Titus der Gütige. (La Clemenza di Tito.)

[129] Opera seria in zwey Acten.


Dieses ist Mozart's letzte Oper. Er schrieb sie bey hinschwindenden Kräften, wo schon sein Geist im Begriffe war, von seiner irdischen Hülle zu scheiden. Der Text ist von Metastasio und wurde von den böhmischen Ständen zur Krönung des Kaisers Leopold II. als böhmischer König bestellt. Er begann die Composition im Reisewagen von Wien nach Prag und vollendete sie innerhalb 18 Tagen in Prag 1791.

Der musikalische und dramatische Charakter dieses Stücks ist mehr poetisch als romantisch, daher nimmt die Vorstellung desselben, von Italienern ausgeführt, eine Physiognomie an, welche Deutsche dieser Oper nicht zu geben vermögen, eine Physiognomie, welche dem Werke eine Wirkung verleiht, die dasselbe, auch von den besten deutschen Sängern vorgetragen, nie macht.

Einige Italiener nennen diesen Schwanengesang Mozart's das Erhabenste, womit ihn die Musen je begeisterten. Sie vergleichen das erste Finale hinsichtlich der grossen Idee, des leidenschaftlichen Ausdrucks von Angst, Schreck, Mitleid und Schmerz mit den trefflichsten Scenen Shakespeare's und ziehen es allen vor. Freylich stattete der einzige göttliche Meister stets, und auch hier, die Nebenstimmen aus seinem nie versiegenden Schatze mit verschwenderischer Fülle aus. Als Mozart diese Oper in Prag aufführte, musste die Rolle des Titus einem Sänger ohne Stimme zugetheilt werden; daher lässt es sich[130] entschuldigen, dass man ihr oft Compositionen anderer Meister einlegt.

Da Mozart's Geist beym Schreiben dieser Oper schon im Abschiednehmen begriffen war und sein siechender Körper die Energie des Geistes ermattete, so fühlt man deutlich, wie sich das musikalische Leben des Meisters auch hier noch trefflich ausdrückt, denn die einzelnere Instrumental-Begleitung, die stille Erhabenheit und – die Schwermuth in den Melodieen und im Charakter des Titus sprechen dafür.

Dass Mozart die von Metastasio gestellten drey Acte in zwey umschmolz, ist früher schon angegeben worden, und auch, wie meisterhaft er diess that. Statt dass er früher sich über Alles verbreitete und allenthalben die Schätze seines Genie's verschwenderisch austheilte, wurde er hier mit einem Male verdriesslich und karg. Dazu sind noch obendrein die dialogisirenden Recitative von einem seiner Schüler gefertigt, von ihm aber corrigirt worden.

Unter diesen Umständen erhielt diese Oper einen ganz eigenthümlichen Charakter und gleicht hierin keiner der anderen Arbeiten dieses Künstlers. In den Arien herrscht das Gefühl eines sinnenden, trauernden, stillen Geistes, und alle zärtlichen Empfindungen färben sich mit einer Farbe von Schwermuth an. Nur in den Finalchören rafft sich der im Scheiden begriffene Meister gewaltsam aus seinem hinsterbenden Schlummer empor. Es ist diess das letzte Auflodern des verlöschenden Lichts, was noch einmal alle seine Kräfte sammelt, ehe es in gänzliche Finsterniss versinkt. Daher mochte es kommen, dass[131] auch der Mangel an zusammengesetzten Stücken, wie Quintetten, Sextetten etc. auffallend ist. Es sind meistens nur Arien und Chöre, und die Duetten sind nur sehr kurz. Man fühlt beym Anhören derselben die Leere und das Erschlaffen der Energie des grossen Meisters. Die Instrumente concertiren weniger, sind weit einzelner – was überhaupt von der ganzen Begleitung verstanden werden kann – als in seinen anderen Werken. Seine Lieblingsarbeiten, die canonischen Sätze, machen sich seltner.

An edler Einfalt hat das Ganze allerdings gewonnen; allein es ist bekannt, dass Mozart auch bey dem grössten Aufwande seiner Kunst, bey der reichhaltigsten Instrumentation dieses Gesetz nie aus den Augen verlor.

Viele schon, die diese Oper studirten und sie mit anderen Mozart'schen verglichen, fühlten diese angegebene Verschiedenheit auffallend, und konnten sich der Thränen nicht enthalten, wenn sie sich die Auspicien, unter welchen Mozart's Geist hier arbeitete, recht lebhaft vorstellten und die immer leerer werdenden Tactcolumnen der Blas-Instrumente den gebundenen Fittig seines Genius anzudeuten schienen. In dieser Stimmung beweisst sich die schwermüthige Arie: Ach! nur einmal noch im Leben etc. und die Arie: Nie wird mich Hymen lächelnd entzücken etc. Eine geheimnissvolle Ahnung scheint den Sänger umschwebt zu haben, dass auch ihm die holden Kinder des Frühlings nimmer wieder blühen würden.

Titus ist der Hauptcharakter und gewissermaassen mit einer ängstlichen Sorgfalt gezeichnet. Mit feinem Sinne fasste Mozart die Einfachheit, die Ruhe[132] und stille Erhabenheit des Titus, mit Kummer schattirt, auf, und übertrug sie – damals wohl seine eigenen Empfindungen – in die Composition. Jeder Theil, selbst die gemässigte Instrumentalpartie, trägt dieses Gepräge an sich und vereinigt sich zur schönsten Einheit des Ganzen.

Vitellia steht diesem schönen Charakter ganz entgegen. Mozart malte ihre Wildheit, ohne jedoch zu vergessen, was er der darstellenden Kunst schuldig war; und ist Vitellia gleich ein moralisches Ungeheuer, so schont Mozart doch das feine Gefühl des Zuhörers und zeigt uns die Unmenschliche immer noch menschlich genug.

Servilia, die Geliebte des Titus: welcher Edelmuth! welche immer wahre Grösse! Ganz das Seitenstück ihres erhabenen Geliebten! Ihr stummes Dulden, ihre gewaltsam unterdrückte Flamme, wie schön wusste Mozart diess in ihrem Gesange zu malen!

Sextus und Annius, das Bild der zärtlichsten Freundschaft, spiegelt sich in dem liebevollen Duette: »In deinem Arm zu weilen, Freund, welche Seligkeit!«

Die Ouverture ist im heroischen Style und enthält den ganzen Plan der Oper. – Alle übrigen Stücke verrathen den grossen Geist ihres Schöpfers. Das Finale des ersten Actes ist eine der vollkommensten Arbeiten Mozart's; es wetteifern Ausdruck, Charakter und Empfindung, um den grössten Effect hervorzubringen. Gesang, Begleitung, Instrumentation, Modulation und der Wiederhall der fernen Chöre bewirken bey jeder Aufführung eine bey Opern[133] seltne Täuschung. Der Schlusschor des zweyten Actes ist gewiss unter allen Chören der fliessendste, erhabenste und ausdrucksvollste.

Der Genuss dieses Kunstwerkes erfordert eine reingestimmte Seele und ein vollkommen ruhiges Gemüth. Auch wirkt es nur nach und nach, und nur wiederholtes und aufmerksames Hören weihet allmählig in seine erhabenen Mysterien ein.

Quelle:
Nissen, Georg Nikolaus von: Anhang zu Wolfgang Amadeus Mozart's Biographie. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1828 [Nachdruck Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 1991], S. 129-134.
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