I.

Nach des Vaters Tod.

[103] Franz Liszt's Erschütterung des Gemüthes. Zukunftspläne. Läßt seine Mutter nach Paris kommen. Begründung ihrer und seiner Existenz durch Lehrthätigkeit. Vor- und Rückblick. Der Einfluß seiner Mutter.


An der Leiche seines Vaters empfand Franz Liszt den ersten großen Schmerz.

Zum ersten Mal, daß er des Todes ernstes unerbittliches Antlitz sah. In seinem jugendlichen Gemüth war bis jetzt noch kein Gedanke an ihn aufgestiegen. Er kannte ihn nur dem Wort nach, sein Inhalt aber in seiner Öde und in seiner vernichtenden Herbe war ihm fremd geblieben. Entsetzen ergriff ihn nun angesichts des letzten Ringens, dessen Zeuge er war. Mit leidenschaftlichem Schmerz stand er am Bette des Entseelten – mit doppeltem Schmerz. Sein Sohnesherz schrie auf um den Vater und seine Phantasie warf zugleich schürend ihre dunklen Todesbilder in die Schmerzensgluthen: er hatte den Tribut des Herzens und der Phantasie, den des Menschen und den des Künstlers zu entrichten. Seine Einbildungskraft und sein erschüttertes Gemüth glaubten überall das starre Antlitz des Vaters, überall die Spuren der Vernichtung zu sehen. Dazwischen hörte er des Vaters Stimme, sein schweres Athmen, seinen letzten Seufzer.

Eine Aufregung bemächtigte sich seiner, wie er sie nie gekannt. Ein Stürmen und Wogen, ein fremdes Etwas erfaßte ihn mit namenloser Gewalt. Keinem Gedanken, keinem Gebet konnte er Halt! zurufen. Die inneren Wogen stiegen höher und höher, bis sie wild durcheinander stürzten, eine vom Schmerz losgebundene Schar leidenschaftlicher Geister![103]

Er war seiner nicht mehr mächtig, er verlor seine Besinnung. Aber auch sein jugendlicher Körper war diesem Sturm der Gefühle, der über ihn hereingebrochen mit Gewitters Gewalt, nicht gewachsen. Eine physische Erstarrung folgte dem leidenschaftlichen Ausbruch seines Schmerzes und theilnahmlos, gleichsam erstarrt ließ er die Anordnungen zum Begräbnis an sich vorüber gleiten.

Dieser Zustand währte mehrere Tage. Als die übergroße Spannung nachließ, wich sein dumpfes Brüten dem Gefühl unsäglicher Vereinsamung und Verlassenheit; überall fehlte des Vaters Hilfe und Anordnung. Bis jetzt war er beständig unter seiner Obhut gestanden. Mit ihm hatte er dieselben Zimmer bewohnt, unter seinen Augen hatte er musicirt und gearbeitet, an seiner Seite hatte er seine Erholungsstunden gefunden, im Koncertsaal war er neben ihm gewesen – kaum eine Stunde seines Lebens läßt sich nennen die er ohne ihn verbracht hatte. Und nun plötzlich: allein! – Dieser Wechsel war zu groß, zu unerwartet und jäh gekommen, als daß bei zurückkehrender Besinnung er ihn anders hätte empfinden können als in dem erdrückenden Gefühl der Vereinsamung.

Seine gesunde Natur jedoch und das Leben führten den Entgleisten bald zurück in die richtige Bahn. Wohlthuend löste sich die zum ersten Mal empfundene Nacht der Gefühle in Sehnsucht nach seiner Mutter auf und über ihr Dunkel brach schön und licht das Bewußtsein seiner Sohnespflicht hervor. Es sagte ihm, daß er ihr gegenüber von nun an für die Pflichten seines Vaters eintreten müsse. Und obwohl bis jetzt noch kein anderer Aufruf an sein selbständiges Handeln ergangen war als der aus sterbendem Munde, so faßte er doch mit schnellem Blick seine Situation und bezeichnete sich die Wege, die er zu betreten habe, um seine Pflichten zu erfüllen.

