§. 4.

[253] Man schliesse nun selbst ob nicht ein guter Orchestergeiger weit höher zu schätzen sey, als ein purer Solospieler? Dieser kann alles nach seiner Willkhur spielen, und den Vortrag nach seinem Sinne, ja nach seiner Hand einrichten: da der erste die Fertigkeit besitzen muß den Geschmack verschiedener Componisten,[253] ihre Gedanken und Ausdrücke alsogleich einzusehen und richtig vorzutragen. Dieser darf sich nur zu Hause üben um alles rein herauszubringen, und andere müssen sich nach ihm richten: iener aber muß alles vom Blatte weg, und zwar oft solche Passagen abspielen, die wider die natürliche Ordnung des Zeitmaases lauffen1; und er muß sich meistens nach andern richten. Ein Solospieler kann ohne grosse Einsicht in die Musik überhaupts seine Concerte erträglich, ja auch mit Ruhme abspielen; wenn er nur einen reinen Vortrag hat: ein guter Orchestergeiger aber muß viele Einsicht in die ganze Musik, in die Setzkunst und in die Verschiedenheit der Charakters, ja er muß eine besondere lebhafte Geschicklichkeit haben, um seinem Amte mit Ehren vorzustehen; absonderlich wenn er seiner Zeit den Anfuhrer eines Orchesters abgeben will. Vielleicht sind aber einige, welche glauben, daß man mehr gute Orchestergeiger als Solospieler findet? diese irren sich. Schlechte Accompagnisten giebt es freylich genug; gute hingegen sehr wenig: denn heut zu Tage will alles Solo spielen. Wie aber ein Orchester aussieht, welches aus lauter Solospielern bestehet, das lasse ich jene Herren Componisten beantworten, die ihre Musiken dabey aufgeführet haben. Wenig Solospieler lesen gut: weil sie allemal nach ihrer Phantasie etwas einzumischen, und nur auf sich allein, selten aber auch auf andere zu sehen gewohnet sind2.

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Leopold Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule. Wien (1922), S. 253-254.
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