II.

Passionsblumen.

(Paris 1828–1830.)

[115] Erste Liebe. Entsagung. Abermalige ausschließliche Hingabe an seine religiösen Gefühle. – Christian Urhan. W. von Lenz. K. M von Weber's Musik. Liszt erkrankt. Man sagt ihn todt. Todesanzeige im »Etoile«. Beschreibung seiner äußeren Erscheinung nach W. von Lenz.


Der erste Sturm seines Lebens hatte dem kaum siebzehnjährigen Jüngling eine Mannesaufgabe auf die Schultern gelegt. Ein Moment, eine Nacht war hinreichend gewesen ihn zu männlichem Entschluß, zu männlicher That zu rufen.

Nichtsdestoweniger lag sein Geistes- wie sein Gefühlsleben noch im Schlummer der Gebundenheit. Nur der Schmerz hatte sich entfesselt – gewaltsam, überwältigend! Die Sehnsucht – die Gottessehnsucht, welche ihn vordem ergriffen, hatte wohl auch auf Gefühle hingedeutet, die dem Schlummer der Seele entfliehen, aber der Frühling, der als Herzensfrühling alle verborgenen Keime der inneren Welt zum Sprossen und Knospen treibt, der lag noch vor ihm.

Und dieser Frühling kam, ohne daß er sein gewahr ward – nur an den Passionsblumen, die er ihm trieb, empfand er, daß der Lenz Einzug bei ihm gehalten. Die Musik war es, die ihm die Thüre geöffnet.

Karoline, die junge Gräfin Saint Criq, gehörte zu den jungfräulichen Erscheinungen, welche mehr an den Himmel als an die Erde gemahnen. Siebzehn Jahre alt stand sie noch inmitten inneren Erblühens. Von schlanker Gestalt, engelhafter Schönheit und lilienhafter Reine war sie zugleich talentvoll, regen und für alles Schöne empfänglichen, dabei tief religiösen Geistes – eine durchaus[115] seelisch besaitete Natur. In ihrer Seele lag ihr Gedanke, ihr Wille, in ihr dehnten sie sich aus zum Schönen, zur Welt, zum kirchlichen Kultus, zu Gott.

Sie war die Tochter des Grafen Saint Crig, Ministers des Innern, eines Mannes der Welt und Aristokraten, der mit allen Fasern seines Denkens aus den Traditionen des Adels hervorgegangen war. Dem legitimen Königshaus ergeben, von nüchterner Auffassung und excentrisch im Handeln war er unter demrégime Karl's IX. für seinen Posten wie geschaffen und dabei so eifrig und exklusiv in seinen Geschäften, daß alle anderen Interessen des Lebens diesen weichen mußten. Die Angelegenheiten der Familie und des Hauses blieben darum ausschließlich in den Händen seiner Gemahlin, deren zartes Wesen, Anschauungen und Sympathien den seinigen sehr entgegengesetzt waren. Das Leben hatte sie durch eine Leidensschule geführt und ihre Neigung zu geistigen Gütern vertieft und veredelt. Mehrere Söhne, die sie dem Grafen geboren, waren letzterem ähnlich, ihre einzige Tochter – das jüngste ihrer Kinder – ihr.

Von ihrer Mutter – sie war Katholikin – hatte Karoline die religiöse Gläubigkeit, den feinen ästhetischen Sinn und eine große Liebe zur Musik. Ihren aufblühenden Anlagen ward die sorgfältigste Erziehung. Und als der junge Liszt nach seines Vaters Tod sich nach Paris gewandt, um durch Lehrthätigkeit eine Existenz für seine Mutter und sich zu gewinnen, gehörte die Frau Gräfin Saint Crig zu den ersten der aristokratischen Damen, welche dem jugendlichen Informator die musikalische Ausbildung ihrer Töchter übergaben.

