker zielende Spitzen mit Seide umwickelte, so daß ihre Stiche nicht verletzten, sondern nur angenehm prickelten. »Obwohl«, sagte Brahms ungefähr, »unsere Ansichten in der Kunst manchmal ganz auseinander gehen, die seinen hierhin, die meinen dorthin, obwohl er Bach am liebsten als Kompositum von Offenbach liebt, und obwohl uns auch seine sonstigen Schwächen bekannt sind – seine stärkste Schwäche sitzt neben ihm, Frau Sophie, so muß ich doch sagen, daß er mir in all den Jahren meines nun auch schon langen Lebens immer derselbe milde, gutherzige, treue und unbestechlich aufrichtige Freund gewesen ist, als welchen ich ihn vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an kennen gelernt habe.« Brahms begleitete seinen Speech mit so drastischen Gesten und war selbst so ergriffen von dem, was er sagte, daß alles durcheinander lachte und weinte, als Hanslick und Brahms sich in den Armen lagen. Goldmark, Mandyczewski, Epsteins und Heubergers gehörten mit zu der kleinen Tafelrunde der Gmundener Villa, und der Traunstein funkelte im roten Abendsonnenglanze, als die ganze Gesellschaft in sechs Equipagen durch den Park zur Bahn hinauffuhr, um Joachim, der im Schlosse Cumberland erwartet wurde, zu bewillkommnen.

Wie Brahms für Hanslick geworben hatte, so animierte er jetzt seine Freunde und näheren Bekannten, an den hohen Festen teilzunehmen, die ihn in Meiningen und Zürich erwarteten, und sandte ihnen gedruckte Ankündigungen. Das »Sachsen-Meiningensche Landes-Musikfest«, das »unter dem Protektorate Sr. Hoheit des Herzogs von Sachsen-Meiningen und unter Leitung des Herrn Generalmusikdirektors Fritz Steinbach vom 27. bis inklusive 29. September 1895 zu Meiningen« stattfand, war ein lange und sorgfältig vorbereitetes Unternehmen, das weit über die Grenzen des Meininger Landes, ja sogar über Deutschland hinaus auf das Interesse der Musikfreunde rechnen durfte. Hatte einst Bülow den Ruf der Meininger Hofkapelle durch die musikalische Welt getragen, so sollte jetzt die musikalische Welt ihre Gegen- und Dankvisite an der reizenden Geburtsstätte erfolgreicher künstlerischer [406] Experimente abstatten, welche, wie früher dem Ensemble des Schauspiels, jetzt dem Zusammenwirken der Orchester- und Chormassen zum Nutzen gediehen. Ansehnliche Kontingente musizierender Truppen strömten aus den Städten und Städtchen des in der Liebe zur Kunst erzogenen und befestigten Landes herbei, um sich mit der Hauptmacht der Residenz zu vereinigen. Musikpflege war eine patriotische Angelegenheit. Saalfeld, Hildburghausen, Sonneberg und Salzungen sandten, was sie an sangeskundiger, wohldisziplinierter Jugend besaßen, das Orchester der herzoglichen Hofkapelle aber erhielt Sukkurs aus Weimar, Hannover, Koburg, Sondershausen, Köln, Leipzig und München. Fünf Dirigenten von Chorvereinen, zwölf Solisten (Joachim mit seinem Quartett, Mühlfeld, Bram-Eldering, d'Albert, die Konzertsängerinnen Nathan und Walter-Choinanus, die Kammer- und Hofopernsänger Anthes, Perron und Settekorn), ein allgemeiner Chor von 346, Choral- und Knabenchöre von 40 und 75 Stimmen und endlich ein Orchester von 91 Instrumentalisten bildeten eine Armee von 570 Köpfen, welche von dem Generalissimus Steinbach befehligt und zum Siege geführt wurde. Er besaß sein Amt nicht bloß dem Titel nach. Ein Haupt mit vielen Händen, war er der Oberste, der seine Leute genau kannte und wußte, wieviel er ihnen zumuten durfte, weil er sie selbst einzuexerzieren und zu inspizieren pflegte.

Der zur Vorführung ausgewählte Stoff verteilte sich auf fünf Konzerte, die, an zwei Vormittagen und drei Abenden, abwechselnd im Hoftheater und in der Stadtkirche, stattfanden. Die Vortragsordnung bedeutete ein Programm im Programm: denn das Verzeichnis der Musikstücke diente einer musikpolitischen oder kunstgeschichtlichen Tendenz. Bülows persönliches Kredo, mit Bach, Beethoven und Brahms denke er bis ans Ende seines Lebens reichlich auszukommen,3 erhielt die imposanteste Verallgemeinerung, die jedem einleuchten mußte, dem sie ad oculos et aures demonstriert wurde: Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der sehe und höre! Brahms erschien, »ein gleichgescharter Cherub«, wie es bei Grillparzer von Mozart in bezug auf Rafael heißt,[407] neben Bach und Beethoven, als den ihm nächstverwandten großen Geistern seiner Kunst. In den beiden Kammermusikmatineen wurde das eine Mal ein Brahmssches Werk (die f-moll-Klarinettsonate) von zwei Beethovenschen (den Quartetten in B-op. 131 und C-dur op. 59), das andere Mal ein Beethovensches Werk (das cis-moll-Quartett) von zwei Brahmsschen (dem Klarinettquintett und dem Streichquintett in G) eingeschlossen, oder sagen wir besser, liebevoll umfaßt. Der Abend des 27. September gehörte ausschließlich Bachs Matthäus-Passion, die in der Stadtkirche zwei-, beziehungsweise dreichörig, wie sie gedacht ist, zur Aufführung kam. Die Choräle wurden a capella von dem dazu besonders geschulten Salzunger Choralchor gesungen. Der Nachmittag des 29. brachte ebendort »die drei großen B« nebeneinander: das Triumphlied fraternisierte mit der Missa solemnis und der Kantate »Nun ist das Heil und die Kraft«. In dem großen Konzert vom 28. aber sicherten die Soloquartette »An die Heimat«, »Nächtens« und »Wechsellied zum Tanze«, das Doppelkonzert für Violine und Violoncell, die Händel-Variationen für Pianoforte und die c-moll-Symphonie Brahms das numerische Übergewicht gegen Bachs sechstes Brandenburgisches und Beethovens Klavierkonzert in Es. So gestaltete sich das Fest zu einer Inthronisation der Brahmsschen Musik, und die aus Deutschland, Holland, England, Frankreich, Belgien, Österreich und der Schweiz zugereisten Gäste, Freunde und Fremde, huldigten dem Erben und Nachfolger erlauchter Vorgänger.

Er saß seelenvergnügt unter dem glänzenden Publikum, ein dankbarer, innerst gerührter Zuhörer, der eigentlich zum ersten Male mit vollem Behagen und ohne Bedenken an dem Reichtum seiner Gaben sich erfreuen konnte, indem er ihn mit anderen teilte. In jeder Beziehung wußte er sich gut aufgehoben bei den ihm ergebenen Künstlern wie bei der ihm zujauchzenden Menge, und die Abwesenheit des durch Krankheit am Erscheinen verhinderten gütigen Herrn, der dem Freunde den verdienten Triumph bereitet hatte, war die einzige Trübung der glorreichen Tage. An Stelle ihres Gemahls machte Freifrau v. Heldburg in liebenswürdigster Weise die Honneurs. »Der Mittelpunkt des Festes«, heißt es in einem damaligen Zeitungsberichte, »war Johannes Brahms, der bei jeder Gelegenheit enthusiastisch gefeiert wurde. Auch sonst [408] belebte er mit seinem regsamen Geist, seinem sprudelnden Humor alle Kreise. Die dem Komponisten dargebrachten Huldigungen hatten etwas Fortreißendes, Überwältigendes. Ich habe selten solche mächtige, wie Elementarereignisse sich entladende Ausbrüche von Begeisterung miterlebt. Die Brahmssche Kunst übte ihre ganze herzbezwingende Macht auf die Menge aus, die sich zu dem Mann und seinen Werken stellte, wie es sich gebührt. Man ließ die Verkündigungen des Genius unmittelbar auf sich wirken und leistete dann willig seinem führenden Geiste Gefolgschaft.«

Bevor Brahms in aller Frühe von Meiningen abreiste, richtete er noch an Steinbach folgendes Dankschreiben:


»Lieber Freund,


So sehr es mich reizt, ich darf Ihren so wohlverdienten Schlaf nicht unterbrechen. Aber beim frohen Erwachen sollen Sie doch meinen herzlichen Gruß vorfinden; wie herzlich und wie herzlich dankbar er ist, brauche ich Ihnen nicht ausführlich zu sagen. Sie müssen es alle Tage empfunden haben, was Sie mir und allen, die Ihr herrliches Fest mitfeierten, für eine ganz ungemeine Freude gemacht haben.

Mit dieser ganz sicheren Empfindung aber müssen Sie wohl zufrieden sein, denn weder schriftlich noch mündlich kommt man dazu, sich über so Außerordentliches, wie es Ihr Fest in jeder Beziehung war, voll und ganz auszusprechen.

Könnte ich irgend, so bliebe ich den Tag hier, um es zu versuchen – – –.

Noch zwei kleine P.S.: Könnten und möchten Sie nicht zum 20. Oktober nach Zürich kommen? Und denkt K. wohl daran, die Orgelstimmen dorthin zu schicken – er könnte den Organisten, den trefflichen, gleich mitschicken, und den Dirigenten, den allervortrefflichsten, dazu ! – Denn in Zürich soll leider Takt schlagen


Ihr Sie alle von Herzen grüßender J. Brahms.«


Ein besonders anschauliches Bild der Meininger Tage, wie sie sich in der Persönlichkeit des Gefeierten wiederspiegelten, verdanken wir der Güte des Herrn Edward Speyer (Ridgehurst, Shenley, Herts in England), der seine diesbezüglichen Erinnerungen für unsere Biographie aufgezeichnet hat.

[409] »Ich war«, schreibt er, »mit Frau und Tochter von England nach Meiningen gereist. In Brüssel hatten sich uns noch mein Schwiegervater, Professor Hubert Ferdinand Kufferath (1818 bis 1896) und mein Schwager, der Musikschriftsteller und Direktor der kgl. Oper (Théâtre de la Monnaie) Maurice Kufferath, angeschlossen. Dem alten Herrn, einem Schüler Mendelssohns und langjährigem vertrauten Freunde Klara Schumanns, der seit 1844 in Brüssel lebte und viele Jahre als Lehrer der Komposition am dortigen Konservatorium tätig war, hatte Brahms von jeher eine wahrhaft kindliche Verehrung und Zuneigung entgegengebracht.

