§. 22.

[264] Alles was ich nun in diesem letzten Hauptstücke niedergeschrieben habe, betrift eigentlich das richtige Notenlesen, und überhaupts den reinen und vernünftigen Vortrag eines gut gesetzten musikalischen Stückes. Und alle meine Bemühung, die ich in Verfassung dieses Buches angewendet habe, ziehlet dahin: die Anfänger auf den rechten Weg zu bringen, und zur Erkänntniß und Empfindung eines guten musikalischen Geschmackes vorzubereiten. Ich will also hier schliessen, obwohl ich für die Herrn Concertisten noch vieles zu sagen hätte. Wer weis es? vielleicht wage ich es noch einmal die musikalische Welt mit einer Schrift zu vermehren? wenn ich anders sehe, daß dieser mein Eifer den Anfängern zu dienen nicht gar ist unnützlich gewesen.


Ende der Violinschule.

Fußnoten

1 Contra Metrum Musicum. Hiervon habe schon im zweyten Abschnitte des ersten Hauptstückes §. 4. in der Anmerkung (d) eine Meldung gethan. Und ich weis nicht was ich denken solle, wenn ich eine Arie von manchem itzt so sehr berühmten welschen Componisten sehe, die so wider das musikalische Metrum läuft, daß man glauben sollte, es hätte sie ein Schüler gemacht.


2 Ich rede aber hier keineswegs von jenen grossen Virtuosen, die neben ihrer ausserordentlichen Kunst in Abspielung der Concerte, auch gute Orchestergeiger sind. Dieß sind Leute die wirklich die grösseste Hochachtung verdienen.


3 Es ist schlecht genug, daß mancher niemals an das denket, was er wirklich thut, sondern seine Noten nur so wie im Traume wegspielet, oder als wenn er geradezu für sich allein spielete. Ein solcher nimmt es nicht wahr, wenn er gleich ein paar Viertheile im Tacte voraus läuft: und ich wette darauf er würde das Stück um ein paar Täcte eher als andere enden, wenn nicht der Nächste an ihm, oder der Anführer selbst ihm solches erinnerte.


4 Ich verstehe hier durch das Wort: Accent, keineswegs der Franzosen ihn le Port de Voix, darüberRousseau in seiner Methode pour apprendre á chanter. p. 56. eine Erklärung geben will: sondern einen Ausdruck (Expression), Nachdruck oder Emphasis, vom griechischen εν, in, und φάσις, apparitio, dictio.


5 Ein geschickter Accompagnist muß also einen Concertisten beurtheilen können. Einem rechtschaffenen Virtuosen, darf er gewiß nicht nachgeben: denn er würde ihm sonst sein Tempo rubato verderben. Was aber das gestohlene Tempo ist, kann mehr gezeiget als beschrieben werden. Hat man hingegen mit einem Virtuosen von der Einbildung zu thun? da mag man oft in einem Adagio Cantabile manche Achttheilnote die Zeit eines halben Tactes aushalten, biß er gleichwohl von seinem Paroxismus wieder zu sich kömmt; und es geht nichts nach dem Tacte: denn er spielt Recitativisch.


Quelle:
Leopold Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule. Wien (1922), S. 264.
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