Meist mit in dem Zimmer sitzend, in welchem der Unterricht ertheilt wurde, folgte sie demselben mit Aufmerksamkeit, wobei das edle Wesen des Jünglings ihr ein immer tiefer werdendes Interesse einflößte und ihr mütterliches Wohlwollen ihm gewann. Sie unterhielt sich gern mit ihm und liebte es während des Unterrichtes Bemerkungen hinzuwerfen, die ihn zur Entwickelung seiner Auffassung und Ideen herausforderten. Mit Überraschung folgte sie dann seiner Rede, welche in Worte zu übersetzen suchte, was seine Finger stets so unmittelbar zu finden und auszudrücken wußten, wobei er sich in kühnen Bildern erging, die getränkt waren mit glühend religiösem Empfinden, zu welchem sein Kunstfühlen hindrängte wie das Herz des Gläubigen zum Hochaltar.[116]

Sie zog dann ihren Stuhl näher an das Klavier und sah mit mütterlicher Genugthuung, wie die Unterweisungen und Anregungen des genialen Jünglings von Karoline verstanden und freudig aufgenommen wurden, wie sie dem Fluge seiner Phantasie zu folgen wußte und seine künstlerischen Auffassungen und Deutungen gleichsam von Seele und Auge ihm las.

Und in der That! ein tief verwandtschaftlicher Zug lag in der Richtung der beiden jugendlichen Gemüther, der durch die Musik sich ihnen fühlbar machte und sie unter den Zauber der Liebe stellte, ohne daß sie an sie gedacht, und ohne daß die Innigkeit ihrer Gefühle eine andere Sprache als die der Musik gefunden. Unerfahrenen Herzens spielten sie ein magisches Spiel, dessen reine Klänge ihnen das Leben so schön und wonnig erscheinen machten.

Die Mutter Karolinens, eine ebenso edel- wie feinsinnige Frau, sah wohl mit dem spirituellen Auge des Frauenherzens die zarte Neigung, welche zwischen beiden aufzusprossen begann. Aber der Reinheit und des Adels ihrer Herzen sicher wachte sie zartsinnig über dem Hauch der ersten knospenden Rose.

Dieser Schutz sollte jedoch nicht lange währen. Die Leiden, welche bisher schon eine häufige Heimsuchung gewesen waren, mehrten sich plötzlich so sehr, daß die Besorgnisse um das Leben der edlen Frau nur zu gegründet waren. Sie selbst fühlte, daß ihre Tage, ja ihre Stunden gezählt seien und ihr Heimgang nahe. Obwohl sie schon längst mit dem Gedanken des Scheidens vertraut war, so lag er jetzt doch schwer auf ihr, um ihres geliebten Kindes willen, das ihr das Glück ihres Lebens geworden und an dem sie mit jener Fülle und Zärtlichkeit eines sorgenden Mutterherzens hing, das noch über den Tod hinaus alle Sonnenstrahlen des Himmels und der Erde auf des Lieblings Haupt sich ergießen sehen möchte.

Karoline glücklich zu machen und glücklich zu wissen war noch ihr einziges Verlangen. Und mit einem Herzen und einem Blick, der irdischen Fesseln bereits entledigt, ohne Vorurtheil und ohne Berechnung der Welt, besprach sie mit ihrem Gatten die Zukunft ihres Kindes. Sie verschwieg ihm nicht, was sie in dem Herzen ihrer Tochter gelesen, nicht die Gedanken, die sie im Stillen daran geknüpft, und indem sie ihm betonte, wie das Wesen beider für einander geschaffen zu sein schien, gipfelte sich ihre Mutterliebe, sowie ihr Vertrauen zu dem Seelenadel des Jünglings in dem Wort: »Wenn sie ihn liebt, laß sie glück lich werden«.[117]

Der Graf Saint Crig verlor keines ihrer Worte, nahm sie jedoch mehr für die Phantasie einer Kranken als für das Vermächtnis einer Sterbenden und vergaß sie eben so schnell, wie sie ihm überraschend gekommen waren. –