Wir waren spät abends am Ziel unserer Reise angelangt. Am nächsten Vormittag sollte das Fest mit einem Kammermusikkonzert eröffnet werden. ›Wann und wo werden wir Brahms treffen?‹ war die stete Sorge meines Schwiegervaters und beim Frühstück seine erste Frage. Da Brahms auf der nach dem Theater führenden Hauptstraße, wo auch unser Hotel, der ›Sächsische Hof‹, lag, sicher vorbeikommen mußte, legten wir uns auf dem Balkon unseres Salons auf die Lauer, und richtig erschien er schon kurz nach zehn Uhr (das Konzert begann erst um elf), und trotz der frühen Stunde bereits mit Frack und weißer Halsbinde angetan, auf der Bildfläche. Wir eilten alle hinunter und ihm entgegen. Freudestrahlend warf er sich ›Papa Kufferath‹ an die Brust und rief: ›Das heiße ich mir gute, wirkliche Freunde, die der weite Sprung auf der Landkarte nicht geniert, zum Fest hierher zu kommen. Was soll ich nun von den Schlafmützen am nahen Rhein halten?‹ (Von seinen Krefelder und Kölner Freunden waren viele am Kommen verhindert). Seines Galaanzugs wegen entschuldigte er sich damit, daß er das viele An- und Umziehen für die Konzerte und Mahlzeiten bei Hofe nicht aushalte, und da er doch einmal in den Frack hinein müsse, so gebe er gleich am Morgen darin spazieren, um dann für den Rest des Tages weiter keine Sorgen zu haben. ›Wie hier musiziert wird‹, sagte er, ›davon habt Ihr keine Idee. Die Chöre, das Orchester, und der unübertreffliche Steinbach – das alles ist einzig. Ihr hättet schon früher kommen sollen – nun, heute abend ist noch die Generalprobe zur Matthäus-Passion, morgen früh die zurMissa [410] solemnis. Geht ja dazu hin und versäumt keine Note: so was kriegt Ihr in Euerm ganzen Leben nicht wieder zu hören!‹ Von seinen eignen Werken sagte er kein Wort. Kufferath, in dessen Arm er sich eingehängt hatte, war so unvorsichtig, ihn nach seiner fünften Symphonie zu befragen, von der in den Zeitungen geschrieben wurde. Da machte er sich mit einem heftigen Ruck von seinem Begleiter los, rief: ›Ach was, Kufferath, von Ihnen habe ich genug, ich will jetzt mal lieber mit Ihrer Tochter gehen‹ und reichte meiner Frau den Arm. Beim Weitergehen schlossen sich andere Bekannte und Freunde an, auch die Geigerin Marie Röger-Soldat. ›Für die müssen Sie etwas in England tun‹, raunte er mir zu, ›die muß drüben, namentlich in den Popular Concerts ordentlich spielen und bekannt werden‹. Ich hätte der Künstlerin sofort ein Engagement verschaffen sollen, wozu es für dieses Jahr viel zu spät war, und als ich ihm später schriftlich mitteilte, daß mein Versuch nichts gefruchtet habe, erwiderte er gekränkt mit dem Hinweis auf einen bezüglichen Journalausschnitt, der von einer andern in den Popular Concerts aufgetretenen Geigerin berichtete: ›Mit Ihrem Brief zugleich kam eine englische Zeitung, aus der ich eine Notiz beilege – aus der Sie wiederum ersehen, daß Ihrer Liebe Mühe umsonst! Es versteht sich, daß damit die Sache für mich abgetan ist ... Mit herzlichen Grüßen an Sie und Ihre weit bessere Hälfte Ihr ergebener J.B.‹...

Daß das Meininger Fest sich tatsächlich für Brahms zu einer Apotheose bei Lebzeiten gestaltete, darüber konnte, wer so glücklich war, daran teilzunehmen, nicht im Zweifel sein. Hier, wo sich Gelegenheit bot, seine Werke tagelang neben denen Bachs und Beethovens anzuhören, war es den Anwesenden deutlicher als jemals vorher zum Bewußtsein gekommen, daß der Dritte im Bunde jener beiden Großmächtigen seinen Platz neben ihnen behauptete. Man empfand den Vorzug, einen solchen Meister noch bei dessen Lebens- und Schaffenszeiten verehren und lieben zu können, und säumte nicht, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Brahms war der Hauptgegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden: wo er sich zeigte, umbrauste ihn ein Sturm begeisterter Zurufe und Beifallsbezeigungen. Die aus allen Gauen Deutschlands und aus der Fremde herbeigeströmte tausendköpfige Menge [411] wollte sich in solchen Äußerungen nicht erschöpfen. Wie tief der Eindruck dieser Vorgänge auf Brahms wirkte, war für jeden ersichtlich, der ihn näher kannte. Sein ganzes Wesen schien durchdrungen von Befriedigung und Glückseligkeit. Die Mienen des sonst so kühlen Mannes, der die rauhe Seite gern nach außen kehrte, erglänzten von Freude und sanfter Rührung. Er war weich geworden.

Nach dem Feste reisten wir nach Frankfurt zu Klara Schumann. Mein Schwiegervater wollte seine alte Freundin noch einmal sehen, ehe er nach Belgien zurückkehrte. Wir wurden herzlich willkommen geheißen. Die Begegnung der beiden hoch in den Siebzig stehenden, fast gleichalterigen Menschen war ergreifend anzusehen. Durch körperliches Leiden und die Spuren vorgerückten Alters hatten die Züge der edlen Frau etwas Verklärtes angenommen, während das Feuer ihrer schönen Augen und die ungebrochene Energie ihrer lebhaften Gebärden beim Sprechen für die wunderbare Erhaltung ihrer geistigen Kraft, die Frische und Tiefe ihrer Gefühle zeugten. Kufferath bewog sie, uns vorzuspielen, und sie schenkte uns mehrere Tage hintereinander eine der Musik geweihte Stunde vor Tische. Ihr Spiel, das sich so gut wie gar nicht verändert hatte, war noch immer ein Wunder von technischer Vollendung, geistsprühendem Leben, Größe der Auffassung und seelischem Ausdruck« ...

Brahms, der am 3. Oktober nach Frankfurt kam, hatte sich bei Klara Schumann schon von Meiningen aus angemeldet, ihr gesagt, daß er nur ganz kurze Zeit bleiben könne, da er Mitte des Monats schon wieder in Zürich sein und vorher noch einmal nach Wien zurück müsse, und er hatte sie gebeten, einige Freunde, vielleicht Stockhausen und Iwan Knorr, namentlich aber Speyers, die er nur im Festtrubel gesprochen habe, für den Abend seines Aufenthalts einzuladen. Er werde dann, wie er schrieb, um so vergnügter nach Wien fahren, als er Klaras Gesicht vergnügt gesehen habe. Bis dahin aber fahre er noch hübsch in die Wälder und schicke nur die herzlichsten Grüße voraus.

Frau Schumann erfüllte seine Wünsche, und als er aus den Wäldern, d.h. von Schloß Altenstein, wohin er vom Herzog eingeladen worden war, wiederkam und in der Myliusstraße vorsprach, wurde er von der Gesellschaft bereits erwartet. »Seine [412] mit köstlichem Humor gewürzten Reden«, fährt Speyer in der oben zitierten Denkschrift fort, »die liebenswürdige Heiterkeit seines Wesens, die wohlwollende Art, in der er sich gab und äußerte, die zarten Aufmerksamkeiten und die kindliche Verehrung, die er Frau Schumann gegenüber betonte, alles war dazu angetan, es in dem kleinen Kreise bald zu einer harmonischen Stimmung kommen zu lassen. Ich fragte ihn, ob er wohl erraten könne, was wir am Abend vorher erlebt hätten? – ›Nun?‹ – Ich erzählte, daß wir in der ›Jessonda‹ gewesen wären, die mein Schwiegervater bei dieser Gelegenheit zum ersten Male gehört hätte. ›Kufferath, Sie haben die Jessonda zum ersten Male gehört? Nun, wie war's, und was sagen Sie dazu?‹ ›Oh,‹ erwiderte der Gefragte in seiner gelassenen Weise, die nach Brahms' explosivem Ausbruch fast komisch wirkte, ›die Musik ist mir ja von meinen jungen Jahren her, als ich noch in Deutschland lebte, bekannt aus Klavierauszügen und allerlei Bearbeitungen – sogar als Streichquartett spielten wir sie – nur auf der Bühne habe ich die Oper nie gesehn.‹ – ›Nun, und?‹ stürmte Brahms forschend weiter, ›wie hat sie Ihnen gefallen?‹ Kufferath erwiderte, zwar erkenne er die Schönheiten des Werkes willig an, aber er dürfe doch nicht verschweigen, daß ihm jetzt vieles darin zopfig und veraltet vorgekommen sei. ›Nein, da stimme ich nicht mit Ihnen überein!‹ rief Brahms enttäuscht und bestürzt aus. ›Ich finde das Werk herrlich. Allerdings, ich sah es früh und lernte es früher näher kennen und lieben. Es geht mir damit wie mit andern Dingen auch: was mir einmal in der Jugend ans Herz wuchs, das blieb fest darin sitzen; es war mir hernach zeitlebens unmöglich, darüber anders zu denken und zu urteilen‹...

Bei Tische schenkte Brahms sich eifrig aus einer vor ihm stehenden Flasche ein und bemerkte schmunzelnd zu seiner Nachbarin: ›Der Wein ist ausgezeichnet. Wie gern würde ich Ihr Glas damit anfüllen, allein die Flasche hat mir der Herzog mit dem ausdrücklichen Befehl auf die Reise mitgegeben, daß ich sie ganz allein austrinken müsse.‹ Ich erzählte dann zur allgemeinen Belustigung einige Anekdoten. Nachdem die Tafel aufgehoben war, nahm mich Brahms beiseite und sprach: ›Ihre letzte lustige Geschichte hat Frau Schumann, wie ich merkte, bei ihrer Schwerhörigkeit [413] nicht verstanden. Setzen Sie sich doch in der Ecke da zu ihr und wiederholen Sie sie ihr noch einmal!‹ – Bald darauf äußerte Frau Schumann den Wunsch, es möge musiziert werden, und nun gab es eine jener Szenen, wie ich sie schon früher mit ihr und Brahms erlebte. Brahms, von Frau Schumann aufgefordert, weigerte sich zu spielen, er sei kein Klavierspieler mehr; viel schöner wäre es, wenn sie selbst sich hören lassen wollte. ›Nein‹, meinte sie, ›in meinem Alter und nach Tische ist das ganz unmöglich!‹ So ging es einige Zeit herüber und hinüber, bis Frau Schumann sich an meine Frau wandte: ›Nun, so soll Antonie uns etwas singen!‹

Brahms setzte sich aus Klavier. Die Noten wurden ihm vorgelegt, es war ein Heft seiner Volkslieder. Er blätterte um und schlug auf: ›In stiller Nacht‹, das Lied, in welchem die Begleitung der Singstimme um ein Achtel vorauseilt und dadurch eine für den Sänger verfängliche rhythmische Verschiebung bewirkt. ›Können Sie das aber auch im Takt singen?‹ fragte er, zu meiner Frau aufschauend. ›O ja‹, antwortete sie, ›wenn Sie es nur hübsch im Takt spielen können.‹ Er schüttelte sich vor Lachen. Während des Vortrages ließ sich deutlich jenes schon oft bemerkte starke und tiefe Brummen hören, das seine innere Erregung zu erkennen gab. Seine gewaltige Brust hob und senkte sich, während er in sich hinein ächzte und stöhnte. Die Volkslieder waren seine besondern Lieblinge. Als wir ihm am 7. Mai 1894 wie alljährlich zum Geburtstag gratulierten, beschränkte sich meine Frau, die gerade sehr beschäftigt war, auf ein Postskript, das sie meinem längeren Briefe anfügte, mit den Worten: ›Wann bekommen wir wieder neue Lieder? Die alten Hefte sind schon ganz abgerissen, und es gibt nichts Neues mehr vom Blatt zu singen. (Brahms hatte bekanntlich seit 1889 keine Lieder herausgegeben.) Die Antwort hierauf erfolgte am 11. Mai aus Wien und lautete: ›P. S. Auf Ihr freundliches Postskript melde ich, daß ich an Simrock 7 × 7 so schöne Lieder geschickt habe, wie er noch keine von mir hat! Sie sehen, es gibt nächstens, ›vom Blatt‹ zu singen – und, wie ich hoffe, auch zu loben. Brief für Brief. Postskript für Postskript. – Ihr Mann mag verzeihen, daß ich das Letzte zuerst schrieb und erst hernach [414] sagen werde, wie ich mich über die Nachrichten von Ihrer schönen Reise und Ihrem lieben Vater freute. Einstweilen herzlichst grüßend‹« usw.