Dieser Zug männlicher Kraft und Entschlossenheit drängte sich dominirend durch sein Inneres und verscheuchte die gespenstischen Nebelbilder der Phantasie. Tief erregt und doch besonnen schrieb er an seine Mutter und theilte ihr seine Pläne für die Zukunft mit. Er wolle zunächst, schrieb er ihr, nach Paris und da als Lehrer des Klavierspiels ihre und seine Existenz zu begründen suchen. Dorthin solle sie zu ihm kommen und bei ihm bleiben; er würde ihr stets ein liebender und treuer Sohn sein und jede Sorge von ihr fern halten.

Mit diesem Entschluß stand er wieder auf festerem Boden.[104] Andere Einwirkungen, die Forderungen des realen Daseins traten hinzu und thaten das ihrige. So fand er das verlorene Gleichgewicht wieder. Wie jedoch jede plötzlich eingetretene und einen Umsturz mit sich führende Katastrophe noch lange in ihren Nachwirkungen sichtbar bleibt, so schwanden nur langsam die Nachschauer der am Sterbebett seines Vaters empfangenen Eindrücke. Sogar noch in späteren Jahren wurde er bei Erwähnung derselben tief erregt. Mit dem Sturm der Schmerzgefühle selbst aber war sein Temperament zum ersten Mal hervorgebrochen mit einer unaufhaltsamen, alle Dämme überstürzenden Gewalt. –

Ehe Franz Liszt jedoch seinen Entschluß nach Paris zu reisen zur Ausführung bringen konnte, hatte er in Boulogne sur mer noch verschiedenen Anforderungen des praktischen Lebens zu genügen, die nicht ohne Verlegenheit für ihn waren. Unter seines Vaters Obhut waren seine Jahre an dieser Seite des Lebens vorübergegangen, ohne mit ihr in Berührung gekommen zu sein. Um so mehr waren jetzt seine ersten selbständigen Äußerungen individuell gefärbt und deuteten auf bestimmte Charakterzüge hin. Wie in dem Verhalten zu seiner Mutter sich ein gesundes Gefühl und ein tüchtiger Sinn für natürliche Pflichten aussprach, so zeigte sich in der Art und Weise, wie er seine Verbindlichkeiten löste, der Charakter seiner Ehrbegriffe. Den großen Ausgaben, welche der unvorhergesehene Todesfall mit sich brachte, konnte seine Kasse nicht Stand halten; obwohl es ihm nun ein Leichtes gewesen wäre diesen Verpflichtungen mit der Zeit nachzukommen, so zog er es doch vor seinen kostbaren Flügel mit großem Verlust zu verkaufen, nur um keine Schulden zu haben und Niemand zu belästigen.

Als er jede seiner Verbindlichkeiten erfüllt hatte, reiste er nach Paris, wo er bei den vielfach erprobten Freunden seines Vaters, bei der Familie Erard, bis zur Ankunft seiner Mutter Aufnahme fand.

Seine Mutter hatte bis jetzt bei Verwandten gelebt. Erst in Grätz, dann in Wien. Hier, in letzterer Stadt, empfing sie die Nachricht vom Tod ihres Gatten. So sehr derselbe sie erschütterte, der Ruf ihres Sohnes ließ sie nicht dem Schmerz sich hingeben. Sie ordnete ihre Angelegenheiten und eilte nach Paris.

Drei Jahre hatten sich Mutter und Sohn nicht gesehen, und jetzt erstickten die Thränen um den Verlornen das Glück des Wiedersehens.[105]