Durch die Erkrankung und den ihr bald folgenden Tod der Gräfin war der Musikunterricht unterbrochen worden und der junge Künstler nur in das Hôtel des Grafen gekommen, um Nachricht über das Befinden seiner Gönnerin sich zu erbitten. Während dieser ganzen Zeit hatte er Karoline nicht gesehen und erst, als die Bestattung und die ersten Trauertage vorüber waren und die musikalischen Lektionen wieder aufgenommen wurden, sah er sie wieder. Die erste Begegnung ward für beide eine tief ergreifende. Als ihm Karoline in Trauergewänder gehüllt, ihr holdes Gesicht schmerzlich bewegt, entgegentrat, ergriff ihn eine unbeschreibliche Erregung. Die Erinnerung an seinen Vater, an die Schrecknisse, die an seinem Todeslager über ihn hereingebrochen, an den Schmerz, den sein Verlust ihm erpreßt, an die Vereinsamung, die er empfunden – alle diese Erlebnisse traten übermannend vor seine Seele und lähmten ihm die Zunge. Lautlos setzte er sich an das Klavier zu seiner Schülerin, um in gewohnter Weise den Unterricht zu beginnen. Wie nun aber die Harmonien erklangen, da brach seine Fassung, sein Schmerz löste sich und rief den ihren mit erneuter Gewalt hervor – beider Hände lagen ineinander und beide weinten bitterlich.

Aber auch jetzt kam kein Bewußtsein ihrer Empfindung über sie und kein Gedanke an Liebe störte den Einklang ihrer Gefühle. Doch in diesem Moment hatte sich innerlich ein in ihr beiderseitiges Leben eingreifendes Bündnis vollzogen. –

Keine Lektionen gab Liszt so gern wie die im Saint Crig'schen Hause, keine währten so lange wie diese, keine anderen auch erlitten so wenig Störung wie sie. Die Verhältnisse und Gewohnheiten des Grafen Saint Crig brachten es mit sich, daß er wenig zu Hause war, namentlich jetzt, wo der Trauerflor seine Salons geschlossen hielt. Karoline war in Folge dessen sich viel selbst überlassen und in ihrer Einsamkeit flüchtete sie sich mehr und mehr zur Musik, von deren Pflege sie durch keine gesellschaftlichen Pflichten und Störungen abgehalten wurde.

Hierin lag es, daß beide häufiger und auch ungestörter miteinander[118] musiciren konnten, als es wohl unter anderen Verhältnissen der Fall gewesen wäre.

Es blieb aber nicht nur beim Musiciren. Wie zu Lebzeiten der verstorbenen Gräfin führten Bemerkungen und Erklärungen zum Gespräch, das mehr und mehr zu einem gegenseitigen Austausch der Gedanken wurde und sie bald auf das Gebiet der Litteratur, bald auf das der Religion führte. Sie entdeckten bald, daß ihre Gleichstimmung nicht nur eine musikalische war. In der inneren Hinneigung zur Religion, in der Auffassung des Lebens und der Lebensziele, ja sogar in einem Theil ihrer Lieblingslektüre trafen sie zusammen. Das waren Entdeckungen, bei denen jedesmal beide jugendliche Herzen in reinem Glück erstrahlten und immer freudiger einander sich erschlossen.

Liszt's Lektüre hatte sich bis jetzt nur auf Bücher religiösen Inhalts beschränkt. Die junge Gräfin dagegen pflegte auch anderer. Bewandert in der Litteratur war sie ihm hier weit überlegen. Wie für die Musik, so voll Liebe für die Poesie machte sie in dem Drang ihres Herzens ihren jungen Freund mit ihren Lieblingsdichtern bekannt, indem sie ihm Stellen aus ihnen sowohl vorlas als recitirte. Ein Wetteifer entbrannte. Bald hatte er, bald sie ein Gedicht, einen Gedanken gefunden, die ihnen besonders schön und vielsagend erschienen und sie darum zu längerem Verweilen aufforderten. So verschwanden die Stunden, manchmal ein ganzer Abend – sie bemerkten es kaum. Eiligen Schrittes wandte er sich dann seiner Wohnung zu, wobei es sich einige Mal ereignete, daß bereits Ruhe im Hause herrschte und seine Mutter ihr Licht schon gelöscht hatte. In dieser Zeit war es, wo er aus liebevoller Rücksicht für ihren Schlummer sich auf die Treppe setzte und mit diesem harten Lager sich die ganze Nacht begnügte.

Auf diese Weise vergingen mehrere Monate. Fast täglich sahen sich die Liebenden, lasen und musicirten zusammen. Ein Tag aber kam, der ihrem unschuldsvollen Glück ein Ende machen sollte.