Meine Frau sang nach der ›Stillen Nacht‹ noch einige Lieder. Der Abend ging seinem Ende entgegen. Da wendete sich Brahms an mich: »›Ich habe da etwas mitgebracht, was mir der Herr auf Schloß Altenstein geschenkt und ich Ihnen zeigen muß.‹ Und zu dem jungen Ferdinand Schumann hinüberrufend, sagte er: ›Geh' einmal hinauf auf mein Zimmer, öffne meinen Koffer, darin findest Du ein altes Dokument, das bringe mir!‹ Es war ein stark vergilbter, auf vier Seiten bedruckter Hochfoliobogen, dessen Titelblatt die Ankündigung enthielt:


›Große musikalische Akademie

zur

Feier des Napoleons-Festes

den 15. und 16. August 1811

zu

Erfurt.‹


Ein noch nie so vollkommen dagewesener Verein von Tonkünstlern bildete diese Akademie. Aus allen berühmten Orchestern von ganz Deutschland beinahe sammelten sich zu diesen Tagen die Mitglieder derselben, um durch die Kunst ein Fest zu verherrlichen, welches zur Feier des größten Helden unserer Zeit war. Folgende Meisterwerke der Tonkunst wurden von nachverzeichnetem Orchester aufgeführt.

Den 15. Aug. Abends bey imposanter Beleuchtung in der Barfüßer-Kirche: 1) Große Symfonie von Beethoven, No. 2. 2) Scene und Arie aus ›Titus‹ von Mozart, gesungen von Frau von Heygendorf aus Weimar. 3) Concertante für zwey Violinen von Spohr, gespielt vom Herrn Concertmeister Spohr aus Gotha und Herrn Matthäi aus Leipzig. 4) Ouverture der ›Zauberflöte‹ von Mozart. 5) Duett von Nasolini, gesungen von Frau von Heygendorf und Herrn Cammersänger Stromayer aus Weimar. 6) Clarinetten-Concert von Spohr, geblasen vom Herrn Musik-Direktor Hernstedt aus Sondershausen. 7) Einleitung auf der [415] Orgel, vom Herrn Concertmeister Fischer aus Erfurt. 8) Große Hymne von Mozart.

Den 16. Aug. Vormittags ›Die Schöpfung‹ von Joseph Haydn.

Erfurt, im Aug. 1811.


G.F. Bischoff, Entrepreneur d.A.


Die andern Seiten brachten dann noch die Namensverzeichnisse sämtlicher Mitwirkenden, mit ›Herrn Concertmeister Spohr aus Gotha‹ an der Spitze. Das Orchester enthielt 52 Geigen, 17 Bratschen, 17 Violoncelle, 12 Kontrabässe, 4 Klarinetten, 6 Flöten, 4 Trompeten, 3 Posaunen, 4 Oboen, 6 Fagotte, 4 Hörner, 1 Kontrabaßhorn und Pauken – ein Instrumentalkörper von 131 Mann. [Das Verhältnis der Stimmen verdient Beachtung!] Dazu kam ein Chor von 148 Sängern.

›Hier, nehmen Sie‹, sprach Brahms, ›ich weiß ja von den langjährigen intimen Beziehungen zwischen Spohr und Ihrem Vater.‹ (Wilhelm Speyer, 1790–1878.) ›Das wird Sie um so leichter instand setzen, über diese höchst merkwürdige Veranstaltung Weiteres und Interessantes herauszufinden, was mir dann zu erfahren sehr willkommen wäre.‹ Als ich ihm beim Aufbruch für das schöne Geschenk dankte, rief er: ›Nee, so war's nicht gemeint! Geschenkt habe ich es Ihnen nicht, nur geliehen. Studieren Sie nun erst mal fleißig an der Sache herum und schicken Sie mir das Ding mit Ihrem Bericht zurück. Dann wollen wir sehen.‹

Ich tat nach seinem Gefallen, schickte einen ziemlich ausführlichen Bericht, der eine Fälle interessanter Tatsachen zusammenfaßte, und fragte, ob ich mir nun das (beigelegte) Dokument für meine Sammlung verdient habe. Wenn ja, so möge er den Schenkungsakt mit seinem Namen beglaubigen. Im Dezember erhielt ich das Programm zurück, mit der von seiner Hand geschriebenen Randbemerkung: ›Herrn Edward Speyer zur freundlichen Erinnerung an Meiningen 1895 (auch ein Musik- und ein Napoleonfest!)4 Johannes Brahms.‹ –

[416] Der hier beschriebene Abend war der letzte, den die drei alten Freunde miteinander verbrachten. Klara Schumann starb am 20. Mai, Ferdinand Kufferath am 23. Juni 1896.«

Am 4. Oktober reiste Brahms von Frankfurt nach Wien. Der Abschied von Klara Schumann war heiter. Jeder von beiden hoffte auf ein Wiedersehen im nächsten Jahre. Auch ließ Brahms keine gerührte Stimmung aufkommen. Er hatte, wie 1880, eine Menge von kleinen Paketen gekauft und geschenkt bekommen, die eine gewisse, ihm besonders angenehme Sorte von Zigarettentabak enthielten. »Was willst Du denn mit dem vielen Tabak, Johannes?« fragte Frau Schumann. »Durchschmuggeln, Klara«, war die prompte Antwort.5

Schon am Tage nach seiner Ankunft in Wien besuchte er uns. Es war eine Kondolenzvisite; er wollte mir sein aufrichtiges Beileid aussprechen, daß ich nicht hatte nach Meiningen mitkommen können. Mit großer Wärme ließ er sich über das herrliche Fest und namentlich über den chorischen und orchestralen Teil der Matthäus-Passion vernehmen: »Schöner kann es am Karfreitag in der Thomaskirche auch nicht geklungen haben, als Bach die Passion aufführte.« Von seinen Werken schwieg er. Nun würde er sich auf den Prater freuen, aber er müsse sich jedesmal ärgern, wenn er die Fortschritte sähe, welche die »k.k. Verwüstungen« dort und im Augarten machten, um Bauplätze zu gewinnen. Sein Verdruß darüber bildete in den letzten Jahren seines Lebens ein stehendes Thema des Gesprächs, und wehe dem, der die Interessen der sich nach allen Seiten ausbreitenden Großstadt zu vertreten wagte! »So wird das Andenken und das Vermächtnis Kaiser Josefs mißhandelt und den Menschen ihr bißchen Vergnügen genommen – empörend!« Daß er bald wieder würde auf Reisen gehen müssen, war ihm sehr unbequem. Er wäre lieber in Wien geblieben, und wenn ihn »das verfluchte Briefschreiben« nicht abhielte, so wisse er nicht, was geschehe. »Ich fahre aber noch lieber wohin, als daß ich abschreibe.« Im Augenblick seines Ärgers dachte er nicht daran, wie sehr er sich im Juni auf das Züricher Fest gefreut hatte, als er an Hegar schrieb, ebendieses [417] Musikfest sei das einzige in diesem Jahr, an das er schon längst mit dem lebhaften Wunsche und der festen Absicht denke, es mitzumachen.

Am 14. Oktober, dem Tage vor der Reise, gab Wilhelm Singer, der Chef des »Neuen Wiener Tagblattes«, den Herren der kleinen Tischgesellschaft, die sich bei uns gewöhnlich um Brahms versammelte, in einer berühmten Garküche der Leopoldstadt ein orthodoxes Mittagessen, wie es Brahms zuzeiten liebte. Alles war bei gutem Appetit und noch besserer Laune, und Brahms, der sich Schwänke und Anekdoten, die ihm gefielen, mit Schlagworten in ein Westentaschenbüchel zu notieren pflegte, bekam viel mit dem Bleistift zu kritzeln. Besonders interessierten und amüsierten ihn die zum Teil erlebten Theatergeschichten, die der ebenfalls anwesende Franz Jauner aus seiner langjährigen Theaterpraxis ungemein temperamentvoll erzählte und mit sprechenden mimischen Gebärden begleitete. Daß Dingelstedt, der mitunter Personen und Sachen sehr von oben her zu behandeln gewohnt war und, wenn er eine seiner sorgfältig eingefädelten Intrigen ausführte, keine Schonung kannte, einmal von dem ihm an Schlagfertigkeit nichts nachgebenden Jauner glänzend abgeführt wurde, gereichte Brahms noch vierzehn Jahre nach dem Tode des mehr gefürchteten als geliebten Intendanten zur unverhohlenen Genugtuung. Er konnte es dem Herrn Baron nicht vergessen, daß dieser es ihm einst durch die verletzende Art seines »Auftrages« unmöglich gemacht hatte, eine Faustmusik für das Burgtheater zu schreiben.6 Jauner erzählte, während seines kurzen Regiments an der Wiener Hofoper sollte für einen verschuldeten berühmten Schauspieler ein Benefiz gegeben werden. In der deswegen beim Fürsten Hohenlohe abgehaltenen Konferenz suchte Dingelstedt die fatale Angelegenheit von sich auf Jauner abzuwälzen, indem er den vom Fürsten sofort gebilligten Vorschlag machte, Wolffs »Preziosa« in der Oper aufzuführen, und zwar, wohlgemerkt, »um durch den Reiz der Pikanterie die Anziehungskraft zu erhöhen,« nicht wie sonst mit seinen Burgschauspielern, sondern mit Jauners Opernsängern, die ja so vorzügliche Sprecher wären und den[418] Versen Pius Alexanders neue melodische Reize abgewinnen würden. Er, Dingelstedt, werde die Regie in eigene Hand nehmen, und habe für den Zigeunermarsch bereits ein glänzendes romantisches Bild in petto: Preziosa solle in malerischer Stellung auf einem Esel reiten usw. Mit Seelenruhe entgegnete Jauner: »Zu der Vorstellung, Herr Baron, brauchten Sie noch einen zweiten Esel, und den werden Sie, fürchte ich, in der Hofoper nicht finden.« – Darüber freute sich Brahms königlich und stimmte dann gleich ein Loblied auf Laube an, der denn doch seinem Charakter und seiner ins Wesen eindringenden dramaturgischen Kenntnisse nach ein ganz anderer Mann gewesen sei als der Freund bemalter Leinwände, der hinter den Kulissen noch besser Bescheid gewußt habe als vor ihnen. Jauner lud uns dann ein, den Abend in dem von Grund aus geschmackvoll renovierten Carltheater zuzubringen dessen Leitung er wieder übernommen hatte, und wir hörten von seiner Loge aus die von Suppé hinterlassene Operette »Das Modell« an, die, durch die Hände nachhelfender Bearbeiter gegangen, bei diesem Prozeß nicht sauberer geworden war. Das Werk gefiel uns so wenig, daß wir das Theater bald mit dem »Roten Igel« vertauschten. Dort wurde noch viel über den im Mai verstorbenen Suppé gesprochen, und Brahms verblüffte uns nicht allein durch die Wertschätzung dieses von Strauß und Offenbach in Schatten gestellten Operettenkomponisten, sondern durch die Kenntnis seriöser Werke, auf die sich sein Urteil stützte. »Seine unglaubliche Gewandtheit in weltlichen Dingen«, sagte Brahms, »verdankte er eigentlich seinen geistlichen Kompositionen. Er hatte etwas gelernt.«