Ihrer Trauer war die Sorge für die neue Häuslichkeit eine Wohlthat. Sie bezogen eine bescheidene Wohnung in der Rue Montholon. Hier wohnte Franz Liszt mit seiner Mutter, welche den Pflichten des kleinen Hausstandes oblag, während er die Pflichten der äußeren Existenzfrage auf seine jugendlichen Schultern nahm. In den Jahren des Koncertirens waren wohl Ersparnisse gemacht worden und den tausend Gulden, welche zur Zeit des ersten pariser Aufenthaltes an das Hans Esterhazy zur Verzinsung übersandt worden waren, war noch manches Tausend nachgefolgt, aber dieses Kapital war einestheils nicht groß genug, um von den Zinsen leben zu können, anderntheils wollte Franz, daß es unangegriffen der Mutter bleiben und ihr Leben gegen vielleicht kommende Bedrängnisse sicher stellen sollte. Nicht einmal die Zinsen desselben wurden berührt. Bald nach Ankunft seiner Mutter übergab er ihr die hierher bezüglichen Papiere als ihr Eigenthum. Die gläubige Zuversicht des einst neunjährigen Knaben: »daß Gott ihm beistehen werde seinen Eltern die ihm gebrachten Opfer vergelten zu können«, hatte sich erfüllt. –

Das große Interesse, das man in allen Kreisen für den jungen Liszt gehegt, ward bei der Wendung seines Schicksals zur warmen Theilnahme. Sein Vorhaben als Lehrer thätig zu sein fand, unterstützt von dem Ruhme seiner Virtuosität, von allen Seiten Aufmunterung. Bald hatte er Schüler und Schülerinnen aus allen Ständen und so groß war das Vertrauen zu ihm, daß Niemand an seiner Jugend Anstoß nahm. Nur im Stift St. Denis, wo ein Gönner ihn als Lehrer empfohlen, hatte man Bedenken ihn als solchen zu beschäftigen. Aber nicht seiner Jugend wegen. Die Priorin fand es nicht rathsam ihre weiblichen Zöglinge einem Lehrer anzuvertrauen, was seinem männlichen Selbstgefühl jedoch nicht wenig schmeichelhaft däuchte.

Zu seinen ersten Schülern und Schülerinnen zählten Peter Wolf aus Genf, der Belgier Louis Meßmekers, die Gräfinnen Montesquieu und St. Criq, die Töchter des damaligen englischen Botschafters Lord Granville u.A.

Als Lehrer zeigte er sich voll Ausdauer und Eifer. Seine Erfolge bekundeten ein außergewöhnliches Lehrtalent. Seine Genialität fesselte seine Schüler, förderte sie, spornte sie an und befestigte ihre Liebe zur Kunst.

Bald fand der jugendliche Informator eben solche Bewunderung[106] wie einst »le petit Litz«, wie man ihn dazwischen immer noch gern zu nennen pflegte. Aber auch die Feinheit und den Takt seines Benehmens rühmte man, das Freisein von den Unarten der lehrenden »Klavierlöwen«, welche ihre Schülerinnen durch Liebenswürdigkeiten und andere Tugenden alarmirten. Er gab sehr viel Unterricht. Dabei war unter seinen Lektionen keine unerhebliche Zahl solcher, die er ohne jede Vergütung Unbemittelten, aber Talentvollen ertheilte, Lektionen, die manche vornehme Dame gern mit zwanzig bis dreißig Francs honorirt haben würde.

Der wandernde junge Virtuos hatte sich so urplötzlich in einen in Paris ansässigen Lehrer verwandelt. Paris wurde von da an für Jahre hinaus sein bleibender Wohnort. Durch die reichen Bildungsquellen, welche ihm hier zuflossen, sowie durch die Eindrücke, welche die französische Zeitgeschichte ihm gab und die von großer Bedeutung für seine individuelle Entwickelung wurden, ward Frankreich sein zweites Vaterland. –

Das Leben Franz Liszt's war durch den Tod seines Vaters in unerwartete Bahnen gelenkt. Nach allen Seiten nahm es Wendungen, die den früheren Verhältnissen ganz entgegengesetzt waren. Erst ein mehrjähriges Wanderleben – jetzt ein Festsitzen an der Scholle; erst ein für die Lebensbedingungen nothwendiges Erwerben im freien Stil des Koncertirens – jetzt durch Gebundensein an die Stunde; erst ein Einsetzen der ganzen Kraft zur Erringung hoher Kunstziele – jetzt ein Hingeben und Zersplittern der Kraft an die kleine Tagessorge. Thun und Lassen war bis jetzt von dem Vater bestimmt, der Tageslauf war von ihm geregelt, alle äußeren Anordnungen waren von ihm getroffen worden – die Fähigkeit der Selbstbestimmung seitens des Sohnes blieb in Folge dessen ungeübt und nun trat der bisherigen Beschränkung unvermittelt die vollste Freiheit entgegen. Einflüsse, welche störend auf Franz's künstlerische wie moralische Entwickelung hätten einwirken können, hatte er sorgfältig von ihm fern gehalten – jetzt konnten alle bösen und guten ungehindert an ihn hinantreten: der junge Liszt war auf sich selbst gestellt.