Sie hatten bis in die Nacht geplaudert und gelesen und hingerissen von dem Zauber der Unterhaltung die Zeit nicht gemessen, bis der Jüngling seine Verspätung gewahr werdend schleunigst aufbrach. Unten an der Treppe fand er das Haus bereits geschlossen und war dadurch gezwungen die Thür vom Portier öffnen zu lassen, was dieser schlaftrunken und knurrig that. Unbekannt[119] mit Kavaliersgewohnheiten und ihren Pflichten wußte er nicht, daß das Knurren eines Portiers mit einem Fünffrankenstück begütigt wird, und arglos wünschte er ihm gute Nacht. Andern Morgens meldete der Portier seinem Herrn, daß der junge Künstler bis Mitternacht im Salon der jungen Gräfin Gesellschaft geleistet.

Nun erinnerte sich wohl der Graf der Worte seiner sterbenden Gattin, aber auch jetzt erschienen sie ihm nicht anders als damals. Abgesehen davon, daß Liszt selbst für die in Frankreich üblichen Gewohnheiten, welche die in sehr jugendlichem Alter geschlossenen Verlobungen begünstigten, noch zu jung war, so konnte es ihm auch bei den herrschenden Standesansichten nicht in den Sinn kommen seine Tochter einem Pianisten zur Frau zu geben. Dieses wäre damals in den Augen der höheren Gesellschaft noch ein Unerhörtes und Unmögliches gewesen. Inwieweit aber solche Ansichten berechtigt und inwieweit sie Vorurtheile seien, darüber nachzudenken ließen die Geschäfte des Ministeriums dem Grafen Saint Crig, dem noch dazu ein Nachdenken über gesellschaftliche Probleme ganz fern lag, keine Zeit. Sein Thun und Lassen fand sein Regulativ in den allgemein giltigen Ansichten und Principien seines Standes – das einzige, das für ihn existirte und ihm auch Liszt und seiner Tochter gegenüber Norm war.

Als einige Tage nach dem verhängnisschweren Abend Franz Liszt wieder im Saint-Crig'schen Hôtel erschien, meldete ihm der Portier, daß der Herr Graf ihn zu sprechen wünsche. Freundlich empfing dieser den Ahnungslosen und mit der Gewandtheit des Weltmannes machte er ihn auf die unangenehmen Folgen aufmerksam, die möglicherweise für ihn aus einem sich fortsetzenden Verkehr mit seiner Tochter entspringen könnten. Er deutete ihm auch an, daß nähere Beziehungen, schon der Standesverschiedenheit wegen, sich von selbst verbieten würden. »Ich halte es darum für das richtigste, schloß der Graf seine Rede, vorläufig die musikalischen Lektionen einzustellen.«

Bestürzt hörte der Jüngling ihn an. Gedanken wie die so eben ausgesprochenen waren noch nicht in seinem Innern aufgestiegen. Jedoch in diesem Moment kam es ihm zum Bewußtsein, daß er Karoline liebe und daß sie ihm verloren sei. Eine Fluth von Empfindungen stürzte über ihn herein, sein Herz schien still zu stehen, sein Athem zu verlöschen und er zusammenzubrechen unter ihrer Gewalt – nur einen Moment! Sein Stolz[120] warf die Wogen zurück und seine zarte Jünglingsgestalt schien zu wachsen, Todesblässe auf dem Antlitz stand er vor dem Grafen. Doch kein Ausbruch leidenschaftlicher Erregung kam. Stillschweigend reichte er ihm die Hand – im Herzen das Wort der Entsagung. Die noch unentfesselte Leidenschaft hatte nicht seinen Blick für das Vernünftige getrübt und die Auseinandersetzungen und Forderungen des Grafen däuchten ihm korrekt.

An jenem Abend war es das letzte Mal, daß er Karoline sah; sein gekränkter Stolz vermied jede Begegnung. Und so waren zwei Seelen, die durch ihre innerste Geistesstimmung für einander bestimmt zu sein schienen, getrennt für immer.

Schwer trugen beide in der Zukunft an dieser Trennung. Schwer trug sie – ein langes Leben; schwerer er, dessen Genie ihn in die Brandungen des Lebens stellte, ohne das tiefsympathische Weib zur Seite, dessen reiner Sinn die wilden Wogen dieser Brandungen zu den Füßen geläuterter Idealität trieb.