Von Zürich kehrte Brahms sehr befriedigt nach Wien zurück. Nicht weil er dort ebenso oder womöglich noch mehr gefeiert worden war, wie in Meiningen, Frankfurt und Leipzig, sondern weil sich seine alten, aus Basel, Winterthur, Bern und andern Orten zur Eröffnung der von Fellner und Helmer erbauten Neuen Tonhalle herbeigekommenen Freunde mit ihm an der Fälle edler Musik erbauten, die Friedrich Hegar in das Programm des dreitägigen Festes zusammenströmen ließ. »Mein Triumphlied«, hatte er Hegar geschrieben, »bedankt sich sehr für die große Ehre, die ihm geschieht, daß mit ihm die Musik einzieht in Ihren Saal – [419] und andere schönere und schönste ihm folgt.« Das war wohl nicht nur hoffnungsvoll-prophetisch für die fernere Zukunft, sondern auch für die nächsten Tage vom 20. bis 22. Oktober gesagt. In der Tat war es die größte Auszeichnung, die Brahms widerfahren konnte, daß sein »Triumphlied« an erster Stelle auf dem Programm erschien, um sich mit Beethovens Neunter Symphonie in die Sonntagsfeier des 20. Oktober zu teilen. Am Vormittag war die Generalprobe, am Nachmittag die Aufführung. Brahms und Hegar dirigierten. Im zweiten Konzert, das mit Mozarts Es-dur-Symphonie begann und mit Wagners Vorspiel zu den »Meistersingern« endete, spielte Joachim Beethovens Violinkonzert und Bachs Chaconne, sangen Pauline Manifarges und Anton van Rooy, die schon im Soloquartett der »Neunten« mitgewirkt hatten, Lieder von Brahms, Schubert und Schumann. Der Dienstag brachte in einer Kammermusikmatinee u.a. Brahms' von Robert Freund mit dem Quartett Joachim gespieltes f-moll-Quintett, am Nachmittag und Abend Männergesangsmusik (Bruchs Frithjofszenen, Chöre von Hegar und Lothar Kempter), aber auch Lieder, darunter die von Johanna Nathan gesungene »Feldeinsamkeit«. Daß Widmann, trotz seines Gehörleidens, nach Zürich geeilt war, versteht sich von selbst. Beide, Brahms und er, wohnten bei ihrem gemeinschaftlichen Freunde Hegar. Wie Widmann schreibt, befand sich die Stadt in freudiger Aufregung, denn Zürich war, durch Hegars Verdienst, längst der musikalische Vorort der Schweiz geworden. »Brahms als Gast und Mittelpunkt des Festes feiern zu dürfen, war daher für alle gebildeten Kreise eine beglückende Empfindung. Er fühlte dies, konnte es u.a. auch daran erkennen, daß von der gemalten Decke der Tonhalle, wo Beethoven und die anderen größten Meister der Musik prangen, auch sein eigenes Bild auf ihn niederblickte, als er unter brausendem Jubel der Zuhörer das Podium bestieg, um sein großartiges Tonwerk zu dirigieren.«

Widmann berichtet noch weiter, Brahms habe den Sonntagabend im Hause eines reichen Züricher Kaufmanns zugebracht, der mit Joachim, Hegar u.a. das ganze musikalische Zürich zu sich eingeladen hatte. Brahms schlug sein Hauptquartier im Treppenhause der ersten Etage auf, wo die Tochter des Gastgebers mit [420] ihren Freundinnen eine kleine Schankwirtschaft improvisierte. Die Damen verabreichten ihren Gästen den beliebten »Sauser« (gärenden Traubenmost), und Brahms, der es sich im Kreise der mit ihm scherzenden und lachenden jungen Mädchen wohl sein ließ, war schwer zum Aufbruch zu bewegen. Als Widmann nach Bern zurückfuhr und sich mit Frau und Tochter von ihm verabschiedete, hielt Brahms eine alte Ausgabe von Höltys Gedichten in Händen. »Indem er sie weglegte, fiel mein Blick auf die aufgeschlagene Stelle: es war das Gedicht ›Auftrag‹, das mit den Worten beginnt:


›Ihr Freunde hänget, wenn ich gestorben bin,

Die kleine Harfe hinter dem Altare auf‹ –


Aber einen beziehungsvollen Eindruck empfing ich damals von diesen Versen nicht, wie es der Fall gewesen wäre, wenn nur irgendein Zeichen von Hinfälligkeit in der Haltung des Freundes mich hätte ahnen lassen, daß dies unser letzter Abschied sein sollte. Und doch war in der Herzlichkeit, mit der wir einander Lebewohl sagten, etwas von weicher Trauer oder Wehmut, für die doch kein Anlaß vorhanden zu sein schien.« –7

»Sie sehen, daß auch andere Leute auf den unvernünftigen Einfall gekommen sind, mich oben an die Zimmerdecke zu versetzen«, sagte Brahms zu mir, als er mir von der Züricher Saaldekoration, angesichts seiner auf meinem Bücherkasten thronenden Büste erzählte. Zu einem Gegenbesuche, den ich ihm bald darauf machte, nahm ich ein kostbares Manuskript mit, das mir ein in seiner Nähe auf der Wieden wohnender Antiquar zur Ansicht geschickt hatte: Charlotte Kestners Kochbuch. »Schade«, meinte er, während wir das mit Rezepten vollgeschriebene Oktavbändchen durchblätterten, »daß hier neben dem Namen der Eigentümerin nicht anstatt ›Wetzlar 1775‹ die frühere Jahreszahl (1771) steht, und daß unter diesem Gemüse die Anmerkung fehlt: ›So mußte ich Goethen immer die Bohnen einbrennen; denn so mochte er sie gern‹.« Diesmal wollte ich ihn überreden zu einem dramatischen Gedicht, einem reizenden Märchenspiel unseres Freundes Heyse, die Bühnenmusik zu schreiben, und diesmal war er es, der meine gegen Grabbe erhobenen Einwendungen auf den vorliegenden [421] Fall bezog.8 Zudem sei ein Musiker, der fürs Schauspiel komponiert, der schauderhaftesten Behandlung von den Theaterorchestern preisgegeben. Was man dort Außerordentliches tue für ein neues Werk, geschähe nur am ersten Abend. Die Wiederholung einer dramatisch-musikalischen Vorstellung, der er im Burgtheater beiwohnte, hatte ihn gründlich ernüchtert. Über die vielen Zuschriften jammernd, mit denen er täglich behelligt wurde, brachte er das Formular zu einemCurriculum vitae, das er zum bevorstehenden zweihundertjährigen Jubiläum der Berliner Singakademie ausfüllen sollte. »Zum Glück unmöglich. Ich müßte lauter Nullen und Striche in die Rubriken malen. Erlebnisse, die ich mitteilen könnte, habe ich nicht gehabt; höhere Schulen und musikalische Bildungsanstalten habe ich nicht besucht; Studienreisen habe ich nicht gemacht, Unterricht von großen Meistern habe ich nicht empfangen; öffentliche Ämter bekleide ich nicht – was soll ich da also hineinschreiben?« Ich meinte scherzend, einen Gefallen könnte er den wißbegierigen Leuten doch tun: er brauche ja nur die letzte Spalte mit dem Verzeichnis seiner Orden und sonstigen Auszeichnungen zu schmücken. »Nee, das geht erst gar nicht. Da käme ich in die scheußlichste Verlegenheit.« Er kenne, fügte er hinzu, seine Orden nur so ganz im allgemeinen und wisse nicht, wohin er die Diplome verkramt habe.

In Berlin mit d'Albert das in Leipzig so großartig gelungene Experiment zu wiederholen und seine beiden Klavierkonzerte an einem Abend zu dirigieren, hatte Brahms zuerst abgelehnt, weil er das übrige, von den Philharmonikern entworfene Programm nicht »vertreten« konnte, wohl auch nicht in Kollision mit Nikisch kommen wollte. Schwierigkeiten, die dem Plane d'Alberts entgegenstanden, wurden dadurch beseitigt, daß d'Albert mit den Philharmonikern unter Mannstädt ein außerordentliches Konzert veranstaltete. So konnte Brahms im Januar 1896 nachholen, was er im November und Dezember 1895 versäumte. Gern hätte er Menzel zum 80. Geburtstage (am 8. Dezember) mündlich beglückwünscht. Nun hielt Seine Exzellenz im eigenen Atelier eine Nachfeier ab, an der niemand teilnehmen durfte wie [422] Brahms. Wenige sind in das Allerheiligste seiner in der Margaretenstraße gelegenen, schon durch ihre Lage und Bauart schwer zugänglich gemachten künstlerischen Werkstätte so tief eingedrungen wie Brahms. Ihn genierten die vier steilen Treppen des Hinterhauses nicht, und die kleine Exzellenz kam selbst den schmalen Gang, der zum himmelnahen Atelier führte, dem draußen Anläutenden entgegen, um ihn sicher über die letzten Stufen in den von zwei Seiten erhellten Riesenraum emporzugeleiten. Eine noch nicht ganz verheilte Schramme, die sich von der Kugelstirn des Malers zu den Augen herabzog, erinnerte an den schweren Fall, den der Verehrer eines guten Tropfens bald nach seinem Geburtstage bei Frederik in den offenen Weinkeller hinunter getan hatte. Sein Gesicht war damals gefährdet, nun aber leuchtete das merkwürdige graue Augenpaar wieder klar und scharf unter der dicken Brille hervor. Den Freund erwartete ein solennes Austernfrühstück von abenteuerlichen Dimensionen mit Rheinwein (Jubiläumswein) und Champagner. Sie singen um 10 Uhr vormittags an zu trinken und zu schauen und vertieften sich so sehr in die letzten Gründe omnium visibilium et invisibilium, daß es schon dunkel geworden war, als Brahms nachsah, wie spät es sei, und zu seinem Schrecken an ein großes Diner dachte, das ihm zu Ehren in irgend einem vornehmen Restaurant auf 5 Uhr festgesetzt war.9

Das graue Männlein, in dem ein zaubergewaltiger Nekromant steckte, hatte ihn festgebannt gehalten. Ein Glas ums andere [423] war geleert worden als Libation für die Geister, die aus den Büchern und Mappen ringsum hervorkamen und Fleisch und Blut annahmen, wenn sie der Beschwörer, zum grenzenlosen Erstaunen seines Gastes, alle beim Namen anrief. Er kannte jeden, den er einmal mit der Phantasie bezwungen und mit den Augen eingefangen hatte, sagte ihm, wer er wäre und schenkte ihm das ewige Leben. Ein wahrer »Seher«, der aus der Gegenwart die Vergangenheit und Zukunft las, durchdachte er, was er sah, und durchschaute er, was er dachte. Die halbe altpreußische Armee, mit Friedrich dem Großen an der Spitze, defilierte im Parademarsch vorüber, lebendiger noch und echter als die kostümierte Ehrenkompagnie, die Kaiser Wilhelm II. dem Hof- und Kriegsmaler des Hauses Hohenzollern in Sanssouci bei dem Feste aus der Friedericianischen Zeit vorführte, wobei Menzel ernsthaft scherzend den Monarchen anredete: »Ich habe jawohl die Ehre, den Generaladjutanten Lentulus vor mir zu sehn?« Ein artigeres Kompliment konnte der Geschichtsbildner dem Kaiser, der der Erfinder, Veranstalter und Darsteller der sinnigen Huldigung in einer Person war, kaum machen; schmeichelhafter konnte das Seiner Majestät dankende gesprochene Epigramm nicht sein. Und eine größere Freude konnte auch der Freund dem Freunde, der Patriot dem Kompatrioten, der Maler von Preußens und Deutschlands Macht und Herrlichkeit dem Komponisten des Triumphliedes, der F-dur-Symphonie, der Fest- und Gedenksprüche nicht bereiten als mit dieser stillen und bewegten Feier in seinem Atelier. Angesichts des Kolossalbildes »Friedrich der Große vor der Schlacht bei Leuthen« haben die gleichgesinnten Brüder die Gläser geleert auf die Zukunft Deutschlands, in der sie mit Carlyle, dem Biographen Friedrichs II., »die Zukunft der Welt« erblickten.