Daß in einem solchen schroffen Wechsel von Beschränkung und Freiheit, von Bestimmtsein und Sichselbstbestimmen, von Schutz und Schutzlosigkeit große Gefahren für ihn lagen und der Verlust seines Vaters sich bemerkbar machen mußte, liegt auf der Hand. Wohl fand er in seinem Genie, in der Reinheit seiner[107] Empfindung und Idealität seines Denkens ein sicheres Steuerwerk im Großen und Ganzen, im Einzelnen aber führte die Jünglingshand das Ruder oft schwach, oft planlos, kreuz und quer, je nach dem Moment, nach Jugendsturm und Zeitendrang, wobei es unverkennbar bleibt, daß die Erziehung, die er durch seinen Vater erhalten, sowie das plötzliche Abbrechen derselben seine individuelle Entwickelung wesentlich bestimmte und sich hineinmischte in die Hochfluth seiner Jünglingsjahre. Sie mischte sich hinein mit ihren Vorzügen, aber auch mit manchen Nachtheilen, welche der sorgfältig gepflegten, jedoch exklusiv musikalischen Richtung derselben entspringen mußten, und breitete sich bald als Licht bald als Schatten über seine menschliche, wie künstlerische Erscheinung. Es tauchen Perioden auf in seinem Leben, wo man den Vater aus dem Grabe rufen möchte, um den jugendlichen Sohn zu schützen vor den mächtig auf ihn einstürzenden korrumpirenden Einwirkungen von Außen, und wieder läßt sich der Finger auf Momente legen, die gegenüber den Beschränkungen, welche ihm wurden, dessen Tod für die Weiterentwickelung des Sohnes nahezu als eine Nothwendigkeit empfinden lassen: Perioden und Momente, von denen die ersteren mehr der menschlichen, die letzteren mehr der künstlerischen Seite seines Lebens angehören.

Was die letztere anbetrifft, so hatte Adam Liszt in richtiger Erkenntnis der außergewöhnlichen musikalischen Begabung seines Sohnes, ein großes künstlerisches Ziel bei seiner Erziehung in den Vordergrund gestellt. Dieses Ziel war ihm der Impuls seiner Handlungen, der Inhalt seiner Vaterpflichten; nach ihm spannten sich seine Anordnungen, in ihm koncentrirten sie sich. Sein Auge fest auf diesen Punkt gerichtet, mußten ihm alle andern Dinge nebensächlich erscheinen und gegenüber demselben in den Hintergrund treten. Große Ziele verlangen außergewöhnliche Wege.

Und so kam es, daß Dinge, die nicht direkt in die künstlerische Aufgabe mündeten, unberücksichtigt bleiben mußten. Des Vaters Gebieten und Verbieten lag in der Natur des eingeschlagenen Weges. Er bestimmte das Thun und Lassen seines Knaben und leitete und führte ihn Schritt für Schritt dem einen Ziel, der Künstlerlaufbahn, zu. So vergingen Tage, Monde, Jahre; das Kind wurde zum Knaben, der Knabe reifte dem Jüngling entgegen – seine Sorgfalt blieb dieselbe, er bestimmte und führte ihn.

