§. 21.

[208] Es liegt klar zu Tage, daß ein Violinist wohl muß zu unterscheiden wissen, ob, und was für eine Auszierung der Componist schon ausgesetzet hat? und ob er noch eine, oder was für eine Auszierung er noch anbringen kann? wir sehen es Sonnenklar in den Beyspielen des 19. und 20. Paragraphs. Denn wie schlecht würde es klingen, wenn der Violinist den vom Componisten schon hingesetzten und in den Tact eingetheilten Vorschlag noch mit einem absteigenden langen Vorschlage beehren wollte. Es heißt Z.E.


21.

Es wird aber etwa diese unnöthige Auszierung angebracht. Doch, man verstehe mich wohl, ich rede von einem langen Vorschlag, auf den die Starke der Tones fällt.

21.

21.

Hier können iene ungeschickte Spieler, die alle Noten verkräuseln wollen, die Ursache einsehen, warum ein vernünftiger Componist sich ereifert, wenn man ihm die schon ausgesezten Noten nicht platt wegspielet. In dem gegenwärtigen Beyspiele sind die absteigenden Vorschläge schon niedergeschrieben und in den Tact eingetheilet. Sie sind Dissonanten die sich schön und ordentlich auflösen, wie wir aus der Unterstimme und aus den darüber gesezten Zahlen[209] sehen, die man mit ihrem rechten Namen die Signaturen nennet. Wer greift es nun nicht mit Händen, daß es sehr elend läßt, wenn man das natürliche mit noch einem langen Vorschlage verderbet? wenn man den Dissonanten, der vorher schon regelmässig vorbereitet ist, ausläßt, und eine andere ungereimte Note dafür ergreift? ja wenn man gar die Stärke des Tones auf den unnöthig dazu kommenden Vorschlag wirft, den Dissonanten aber sammt der Auflösung erst still daran schleifet; da doch der Dissonant stark klingen, und sich bey der Auflösung nach und nach erst verlieren solle?

Allein was kann der Schüler dafür, wenn es sein Lehrmeister selbst nicht besser verstehet, und wenn der Lehrmeister selbst auf gut Glück in den Tag hinein spielet ohne zu wissen was er thut? Und dennoch will oft noch dazu ein solcher gerathewohl Spieler ein Componist heissen. Genug! man mache keine, oder nur solche Auszierungen die weder die Harmonie noch Melodie verderben. Und in Stücken, wo mehr als einer aus der nämlichen Stimme spielen, nehme man alle Noten so, wie es der Componist vorgeschrieben hat. Man lerne endlich einmal gut lesen, bevor man mit Figuren um sich werffen will: denn mancher kann ein halbes Dutzend Concerte ungemein fertig und sauber wegspielen; kömmt es aber dazu, daß er etwas anders gleich von der Faust weggeigen solle, so weis er nicht drey Tacte nach des Componisten Meinung vorzutragen: wenn gleich der Vortrag auf das genaueste bestimmet ist4.

Quelle:
Leopold Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule. Wien (1922), S. 208-210.
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