Am 10. Januar 1896 fand das Konzert d'Alberts unter großem Zulauf statt, ohne das Publikum zu ähnlichen Ausbrüchen der Begeisterung hinzureißen wie in Leipzig. Ein Teil der Kritik [424] stand dem »Brahms-Konzert« mit feindseliger Parteilichkeit, den aufgeführten Werken völlig verständnislos gegenüber. d'Albert, dessen dritte Frau als solche zum erstenmal vor die Öffentlichkeit trat und die Leonoren-Arie aus »Fidelio« sang, schien erregt und unruhig, und Brahms, der nach Neujahr überhaupt nicht mehr gern nach Berlin gegangen war, hatte bereits am Abend vorher, als Joachim sein G-dur-Sextett in der Singakademie spielte, gemerkt, daß ihm kein glücklicher Stern leuchten werde, so daß er mit geringer Lust dirigierte. Die geselligen Zusammenkünfte im Askanischen Hofe oder bei Frederik, in Adolf Menzels Stammkneipe, wo der Maler um Mitternacht aufzutauchen pflegte, das Wiedersehen mit nahen und fernen Freunden, die, wie Gericke und Frau zum Konzert aus Dresden, auch aus Leipzig und Hamburg herüberkamen, und nicht zuletzt die angenehmen Stunden, die er im gastlichen Hause seines Freundes und Verlegers zubrachte, entschädigten ihn für Kränkungen, vor denen kein Orden pour le mérite, keine Ehrenbürgerschaft, kein »Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft«10 schützen konnte Nikisch, der in Berlin anwesend war, lud Brahms ein, die e-moll-Symphonie, die am 16 Januar unter seiner Direktion in Leipzig aufgeführt wurde, anzuhören, und Brahms wohnte dem dreizehnten Gewandhauskonzerte in der Direktionsloge bei. Ihm und dem ausgezeichneten Dirigenten wurden glänzende Ovationen bereitet.

Der verhältnismäßig lange letzte Berliner Aufenthalt des Meisters konnte keinem erwünschter sein als dem Photographen C. Brasch in der Leipzigerstraße. Schon früher, bei Lebzeiten Bülows, waren einige vortreffliche Visit- und Kabinettbilder von Brahms aus seinem Atelier hervorgegangen, wie die Tripelaufnahme (en face, nach rechts und links im Dreiviertelprofil) und das Doppelbild mit Bülow, auf welches dieser »Legislative« und »Exekutive« schrieb. Jetzt aber gelangen dem »fleißigen und nie mit sich zufriedenen Manne«, der den Künstler im Professionisten aufgehen ließ, bei besonders günstigem Lichte zwei fabelhaft scharfe Brustbilder in Lebensgröße. Sie dürfen Anspruch auf dokumentarische [425] Treue erheben, ohne allzu empfindlich daran zu erinnern, daß sie keine Porträts, sondern nur Augenblicksstudien zu solchen sind.11 Brahms zeigte sie mir, als ihm Brasch zwei Probeabdrücke schickte, und da sie mir gefielen, stellte er sie mir zur Wahl, mit dem Bemerken, mein Sohn Johannes Paul, sein Patchen, müsse doch auch ein Bild von ihm haben. Gern hätte ich sie beide gehabt, und entschied mich endlich für das mit erhobenen Augen nach links gewendete, dessen lebhafter energischer Blick mich mehr ansprach als der friedliche und gleichmütige Ausdruck des andern. Auf die wie von Denner herausgearbeiteten zahllosen seinen Runzeln und Fältchen des Gesichts anspielend, setzte er mit seinem Namen eine Notenzeile auf den Passepartout des Bildes und ein dickes Ausrufungszeichen dahinter, wobei er mich zugleich prüfen wollte, ob ich den »Witz« verstände. Es war der Anfang seines Liedes: »O liebliche Wangen.«

Die Wiener Musiksaison 1895/96 war reich an Abwechselung und mit Brahms gesegnet. Gesangskünstler, welche, wenn sie auch nicht »Brahms-Spezialisten« waren – eine Gattung, die Brahms selbst am wenigsten leiden mochte – doch mit Geschmack und Verständnis, daher auch mit begründeter Vorliebe Lieder des Meisters sangen, traten in kurzen Zwischenräumen nacheinander auf, als ob es von ihnen auf einen Wettstreit abgesehen gewesen wäre, der niemals hätte entschieden werden können, weil jeder von ihnen, dank seiner vorzüglichen Qualitäten, der Sieger war, solange er auf dem Podium stand. Raimund von zur Mühlen, Anton Sistermans und Johannes Messchaert, der sich in Julius Röntgen das Ideal eines Begleiters mitgebracht hatte, warben nicht vergebens um die Gunst ihres sich von Abend zu Abend vergrößernden Zuhörerkreises. Die »Niederländer« – Röntgen, der hochbegabte Sohn des Leipziger Konzertmeisters, lebte seit 1877 in Amsterdam, und ebendort der Meistersänger Messchaert aus Hoorn, der, gleich seinem obengenannten Rivalen, ein Schüler Stockhausens war, – standen bei Brahms in Gunst [426] und Gnade, seit er auf seinem letzten Abstecher nach Holland in der Hauptstadt mit ihnen musiziert hatte,12 und er führte sie den Wiener Freunden zu. – Edvard Grieg, der, gefolgt von Ellen Gulbranson und Dagmar Walle-Hansen, ein großes Kompositionskonzert gab, frischte seine ältere Bekanntschaft mit Brahms wieder auf, und beide begegneten einander sehr herzlich in größerer und kleinerer Gesellschaft.

Geradezu zärtlich besorgt zeigte sich Brahms um Dvořák. Amerikamüde war der geniale Böhme 1895 in die Heimat zurückgekehrt, und Brahms legte ihm den Gedanken nahe, von Prag nach Wien überzusiedeln, wobei er ihm die materiellen Mittel, die etwa dazu nötig wären, abermals zur Disposition stellte.13 Dvořák lehnte, mit Rücksicht auf seine bereits herangewachsenen, nur tschechisch sprechenden Kinder, das Anerbieten dankend ab. Hans Richter brachte in den Philharmonischen Konzerten Dvořáks Othello-Ouvertüre und e-moll-Symphonie »Aus der neuen Welt« als Novitäten heraus. Brahms wollte seinem alten Protégé den zweiten Ehrentag (16. Februar) noch verschönern und meldete ihn am Tage vorher mit folgenden launigen Zeilen bei Viktor v. Miller als Tischgast an: »Falls Dworschack (Dvořák) zum morgigen Konzert kommen sollte und frei wäre, hätten Sie was dagegen, wenn ich ihm das Vergnügen machte, ihn zu Ihnen mitzubringen? Ich werde ihm von meinem Tellerchen und aus meinem Becherchen geben, und Reden hält er (soviel ich weiß) nicht!«

Dvořáks Othello-Ouvertüre war am 1. Dezember 1895 zur Aufführung gelangt, an einem Tage mit Brahms' c-moll-Symphonie, die sich endlich in der Gunst des Wiener Publikums festzusetzen begann. Zwischen den Orchesterwerken trat eine junge Engländerin, die schon früher in Wien debütiert hatte, mit Schumanns Klavierkonzert hervor. Miß Fanny Davies galt in London für eine perfekte Schumann- und Brahms-Spielerin, führte dort im April 1895 im »German Athenaeum« mit Borwick und Joachim, einen Monat später in St. James-Hall mit Mühlfeld Brahmssche Kammermusik auf und verband sich bei ihrem neuen Wiener Aufenthalt mit Julius Klengel und Arnold Rosé zu einem Konzert, [427] in welchem Brahms' c-moll-Trio an oberster Stelle stand; auch spielte sie bei Rosé das c-moll-Quartett op. 60. Als Schülerin Klara Schumanns bei Fellingers bestens empfohlen, fand sie dort Brahms öfters zum à quatre mains bereit Ihr erster Lehrer Karl Reinecke aber rechtfertigte in Wien den Weltruf, den der Mozart-Interpret par excellence genoß, als er in dem anläßlich der Enthüllung des Tilgnerschen Mozartdenkmals veranstalteten Festkonzert und an einem Mozart-Abend bei Rosé mitwirkte. Außerdem spielte er bei Hellmesberger sein, A-dur-Quintett und erfreute im Quartett Rosé noch einmal das dankbare Auditorium mit einem neuen Trio eigener Komposition sowie mehreren delikaten Klaviervorträgen. – Unter der klavierspielenden Jugend machten sich Ilona Eibenschütz, Klotilde Kleeberg aus Paris, Florence May aus London, die spätere Brahms-Biographin, Emma v. Fischer, Ida Reich und Richard Epstein, der Sohn Julius Epsteins, mit Brahmsschen Kompositionen bemerkbar.

Daß sich Brahms öfters unter den Zuhörern bei Bösendorfer befand, wußten weder die Künstler noch das Publikum. Wie in den Latomien von Syrakus lauschte dort ein Ohr des Dionys, von dessen Existenz außer wenigen Eingeweihten niemand eine Ahnung hatte. An das Dach des Konzertsaales stieß ein leerer Bodenraum, der einige Zeit als Archiv benutzt worden war. Dort mußte der erste Saaldiener allabendlich einen Sessel für den unsichtbaren, nicht allzu häufigen Gast bereit halten. Sobald die Leute im Saal waren und die Musik begann, schlich Brahms über die eiserne Wendeltreppe, die von der Garderobe hinaufführte, nach oben und blieb dort, solange es ihm behagte, um dann ebenso geräuschlos wieder zu verschwinden. Reinecke stattete Brahms seinen Gegenbesuch, weniger heimlich, ab, kam auch mehrere Male bei Brülls und anderweitig mit ihm zusammen, ohne daß Brahms ihn etwas von seinem niemals verwundenen Groll empfinden ließ, den er gegen den vermeintlichen Verkleinerer und Unterdrücker seines jungen Ruhmes bis ans Ende mit sich herumtrug.14 In den »Gedenkblättern an berühmte Musiker« weiß Reinecke es zu rühmen, daß »die früher an Brahms bemerkte kaustische Art im Umgange mit [428] andern« sich ganz verloren hatte, und er im Verkehr liebenswürdiger geworden war.