In diesem konsequenten Festhalten, dieser Stetigkeit des Willens[108] gegenüber einer Idee macht Adam Liszt den Eindruck eines großen Charakters. Aber gerade in diesem Festhalten, dieser Stetigkeit lag für seinen Sohn trotz des unübersehbaren Guten, das ihm hieraus erwuchs, doch auch eine bedenkliche Seite, namentlich wenn man der nach freier Äußerung ihrer selbst strebenden Richtung seiner Natur gedenkt, wie sie in seinem Klavierspiel und in seinen Improvisationen vom Anbeginn seines musikalischen Lebens an sich ein unverkennbares Ausdrucksmittel geschaffen. Den Neigungen zu individueller Freiheit hatte sein Vater die Zügel stramm gehalten – bis dahin ein nicht hoch genug zu schätzender Segen für die künstlerische Zukunft seines Sohnes.

Aber so sehr Zucht und Regel erste Bedingung eines gedeihlichen Fortschritts und der Boden für große bleibende Thaten sind, ebenso sehr können sie bei einseitiger Geltendmachung störend auf die in der Entwickelung begriffene individuelle Eigenartigkeit einwirken. Sie können sie abschwächen, sie können sie zu leerem Formalismus drängen. Für Franz waren manche Anzeichen dieser Gefahr vorhanden; denn die Anschauungen seines Vaters wurzelten in einer anderen Zeit als diejenige war, welche wenn auch noch im inneren Gärungsproceß begriffen doch bereits am Völkerhimmel eine neue umgestaltende Lebensphase anzeigte. Am klassischen Himmel der Kunst war das Abendroth im Verhauchen. Ein neuer Lebensinhalt und Lebensgehalt kündete auch hier sich an und die Gefühlsrichtung von Franz deutete auf ein Anderes hin als auf das formelle Element der Klassicität.

Und da liegt die Vermuthung mehr als nahe, daß er unter der Leitung seines Vaters nur unter heftigen Kämpfen und inneren Konflikten die später von ihm betretenen, sowie eröffneten neuen Bahnen in dieser Weise, namentlich mit seinem alles überwältigenden Heroismus, betreten haben würde, wie es der Fall war.

Jetzt war er frei von allen Hemmungen, welche seiner individuellen Entwickelung hätten werden können. Ganz auf sich gestellt – nach Seite der Kunst, nach Seite des Lebens, nach jeder Richtung hin – konnte auch seine bis jetzt beschränkte Willensthätigkeit sich entfalten. Sie wurzelt in der Kraft des Ichs. Das Leben mit seinem rastlosen Spinnen widerspruchsvoller Anforderungen verlangt vom Individuum diese Kraft und reift sie zugleich. Es stachelt sie zum Willen, zum Kampf, zur besiegenden That, es entwickelt durch sie dem Charakter, dem Genie jene Titanenkraft,[109] die an den Rädern der Welt schiebt, aber nicht geschoben sein will, welche treibt, ohne getrieben zu werden. Im Gegensatz aber wird es auch zum Prüfstein der Kraft des Einzelnen und unerbittlich treibt es die schwache hinein in seine allgemeinen Fluthen, sie verurtheilend zur Existenz in der Masse.

Jetzt, von dem Moment an, wo das Schicksal den Jüngling gleichsam an sich selbst verwies, mußte seine Kraft als Künstler und Mensch sich entwickeln seiner individuellen Natur gemäß.

Seiner künstlerischen Laufbahn drohten im Ganzen wenig Gefahren, seine musikalische Bildung war sicher fundirt, gediegen und vielseitig und seine Richtung auf das Edle und Hohe in der Kunst war entschieden. Alles schien sich hier verbunden zu haben ihn vor jeder Einseitigkeit zu bewahren. Schule und Leben hatten in schönster gegenseitiger Ergänzung sich die Hände gereicht, die verschiedensten Entwickelungsmomente, Theorie und Praxis, Haus und Podium, Einfachheit und Glanz waren zusammengetreten und hatten nicht im mäßigen Temposchritt eines Nacheinander, sondern alle im lebendigen Zugleich vom ersten Moment seiner Künstlerlaufbahn an diese gefördert und ihn über alle Hindernisse hinausgehoben. Schürzten sich auch unter der Decke die Knoten zu späteren Wirren, sein bisheriger künstlerischer Entwickelungsgang war ein selten begünstigter, einer, der mehr dramatisirtem Traume gleicht als der im Raume beengt und einseitig sich bewegenden Wirklichkeit. Unter solchen glücklichen Umständen kann es kaum wundern, daß der junge Liszt eine für seine Jahre merkwürdige künstlerische Reife besaß. Auch mittelmäßig Begabte würden unter ihrem fördernden Einfluß Hervorragendes geleistet haben – wenige aber würden unter den vervielfältigten Einwirkungen und dem zerstreuenden Leben so innerlich unbeirrt und ungeschädigt ihren Weg gegangen sein wie er. Das konnte nur eine so absolut musikalische Natur wie die seinige, eine Natur, die alle Eindrücke auflöste und umsetzte in Musik, eine Natur, deren Liebe zu letzterer so groß war, daß ihr gesammtes Fühlen und Denken, ihr ganzes Sein nur in ihr die Sprache finden konnte sich auszudrücken. Selbst in seinen Perioden religiöser Überschwänglichkeit, in welche während der Jahre jugendlich überströmenden Gefühls seine große Gottesliebe ihn führte, war es die Musik, durch die er die Gluthen seiner überfließenden, nach Gott dürstenden Seele ausathmete.

Die Doppeleinwirkungen von Kunst und Leben beirrten ihn[110] nicht. Und nicht nur das. Mit Entschiedenheit sprach sich in seiner Liebe zur Musik auch zugleich ein bestimmter Gehalt aus. In seinen Kinder-, in seinen Knabenjahren, immer war es der damals von den Nationen noch unverstandene Beethoven, der in seinem inneren Leben gleichsam eine unsichtbare Werkstatt aufgeschlagen hatte. Als er als elfjähriger Knabe vor die Öffentlichkeit trat und Beethoven's Kuß ihm die Weihe gegeben, da war die Grundlage seiner musikalischen Richtung bereits entschieden: die deutsche Tonkunst wurde zum Ausgangspunkt seiner Weiterentwickelung.

Als sein Vater starb, hatte er alle Zweige musikalischer Theorie und Praxis, die sich unter dem Ausdruck »künstlerische Schule und Bildung« rubriciren lassen, durchgearbeitet. Mit zwölf Jahren las er Partituren, sowie die schwierigsten Klavierstücke vom Blatt, mit vierzehn hatte er bereits schulgerecht, außer vielen Klaviersachen, eine Operette komponirt, mit sechzehn hatte er den doppelten Kontrapunkt absolvirt und als Virtuos stand er, bereits eine Berühmtheit, inmitten der Elite seiner Kunstgenossen.

Auch nach anderer, außerhalb dieses Kreises musikalischen Könnens sich bewegender Seite war er eine außergewöhnliche Erscheinung, insbesondere als Improvisator am Klavier. Hier schoß der junge Aar mit kühn gespannten Flügeln in das Reich der Phantasie und, so zickzacklinig oft sein Flug, nie verlor er den thematischen Kompaß! Zu improvisiren – dieses freie Aussprechen seiner selbst – war ihm von seinen Kinderjahren an immer das liebste geblieben und unwillkürlich mischte sich diese Neigung, so sehr sein Vater auch dagegen anging, in die Wiedergabe anderer Kompositionen, was oftmals nicht zu ihrem Vortheil gewesen sein mag. Aber hier, auf diesem Gebiet, lebte und webte der eigenartige Trieb seiner musikalischen Schaffensnatur, der nach ihm eigenen Wegen suchte. In seinen Improvisationen lagen die ersten Andeutungen aller der Umgestaltungen und Umwälzungen, welche sich dereinst durch ihn auf dem Gebiet der Instrumentalmusik vollziehen sollten.