Auf das Kommen d'Alberts hatte uns Brahms schon brieflich vorbereitet und begleitete das junge Ehepaar bei dem ersten Besuche, den es uns abstattete. Als wir dann bei Freunden zusammen speisten, lud er ohne weitere Umstände sich und d'Alberts auf einen der nächsten Tage zu uns ein, weil er wußte, daß er beiden Teilen damit ein Vergnügen bereitete. Nach dem Konzert des Pianisten, in welchem dieser keine Note von Brahms spielte, war ein Nachtmahl in der »Goldenen Kugel« verabredet. Mit Brahms nahmen d'Alberts, Brülls, Schwarz', Heubergers, Albert Gutmann und Frau, Karl Prohaska und wir daran teil, und Brahms hatte seinen Spaß mit den Frauen, indem er sie miteinander zu verwechseln vorgab, so daß keine wußte, woran sie mit ihm war, und es lauter heitere Mißverständnisse gab. d'Albert brachte dasA-dur-Quartett op. 26 bei den »Böhmen« zum Vortrag; bei Rosé und Hellmesberger war Brahms mit dem (G-dur-Sextett, hier noch mit dem g-moll-Quartett (Grünfeld) und dort mit dem c-moll-Quartett op. 51 vertreten. Das Fitzner-Quartett hatte dasB-dur-Quartett op 67, ein von Alfred Finger und Marie Baumayer gegebener Kammermusikabend das Horntrio (mit Louis Savart) und die Bratschengesänge (mit Lula Gmeiner), die Sonatenabende von Herzfeld und Dohnányi die Violinsonate op. 78 auf dem Programm, in den drei Kammermusikabenden des Soldat-Röger-Damenquartetts erschienen als Gäste Leonhard Borwick, Robert Hausmann und Richard Mühlfeld, um sich am B-dur-Sextett, der für Violine bearbeiteten Klarinett-Sonate in Es und dem Klarinett-Quintett von Brahms zu beteiligen.

An Veranlassungen zu musikalischen und geselligen Freuden, welche Brahms und dessen Freunde näher angingen, fehlte es also nicht, und es wurde kaum eine der vielen Gelegenheiten verabsäumt, sondern ebenso energisch »gedraht« wie musiziert. Die Devise König Jéromes »Morgen wieder lustig« kam neuerdings zu Ehren, und der Himmel hing voller Geigen.

Mit dem Brahmsschen Violinkonzert, dem Hugo Heermann im Gesellschaftskonzert vom 2. Februar 1896 neue, von ihm entdeckte Schönheiten abgewann, erzielte der damals dreizehnjährige [429] Bronislaw Hubermann einen phänomenalen Erfolg. Er begann mit ihm am 29. Januar das erste seiner vier Konzerte und wiederholte es am 6. März im dritten. Am ersten Abend saß Brahms mit Fuchs, Richter und Koch in der Direktionsloge, darauf gefaßt, eine mangelhafte, schülermäßige Wiedergabe von dem »Knirps« zu hören. Aber schon bei dem ersten Geigenstrich horchte er erstaunt auf, beim Andante wischte er sich die Augen, und nach dem Finale ging er hinunter ins Künstlerzimmer, umarmte den Kleinen und streichelte ihm die Wangen. Hubermann bedauerte, daß das Publikum in die schöne Kantilene nach der Kadenz des ersten Satzes hineingeklatscht hatte, worauf Brahms sagte: »Du hättest die Kadenz nicht so schön spielen sollen.« Er erfüllte dann den Wunsch des jungen Geigers und brachte ihm sein Bild ins Hotel mit der Zueignung: »Zur freundlichen Erinnerung an einen höchst vergnügten und dankbaren Zuhörer.«

Frau Fortuna schien ihr ganzes Füllhorn über ihren spät erkorenen Liebling ausschütten zu wollen: im April machte Brahms, zum zweitenmal in seinem Leben, eine Erbschaft, auf die er noch weniger gefaßt war als auf die erste vor nun fünfundzwanzig Jahren – abgelehnte.15 Diesmal hatte er keinen Grund, auf das ihm zugedachte Kapital zu verzichten, da er wußte, daß niemand dabei zu Schaden kam. Im April 1896 schrieb ihm Joachim, bei seiner Rückkehr von England habe er einen Auftrag an ihn auszurichten:

»Ein Herr Adolph Behrens ist gestorben und hat aus Dankbarkeit und Verehrung Dir 1000 £ (12000 Gulden) in seinem Testament vermacht. Wenn Du wüßtest, was für ein edler, seiner Mensch der Verstorbene, der seit fast zwanzig Jahren auf sein Krankenzimmer beschränkt war, gewesen ist, Dir wurde dieser Beweis von treuer Anhänglichkeit an Dich für die Erquickung, die ihm Dein Genius geboten, wohltun.« Joachim fügte zur näheren Charakteristik des edlen Wohltäters hinzu, daß er Herrn Behrens vor dreißig Jahren in Pau kennen gelernt und, wenn seine Zeit es erlaubte, jedesmal während seines Londoner Aufenthalts besucht [430] habe, da er den nur den Künsten und Wissenschaften lebenden Altersgenossen immer hochschätzte. Er, Joachim, und ebenso Bargiel, der ehemalige Musiklehrer des reichen Musikfreundes, seien mit demselben Legate bedacht worden.

Brahms erwiderte: »Schöneres, Wohltuenderes kann man doch nicht erleben, als Du mir jetzt mitteilst.

Daß ein Mann, den ich gar nicht kenne, der mich, soviel ich weiß, auch niemals brieflich angeredet hat, in solcher Weise meiner gedenkt, das rührt mich aufs tiefste und innigste. Ich habe das unschätzbare Glück gehabt, Ähnliches bereits erleben und empfinden zu dürfen – wie verschwinden dagegen alle äußeren Ehren!

Da ich das Geld nicht ›anzulegen‹ brauche, so genieße ich es auf die angenehmste Weise, indem ich mich auf die Verteilung freue ...«

Es scheint Brahms gar nicht eingefallen zu sein, daß durch diese vom blauen Himmel heruntergefallene Erbschaft ihm genau der Verlust ersetzt wurde, den er kurz vorher erlitten, als ihn Simrock durch seine Unvorsichtigkeit in »Bankerott« gestürzt hatte. Er dachte nur daran, wie er das seinen unnützen Wohlstand vermehrende Geld auf gute Art möglichst bald wieder los werden könnte. Man mußte sich damals in acht vor ihm nehmen und die Taschen zuhalten, denn man war nicht sicher, einen Tausender darin zu finden, den er hineinpraktiziert hatte. Er fragte mich sehr eindringlich, ob ich niemand wüßte, der etwas brauchte. Mir fiel der von mir hochverehrte, in dürftigen Verhältnissen lebende Dichter Wilhelm Raabe ein. Brahms kannte ihn kaum dem Namen nach, und ich lieh ihm sofort mehrere seiner kürzeren Geschichten und Novellen, damit er sich von dem Wesen des ihm von mir Empfohlenen einen Begriff mache. Sein schönstes Buch, den von mildem Humor durchtränkten, tief ergreifenden »Hungerpastor« hob ich mir bis zu seinem Geburtstag auf und sagte ihm, daß ich ihm den Roman schenken wollte.

Am 7. Mai kam ich mit Wilhelm Raabe als erster Gratulant, in die Karlsgasse, und Brahms, der sehr aufgeräumt war, meinte, es sei gescheit, daß ich schon so früh da wäre. Jetzt müsse ich aber auch, wenn ich nichts Besseres vorhätte, bis zum Mittag [431] aushalten und ihm bei angenehmen Gästen die Honneurs machen oder lästige vertreiben helfen. Wir verabredeten, daß er, sobald er von einem Besuch erlöst zu sein wünschte, mich fragen wurde, ob ich ihm das mitgebracht hätte, was wir durchsehen wollten. Ich sollte dann aufstehen und die Taschen meines Paletots durchsuchen, der auf einem Stuhl im Zimmer lag. Das Manöver wurde nur einmal, und zwar gleich anfangs, mit Erfolg zwei aufdringlichen Damen gegenüber probiert, die durchaus Unterschriften unter mitgebrachte Photographien haben wollten. Kaum waren wir wieder allein, ging Brahms ins Bibliothekzimmer, nahm ein Manuskripthest aus dem Stehpult, an welchem er manchmal Noten schrieb, und brachte es mir: »Wir wollen doch nicht gelogen haben. Das habe ich mir heute zum Geburtstag geschenkt. Aber nur mir. Wenn Sie den Text lesen, werden Sie begreifen, warum.«

Ich las: »Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh, wie dies stirbt, so stirbt er auch.« – »Lesen Sie nur weiter!« – Ich las alles folgende laut vor, und meine Stimme zitterte vor Erregung. – »Das kann man doch nicht drucken lassen?« – Ich begriff nicht recht, warum nicht, da es längst gedruckt war, und erwiderte, daß diese vier Lieder durch den heiligen Ursprung ihres Textes hinlänglich gegen jeden unverständigen Vorwurf gefeit seien. Wären sie zu gottlos oder zu pessimistisch, so falle der Tadel auf den Prediger Salomo und Jesus Sirach zurück; der zweite Autor sei allerdings apokryph, von Luther aber als nützlich zu lesen empfohlen werden. Und eigentlich käme ja nur, seines häretischen Inhalts wegen, der Text des ersten in Frage, und gerade der stehe in allen Bibeln. Brahms war starr über meine theologischen Kenntnisse, die ich in der Eile aus allen Winkeln ehemaliger Schulweisheit zusammengefegt hatte. Den landsmannschaftlichen Norddeutschen und Mitprotestanten in mir vergessend, warf er sich in die Brust, wie er zu tun pflegte, wenn er etwas Apartes für sich zu haben meinte. Nicht einmal die Kenntnis des Korintherbriefes traute er mir zu. Ich hätte ihm den Gegenbeweis aus meinen ersten Gedichten liefern können, ließ ihm aber sein Vergnügen. Offenbar wollte er nur, daß ihm widersprochen werde, denn er hatte im stillen schon damals Lust, die »Vier ernsten Gesänge« herauszugeben.