Sein damaliges Klavierspiel als dasjenige Element, worin er als fertiger Künstler dem Bewußtsein der Öffentlichkeit angehörte, schildert uns einer der damaligen hervorragendsten musikalischen Kritiker zu Paris, der Franzose d'Ortigue, mit den Worten: »Die Manier seines Spiels war sehr ungestüm;[111] aber während der Strom einer trüben Begeisterung dahin brauste, sah man mittendurch von Zeit zu Zeit die Blitze des Genies und einige jener göttlichen Funken glänzen (d'Ortigue schrieb diese Zeilen 1834), die er heutzutage so verschwenderisch hinsprüht, goldene Sterne, möchte man sagen, die unaufhörlich aus einer ungeheuren Feuersbrunst aufsteigen. Aber so lange er bald den Forderungen seiner Lehrer bald den Launen des Publikums bald der Autorität seines Vaters unterworfen war, konnte sich seine Einbildungskraft nur verstohlen der eigenen Phantasie überlassen; bald führte eine zu ausschweifende Abweichung, bald ein zu ängstliches Nachtreten ihn zu Fehlern: er war nicht er selbst, alles war bei ihm erst Ahnung.«1

Dieses, mehrere Jahre nach der bis jetzt besprochenen Epoche, zur Zeit als Franz Liszt seiner ersten Triumphe als »Paganini des Klaviers« zu feiern begann, entworfene Bild charakterisirt das Spiel des jungen Virtuosen, der nicht mehr Knabe, noch nicht Jüngling seiner individuellen Ausarbeitung noch entgegen ging. Es giebt die Erklärung des »bald so – bald so« seines Spieles. Dieses war weniger, wie es in den Worten des französischen Schriftstellers liegt, das Resultat einer strengen Vormundschaft, als ein von der physischen und psychischen Entwickelung bedingtes Übergangsstadium.

Mit allen seinen künstlerischen Zielen war Franz Liszt nun für immer auf sich selbst angewiesen. Hier aber mußten bald gegen früher die Veränderungen sich zeigen, welche der Tod seines Vaters hervor rief. Die Tagesfrage trat in den Vordergrund. Die Beschaffung der Existenzmittel, bisher ein Ergebnis seines Koncertirens, jetzt durch Lektioniren zu erringen, vertrat weiteren künstlerischen Zielen den Weg. Sie mußten der Zeit überlassen bleiben, sowie dem Würfel, welchen das Genie in sie hineinwirft.

Daß er zur Lehrthätigkeit sich wandte, lag in den gegenwärtigen Verhältnissen; denn bei der Jugend, in der er stand, läßt sich, obwohl er bald eine seltene Begabung hier dokumentirte, kaum annehmen, daß eine specifische Neigung ihn zu derselben bestimmt habe. Die Verhältnisse wiesen ihn an sie. Der Tod seines Vaters hatte ein ferneres Koncertiren zur Zeit unmöglich gemacht. Er war zu jung, um allein zu reisen, auch für geschäftliche Dinge zu theilnamlos, um sie selbst zu übernehmen, oder[112] ausgeführt durch einen Geschäftsmann, überschauen zu können. Auch war die Virtuosenlaufbahn nicht das Ziel der Pläne seines Vaters gewesen; sie war, bedingt durch die äußere Lage, nur gelegentlich und sollte vorübergehend sein wie seiner Zeit bei Mozart. Das bewußte planmäßige Lossteuern aber nach einem Punkt war vorbei und die Tagesordnung, sowie die regelmäßige Arbeit zur eigenen Ausbildung mußten der Lebensfrage weichen.

Wie nach künstlerischer Seite, war der junge Liszt auch nach menschlicher – insbesondere mit seinen Gewohnheiten – auf sich selbst angewiesen. Hier mit größerem Nachtheil. Er stand wohl unter der Obhut seiner Mutter, auch besaß letztere einen großen Einfluß auf ihn, aber dieser konnte weder die feste leitende Vaterhand ersetzen noch die Erfahrung und Weltklugheit des Mannes. Ihr Einfluß bestand in dem großen Liebesquell ihres Herzens, in ihrem nie wankenden Vertrauen zu ihm, in der untrübbaren Reinheit ihrer Gesinnung, mit welcher sie das Leben betrachtete, beurtheilte, liebte und trug. Es war der Einfluß der Sympathie, deren Gleichheit der Gefühle dem Herzen wohlthut und es beruhigt, was Mutter und Sohn innig verband. Mit großer Zärtlichkeit hing er an ihr. Ihre liebende Sorgfalt um ihn verdoppelte die seine um sie. Rührend war die Sorglichkeit, mit der er sie umgab, rührend die feinen Rücksichten, die er gegen sie übte, die zarten Aufmerksamkeiten, die er stillschweigend ihr erwies. So hatte er, um ein Beispiel zu geben, sich mehrmals in jener Zeit mit dem Nachhausekommen verspätet. Er wußte, daß seine Mutter bereits schlief. Und so setzte er sich, um ihre Ruhe nicht zu stören, auf die Treppe, wo er einschlief und man ihn andern Morgens fand. Das war, wie seine Mutter erzählt, mehrmals der Fall, trotz des harten Lagers und der unbequemen Stellung.

Die mit inniger Liebe gepaarten Pflichten für seine Mutter reiften bei ihm frühzeitig die Tugenden, wel che dem Mann im Auge der Frauen die anziehendste Schönheit verleihen: die ritterliche Tugend des Beschützens und die auf Feinheit und Zartheit des Benehmens sich gründende Tugend der Rücksicht.

Die Einflüsse Madame Liszt's lagen auf der Seite des Gemüths. Bezüglich der zweckmäßigen Tages- und Zeiteintheilung, welcher so vielfach die Lebensgewohnheiten entspringen, blieb ihr Sohn sich selbst überlassen. Hier aber ermangelte er vollständig einer erfahrenen und regelnden Hand. Es lag nicht in ihm[113] systematisch einzutheilen; auch war er durch die bisherige Leitung seines Vaters hierin ungeübt. Seine Tageseintheilung ward in Folge dessen eine mehr zufällige, dem Moment und der Stimmung entspringende. Einen Tag spielte er Klavier und einen andern nicht, einmal des Morgens und ein andermal des Nachts, wie es die Stimmung mit sich brachte.

Sein Lektioniren war keiner besseren Ordnung unterworfen; er band sich an keine Zeit. Heute kurz, morgen lang, war die Dauer seiner Unterrichtsstunden nur abhängig von den augenblicklichen Bedürfnissen. Er erschien oft zu früh, oft zu spät, ein drittes Mal mußte die Stunde ganz ausfallen. Ungünstig wirkten die weiten Wege, die er meist zu machen hatte. Oftmals, um diesen Unannehmlichkeiten nicht zwei Mal des Tages ausgesetzt zu sein, brachte er Zwischenstunden bei Freunden zu. Kam die Mittagszeit, ging er nicht selten in ein an seinem Wege liegendes Café, anstatt eine Restauration aufzusuchen. Nicht selten kam er des Abends nach Hause, ohne zu Mittag etwas Konsistentes genossen zu haben. Inzwischen aber hatte seine Mutter auf ihn gewartet und die Speisen waren ungenießbar geworden. Bis wieder solche zubereitet waren, mußte dann ein Glas Grog oder Wein der Ermattung steuern und dem Übermüdeten eine Erquickung bieten.

Das waren alles Unregelmäßigkeiten, die wohl mit in den Verhältnissen lagen, aber weder auf sein physisches Wohlbefinden, noch auf geordnete Gewohnheiten günstig einwirken konnten. Unwillkürlich mußte bei dieser Lebensart die Stimmung des Moments einen großen Spielraum gewinnen. Trat hieraus auch noch kein sichtbares Übel hervor, so wurde doch der leicht erregbaren, auf Stimmung und Phantasie angelegten Natur des jungen Künstlers auch da, wo nicht unmittelbar seine Kunst betroffen war, Vorschub geleistet und der ethische Wille gewissermaßen in das Reich der Stimmung versetzt.

Es war ein Glück, daß seine Natur eine edle und seine Stimmungen solche waren, welche sich durch sich selbst zum Schönen steigerten. Hierbei fiel auf seine religiösen Gefühle ein wesentlicher Antheil. Hier lag der Schutz gegenüber den vielen Gefahren, an welchen der bis jetzt sorgfältig Gehütete tagtäglich vorüberschritt.[114]

Fußnoten

1 Gazette musicale de Paris. 1834.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 103-115.
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