[432] Wir singen eben an, die Lieder am Klavier durchzunehmen, da kamen Ilona Eibenschütz und Miß Lucie Campbell, die Violoncellistin des Soldat-Rögerschen Damenquartetts. Er hatte sein Manuskript schnell wieder in das Stehpult zurückgetragen, und ich mußte mich durchaus zwischen die beiden hübschen jungen Damen aufs Sofa setzen und mit ihnen Schokoladen-Pralinés essen, wobei Brahms den schalkhaft ermunternden, über den geknebelten Ehemann spottenden Wirt machte. Nachdem die Damen fort waren, erschienen noch viele andere Gratulanten, unter ihnen Hanslick und Dr. Fellinger. Es entspann sich ein medizinisches Gespräch, und Brahms meinte nachdenklich, ganz gegen seine sonstige Unbekümmertheit, man sollte sich doch einmal im Jahre einer ärztlichen Untersuchung aussetzen. »Ich bin zwar nie in meinem Leben krank gewesen« (seine Influenzen schienen bereits vergessen), »aber, wenn man alt wird, kann man nie wissen, was los ist.« Er sagte das ziemlich unsicher, als ob er seiner Gesundheit, mit der er immer prahlte, doch nicht recht traute. Den Mittag des 7. Mai verbrachte er bei Frau Anna Franz mit Fellingers, Hanslick, Mandyczewski und Marie Soldat- Röger, den Abend im Prater.

Schon am Tage nachher schrieb Brahms an Simrock, er müsse ihm doch zu seinem Geburtstage eine kleine Freude machen, wie er sich selbst zu diesem Tag eine gemacht, indem er sich ein paar Liederchen geschrieben habe. Er denke diese zu veröffentlichen und Max Klinger zuzueignen. Allein daraus werde Simrock ersehen, daß sie nicht gerade ein Spaß seien, im Gegenteil wären sie »verflucht ernsthaft und dabei so gottlos, daß die Polizei sie verbieten könnte«.

»Eben war der Schneider da«, heißt es am Schlusse des vom 8. Mai datierten Briefes. »Du magst Dich wundern, daß ein Mann in meinem Alter sich noch einen neuen Rock machen läßt! Aber bezahlen konnte ich ihn nicht und bitte Dich, mir doch gelegentlich eine Mille zukommen zu lassen.«

Aus diesen und ähnlichen Äußerungen wäre zu schließen, daß Brahms ahnte, sein 63. Geburtstag werde sein letzter gewesen sein. Konnte er doch gar nicht oft genug wiederholen, daß er die von den letzten Dingen handelnden, eine Brücke vom Tod [433] ins Jenseits suchenden Gesänge sich selbst einbeschert habe! Was er mir am Tage, an welchem er das Datum »Wien, Mai 96« unter das Manuskript gesetzt hatte, gesprächsweise mitteilte, gewann durch die Wiederholung hinterdrein das Gewicht einer vorbedachten feierlichen Erklärung, gewiß nicht nach seinem Sinn, wohl aber im Geiste derer, die es später von ihm zu hören bekamen. Eine merkwürdige Unsicherheit und schwankende Haltlosigkeit befiel ihn, und er wollte von andern hören, was er selbst wußte, sich aber nicht zu gestehen wagte. Trotz den traurigen Nachrichten, die aus Frankfurt kamen, spielte er noch mit dem Gedanken einer Italienfahrt und Meraner Reise, ohne ernstlich daran zu glauben. Es war ihm eine Art Erleichterung und Beruhigung, als die mehr pro forma gewohnheitsmäßig an Widmann und Simrock gerichteten Anfragen ausweichend oder ablehnend beantwortet wurden. Denn er fühlte sich täglich in Versuchung, nach Frankfurt zu fahren, wäre gern gekommen, »die lieben Augen noch offen zu sehen, mit denen für mich sich – wieviel dann schließt!«

Am 26. März hatte Klara Schumann den ersten Schlaganfall erlitten, und Brahms erfuhr es fünf Tage später von Dr. Fellinger. Als ihm Joachim um dieselbe Zeit schrieb, es seien zwar bessere Nachrichten über Frau Schumann aus Frankfurt gekommen, ihm schwindele aber bei dem Gedanken, sie zu verlieren, und doch habe man sich damit vertraut zu machen, erwiderte ihm Brahms am 10. April: »Ich kann nicht traurig nennen, wovon Dein Brief spricht. Ich habe oft gedacht, Frau Schumann könne ihre Kinder alle und mich dazu überleben – gewünscht aber habe ich es ihr nicht. Erschrecken kann uns der Gedanke, sie zu verlieren, nicht mehr, nicht einmal mich Einsamen, dem gar zu wenig auf der Welt lebt. Und wenn sie von uns gegangen ist, wird nicht unser Gesicht vor Freude leuchten, wenn wir ihrer gedenken? Der herrlichen Frau, deren wir uns ein langes Leben hindurch haben erfreuen dürfen – sie immer mehr zu lieben und zu bewundern. – So nur trauern wir um sie.«16

[434] Desto tiefer wurde er dann von dem Geburtstagsbriefe der Freundin erschüttert, der post festum bei ihm einlief. Ferdinand Schumann hatte, wie er aufzeichnete, am 7. Mai die Großmutter, die zu Bette lag, an die Bedeutung des Tages erinnern müssen. Es schmerzte sie, zum erstenmal in ihrem Leben den Geburtstag ihres Johannes vergessen zu haben, und sie verlangte nach Feder und Papier. »Sie schrieb einige Zeilen, aber es war lauter verworrenes Zeug; die Buchstaben liefen im Zickzack.« Marie Schumann wollte den Brief nicht abschicken, aber Ferdinand bestimmte sie dazu, und als Antwort kamen umgehend die Zeilen: »›Das Letzte das Beste‹ ist mir nie so schön gepredigt worden als heute, da das liebste, da Dein Gruß zum siebenten kommt! Habe tausend Dank, und möge Dir bald so herzlich Erfreuendes kommen – vor allem natürlich das köstliche Gefühl der wiederkehrenden Gesundheit ...«17 Sein frommer Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Am 10. Mai wurde Klara Schumann von einem neuen schweren Schlaganfall niedergeworfen, und elf Tage später hauchte sie ihre Seele aus.

Brahms empfing die Nachricht in Ischl, wohin er am 14. übersiedelt war, und zwar so spät, daß er kaum ein paar Minuten Zeit fand, sich auf die lange Reise vorzubereiten. Das Telegramm mit der Trauerbotschaft war erst am 22. nachmittags in seinen Händen, Frau Truxa hatte es uneröffnet in ein Briefkuvert getan und per Post weiterbefördert. Nun rechnete er sich aus, daß, wenn er den über Wien nach Paris gehenden Expreßzug erreichte, er noch zum Begräbnis zurecht kommen könne. Er fährt also sofort ab, nickt nach dem ersten Wagenwechsel hinter Attnang ein, und da ihn der Kondukteur nicht, wie er beauftragt war, in Wels weckte, so bleibt er in Linz liegen. Dort muß er im Bahnhof bis zum Morgen auf den gewöhnlichen Zug warten, der über Passau nach Frankfurt geht, verbringt den ganzen nächsten Tag unterwegs, liest kurz vor Frankfurt in einer ihm ins Coupé geworfenen Fremdenzeitung, daß man seinetwegen das Begräbnis bis zum Sonntag verschoben habe, daß dieses aber nicht, wie er meinte, in Frankfurt, sondern in Bonn stattfinde, besteigt infolgedessen gleich wieder den Kölner Nachtzug und kommt endlich nach[435] mehr als vierzigstündiger Reise am Sonntag in Bonn an. Zu spät erschien er verstört, außer Atem und heftig weinend vor der Tür derselben altersgrauen Kapelle, in der Klara, wie Litzmann schreibt, »am Abend des 31. Juli 1856 während der Bestattung Robert Schumanns so heiß im Gebet gerungen um die Kraft, weiter zu leben ohne ihn«, und wo sie nun aufgebahrt im Sarge gelegen hatte. Die Leichenfeier war eben beendigt, der Sarg wurde heraus getragen, und Brahms konnte sich nur noch dem Trauerzuge anschließen und der geliebten Freundin drei Hände voll Erde zum Abschied ins Grab werfen.18 Dann entwich er den Leidtragenden, unter denen sich außer den nächsten Angehörigen Stockhausen, Wüllner und Bernhard Scholz befanden – Joachim und Herzogenberg hatten dem Trauerakt im Frankfurter Wohnhause beigewohnt – und ließ sich von Rudolf v.d. Leyen zu dessen Stiefschwester Frau Weyermann nach Honnef über den Rhein setzen. Dort im Haager Hof, dem gastfreien Musikerheim, wurde eine intime musikalische Gedenkfeier für Klara Schumann improvisiert, ein rheinisches Pfingsten der Musik von besonderer Art, über welchem der Geist der Verewigten schwebte. Es waren der Feiertage vier, ein großes, fast ununterbrochenes Musizieren, an dem sich Richard Barth, v.d. Leyen, Alwin v. Beckerath und Gustav Ophüls beteiligten, unter Mitwirkung der Hofmusiker Bram-Eldering, Piening und Wolff. Schumann und Brahms bildeten die Säulen des Programms, Händel, Beethoven und Schubert hatten das Fundament gelegt. Bei einer so vielseitigen Künstlerin, wie Klara Schumann gewesen war, brauchte man nach Beziehungen zu älteren und neueren Meistern der Tonkunst nicht lange zu suchen. Brahms war, am ersten Tage mit seinem a-moll-Quartett vertreten, griff erst am zweiten eigenhändig ein und spielte die Klavierpartien in seinemf-moll-Quintett und c-moll-Trio. Am Dienstag wurde Schumanns Es-dur-Quintett von Rudolf v.d. Leyen, Barth, Wolff, Eldering und Piening zu Gehör gebracht, nachdem Brahms seine G-dur-Violinsonate, welche er mit Barth herrlich begonnen, plötzlich in der Mitte hatte abbrechen müssen. Im Adagio übermannte ihn die Erinnerung an sein Patenkind Felix und dessen Mutter;19 [436] mühsam stieß er die Worte hervor: »Es ist doch nichts mit den Duos, wir wollen Trio spielen« und rannte in den Garten hinaus, um seine Aufregung zu verbergen. Er verstand sich dann noch zu seinem H-dur-Trio und entzückte am letzten Tage, Mittwoch 27. Mai, die kleine Schar von Zuhörern mit Schuberts B-dur-Trio. Zum Abschied aber erschloß er ihnen den unsterblichen Liederkreis, mit dem ihm die Muse am 7. Mai beschenkt hatte. Erst wollte er nur den Herren Zutritt zu diesem Allerheiligsten gewähren, dann ließ er auch einige Damen zu, mit Frau Laura v. Beckerath, der wir diese interessanten Mitteilungen verdanken. Als die ernsten Gesänge unter seinen Händen von den Saiten klangen, gingen ihm die Augen über, und er wehrte den Tränen nicht, die ihm in den weißen Bart rieselten.20

Nicht lange darauf lernte ich die Ernsten Gesänge in Ischl kennen. Meine Frau und ich waren Anfang Juni einer Einladung an den Attersee gefolgt. Von Unterach depeschierten wir an Brahms, ob er nicht auf einen Tag zu Ignaz Brüll und uns herüberkommen wolle. Er antwortete, daß er lieber uns in Ischl sähe, und so fuhren wir zu ihm hinüber. Vom Bahnhof gingen wir zusammen mit ihm in seine Wohnung. Auf dem Wege erzählte er uns von den widrigen Wechselfällen der Bonner Reise, so wie sie oben dargestellt sind, und rief in seinem etwas gezwungen klingenden Renommierton aus: »Das soll mir einmal ein Jüngerer nachmachen! Aber geärgert habe ich mich und aufgeregt – ganz fürchterlich. Ich wundere mich nur, daß mich nicht der Schlag getroffen hat!« Als wir im Häuschen an der Salzburgerstraße angekommen waren, brauchte ich ihn nicht erst daran zu mahnen, daß er noch mit jenen Liedern, bei denen wir an seinem Geburtstag gestört wurden, in meiner Schuld stehe. Er führte uns gleich ins Klavierzimmer, legte das Manuskript auf den Notenhalter und sagte: »Na, jetzt fahren wir also weiter fort.« Ich sang sie mit meiner durch viele Katarrhe defekt gewordenen Stimme aus dem Manuskript und erschrak hinterher ebenso sehr über meine Waghalsigkeit, wie ich seine Geduld bewunderte.

[437] Was in den Liedern steckte, sollte ich erst später bei genauerem Studium erfahren. Damals hatte ich soviel auf die Entzifferung der Schrift, die Richtigkeit der Einsätze und die Reinheit der Intervalle zu achten, daß mir kaum eine schwache Ahnung von der Größe, Kraft und Innigkeit dieser wunderbaren Musik aufdämmerte. Nur die verklärte Schönheit desH-dur-Satzes im letzten Liede überwältigte mich sofort, und ich mußte mich zusammennehmen, um nicht laut aufzuheulen. Brahms begleitete meinen schauderhaften Gesang mit aller Liebe und half bei schwierigen Stellen freundlich nach. Da er mich dann erwartungsvoll ansah, als wünsche er ein zustimmendes oder ablehnendes Wort von mir zu hören, stotterte ich etwas von einem merkwürdigen Feiertagsevangelium und meinte, er werde nicht viele Künstler finden, die den Stimmumfang und Atem besäßen, um das zu singen. »Das sollen sie auch gar nicht,« replizierte er, »an den Konzertsaal habe ich wahrhaftig dabei zuletzt gedacht«

Wir gingen dann ins Eckzimmer, von dem man die Straße hinauf- und nach dem reizenden Kaiserdorf hinüber sah, und freuten uns mit ihm des strahlenden Frühsommertages und der lieblichen Aussicht. »Ach, kommen Sie doch für den ganzen Sommer her oder bleiben Sie lieber gleich da, wir haben noch Platz genug in Reiterndorf, auch hier in der Nähe, oder wo Sie wollen!« Wir bedauerten, bereits anderweitig engagiert zu sein. Er mochte das für eine Ausrede halten, drang immer wieder in uns und verlegte sich sogar aufs Bitten, mit der Beteuerung, wir würden ihm wirklich eine ganz besondere Freude machen. So gefügig und weich hatten wir ihn noch nie gesehen, und es ging uns nahe, seinen Wunsch, der auch der unsere gewesen wäre, nicht erfüllen zu können. Verabredungen mit Ganghofers und Laßwitzs, die aus Gotha nach Südtirol kommen wollten, um einmal längere Zeit mit uns zusammen zu sein, waren nicht mehr zu redressieren. »Wir können uns gleich besehen, was zu haben ist«, redete er unbeirrt weiter, »ich führe Sie an die besten Plätze.« Auf einem mehrstündigen Spaziergange durch die traulichen Vororte des Bades mußten wir mit ihm in allen möglichen hübschen Häuschen und Villen herumkriechen, und er spielte dabei den Cicerone, Gönner und Unterhändler. Die Leute kannten ihn und [438] begrüßten ihn überall in herzlicher Weise. Wahrscheinlich wollte er uns mit der verführerischen Lockspeise fangen, und als wir doch nirgend anbissen, mußten wir ihm versprechen, das nächste Jahr ganz gewiß in Ischl zu mieten: »Es ist weitaus das Vernünftigste, was Sie tun können, und ich schenke Ihnen Tirol und die ganze Schweiz dafür.«

Auf seinem Tische hatte ich den »Hungerpastor« liegen gesehen, von dem er gleich zu schwärmen anfing. Wieviel ich für den Dichter haben wollte? Es käme ihm auf ein paar Tausender mehr oder weniger nicht an. Leider mußte ich ihm sagen, daß nach Erkundigungen, die ich inzwischen eingezogen, Raabe viel zu stolz sei, um in irgend welcher Form ein Almosen anzunehmen; selbst eine Unterstützung von seiten der Schillerstiftung habe er zurückgewiesen. Der gekränkte Wohltäter schenkte dann die Hälfte der englischen Erbschaft der Gesellschaft der Musikfreunde und zeigte ihr dies brieflich mit folgenden Zeilen an: »Sehr geehrte Herren und Kollegen, mir sind 6000 Gulden übergeben, mit dem Auftrag, sie der Direktion der Gesellschaft als Geschenk anzubieten. Das Geld steht zu durchaus bedingungsloser Verfügung der geehrten Direktion – mit Ausnahme von 1000 Gulden, die der Geber als besonderer Bücherliebhaber und Ihres so überaus kostbaren Schatzes gedenkend, zu ebenso freier Verfügung – doch gegen genaue Abrechnung dem Archivar der Gesellschaft, Herrn Mandyczewski, zu überlassen bittet. Sollte die geehrte Direktion geneigt sein, das Geschenk anzunehmen, so ist die einzige Bedingung, daß es einfach genannt und gebucht werde als ›von einem Freunde der Gesellschaft‹. Hoffentlich sind außer Herrn Dr. Egger und mir noch einige Herren Kollegen für die Annahme des gut und freundlich Gemeinten. In hoher Achtung Ihr ergebenster J. Brahms. Ischl, Juni 96.«21

Ilona Eibenschütz war an dem Ischler Tage von uns in die »Post« zum Mittagessen eingeladen worden, und wir bestellten unserem Gast zu Ehren ein reichlicheres Mahl, an dem sich Brahms trotz unserer Bitten nicht beteiligte. »Sie müssen natürlich auch[439] noch Spargel auffahren lassen, Sie Schlemmer!« rief er mit drolliger Entrüstung, »und ich vergönne mir nur mein gemeines ländliches Essen.« Als wir dann die Rechnung verlangten, hatte Brahms sie schon bezahlt und amüsierte sich königlich über mein verdutztes Gesicht. Mit der von ihm bevorzugten Pianistin begleitete er uns noch eine Station weit auf der Salzburger Bahn. Beide stiegen dann aus und gingen heiter und guter Dinge nach Ischl zurück. Ich sehe ihn noch in seinem graubraunen Kamelhaarmantel, den runden Filzhut in den Nacken geschoben, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, den rechten Fuß ein wenig einwärts gekehrt, neben der flatterigen, graziösen Kleinen davonstiefeln – ein unvergeßliches liebenswürdiges Bild, um das sich bald ein umflorter Rahmen legen sollte.

Das Schicksal nahm ihn beim Wort: die »Vier ernsten Gesänge« hatte er wirklich für sich selbst geschrieben, sich selbst zum Geburtstage geschenkt. Wie beim Totentanze stieg Freund Hein aus ihren Klängen empor, zog dem Spieler die Hand von den Tasten und geleitete ihn, wenn auch auf einem bösen Umwege, zur ewigen Ruhe.

Fußnoten

[440] 1 III 509.


2 Der neue Direktor befolgte den Rat insofern, als er mit Tinels »Franziskus«-Oratorium begann und Massenets »Eva« für das dritte Konzert zurücklegte, wo zwar auch niemand auf ihren sauren Apfel anbeißen wollte, der Schaden aber durch andere Werke repariert wurde. Perger erzählt in »Erinnerungen und Bekenntnissen«, die er nach Brahms' Tode im Feuilleton der Wiener »Zeit« veröffentlichte, Brahms habe ihn bei einem seiner ersten Besuche, die er ihm im Herbst 1895 machte, gefragt, ob er denn schon bei Bruckner gewesen wäre. »Ich verneinte und sah den Meister, dessen seinkaustische Redewendungen mit wohl bekannt waren, etwas zweifelnd an. Er versetzte aber ganz ernsthaft: ›Sie müssen baldigst zu Bruckner gehen, und ich glaube, daß es auch Ihre Sache wäre, gleich im ersten Jahre eines seiner Chorwerke aufzuführen.‹« Die Folge davon war, daß Perger, obwohl er »der Tonsprache Bruckners, die damals fast nur in Österreich zur Geltung gelangt war, ziemlich fremd gegenüberstand«, im zweiten Gesellschaftskonzert vom 12. Januar 1896 Bruckners »Te Deum« aufführte.


3 Vgl. III 491f. Anm.


4 Eine Anspielung auf sein »Triumphlied«, das, wie oben berichtet, am letzten Festtage (29. September) in der Stadtkirche aufgeführt wurde.


5 Vgl. II 244ff.


6 Vgl. III 257.


7 »Johannes Brahms in Erinnerungen«, S. 116ff.


8 IV 403.


9 Brahms erzählte Max Friedländer, daß er eines Nachts, als er mit Menzel bet Frederik saß, eine Omelette bestellt habe. Von dem vorhergegangenen Gelage ermüdet, sei er am Tische eingenickt. Beim Wiedererwachen habe er zwei Eierkuchen gefunden: das Original und eine von Menzel mit Bleistift gezeichnete, verblüffend ähnliche Kopie. Viele werden es unverzeihlich finden, daß Menzel nicht lieber den schlummernden Brahms verewigte, den Eierkuchen aber, er hätte ihn denn gegessen, auf sich beruhen ließ. – Wie Frau Klara Simrock berichtet, kehrte ihr Gast erst kurz vor 5 Uhr vom Frühstück bei Menzel zurück, steckte den Kopf in kaltes Wasser, kleidete sich im Handumdrehen um und fuhr davon. Statt um 8 Uhr kam er um 9 Uhr in animierter Stimmung wieder, von Simrocks, Hausmanns und Frau Soldat zum Nachtmahl erwartet, und musizierte dann mit den beiden von Mitternacht bis 3 Uhr früh. Als er, ein paar Stunden darauf, so frisch wie nur möglich, seinen Morgenkaffee trank, konnte sich Frau Simrock nicht enthalten, ihm zu sagen: »Sie sind nicht allein der gottbegnadete Künstler, sondern auch ein Riese an Gesundheit!« Darauf erwiderte er: »Was wollen Sie, ich habe noch nie in meinem Leben eine Mahlzeit ausgelassen und niemals einen Tropfen Medizin genommen.«


10 Brahms war der erste Musiker, der diese vom Kaiser von Österreich verliehene Dekoration erhielt, und zwar im Mai 1896.


11 Beide Bilder, nebeneinander betrachtet, sind bis zur Unähnlichkeit verschieden und liefern den augenscheinlichsten Beweis, daß die Photographie doch nur ein Notbehelf, ein Surrogat ist. Die Sonne bringt das Entscheidende nicht an den Tag.


12 III 421.


13 Vgl. III 155.


14 Vgl. I 290.


15 II 475ff. Die dort erwähnte mysteriöse Erbschaft ist ins Jahr 1871 zu verlegen, wie inzwischen zufällig ans Licht gekommene Dokumente beweisen.


16 Moser, Briefwechsel II 285.


17 Litzmann a.a.O. S. 609.


18 Nach dem Bericht des Augenzeugen Ferdinand Schumann.


19 Vergl. III 192.


20 Willy v. Beckeraths ausdrucksvolle Kohlezeichnung »Brahms am Klavier« ist an jenem Tage entstanden.


21 Zum erstenmal abgedruckt in der »Geschichte der K.k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien« 1912. S. 220.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915, S. 400-441.
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