Er vergrub sich vor den Augen der Welt. Ihm war, als hätte er eine Beschämung erlitten. Liebe und Stolz, Sehnsucht und Pflichtgefühl rangen und kämpften einen schmerzvollen Kampf.

Und wieder war es die Religion, zu der er flüchtete. Er legte sich an seines Gottes Herz, Ruhe und den Sieg über sich hier suchend. In seiner Weltflucht ergriffen ihn von neuem die religiösen Gluthen wie schon vor dem Tode seines Vaters, jedoch in einem viel höheren Grade. Er verlor sich vollständig an die Mysterien der Religion und beugte – wie er zehn Jahre später schrieb1 – seine brennende Stirn über die feuchten Stufen von St. Vincent de Paul, brachte sein Herz zum Bluten und seine Gedanken zum Fußfall. »Ein Frauenbild – schrieb er – keusch und rein wie der Alabaster heiliger Gefäße war die Hostie, die ich unter Thränen dem Gott der Christen darbot. Entsagung alles Irdischen war der einzige Hebel, das einzige Wort jener Tage.«

Aber nicht nur er, auch Karoline litt schwer. Ein langes Krankenlager war die nächste Folge ihrer Trennung. Und als sie dem Leben zurückgegeben, war ihr Sinn der Welt erstorben und ihr wundes Herz sehnte sich nach dem heilenden Balsam klösterlicher Stille. Sie wollte dem Irdischen entsagen und den Schleier[121] nehmen. Allein ihr Vater drang in sie sich zu vermählen und führte ihr einen Standesgenossen zu, den er zum Eidam wünschte. Dieser, Monsieur d'Artigau, war ein Mann, dem die höheren Eigenschaften des Geistes und des Gemüthes fehlten und dessen Sinn sich auf nur materiellem Boden bewegte. Er war Landwirth und besaß ein Gut in der Nähe von Pau, das er selbst, nicht nur mit Vorliebe, sondern mit ausschließlichem Interesse bewirthschaftete.

Vom Vater gedrängt diesen Mann als Gatten zu nehmen rang Karoline lange mit sich, bis religiöser Opfermuth und Pflichtgefühl über ihre Abneigung siegten und sie ihres Vaters Wünsche erfüllte. Sie ward Monsieur d'Artigau's Gattin, aber das Bild Liszt's erlosch nie in ihrem Herzen, und das Wort ihrer sterbenden Mutter, welches ihr nicht verborgen geblieben, wurde ihr ein Krucifix, das sie auf das Grab ihrer Liebe pflanzte und mit hinübernahm in ihre Ehe. In einem kühlen Nebeneinander ging sie mit ihrem Gatten den gemeinsamen Lebensweg. Ihre Herzensempfindungen zeigten zurück in die Vergangenheit, er kannte sie nur als eine kalte vornehme Frau. Bis zu Karolinen's Todesstunde blieben ihre sympathischen und geistigen Beziehungen zu dem Manne ihrer ersten Liebe ungeschwächt, selbst dann, als sie seine Wege nicht mehr in allem billigen konnte. – Noch einmal sollten sich, wie sich später zeigen wird, diese Beziehungen persönlich knüpfen.

Auch Liszt vergaß sie nie. Er trug die Erinnerung an sie zu allen Zeiten wie ein Muttergottesbild im Herzen. Sie gab ihm ein Ideal der Weiblichkeit, das in seinem Innern viele Jahre hindurch in Kraft blieb und seine leidenschaftliche Natur trotz des Lebens in Paris und trotz der Versuchungen, die in allen Formen an ihn traten, unentfesselt ließ.

Trübe Zeiten waren über die kleine Familie in der Rue Montholon hereingebrochen. Der Sohn floh das Leben und der Mutter Augen waren stets feucht von Thränen. Er floh es – er suchte die Einsamkeit, daß sie mit stillem Trost ihn umfange. Hier konnte er dem Gebet sich in die Arme werfen, hier ungestört das Feuer brennen lassen, dessen Flammen gottsehnsüchtig gen Himmel schlugen. Immer öder schien ihm die Welt und leerer, nur Gott dienen war sein Gedanke. Sein noch im Werden begriffener Geist, sein jugendliches Auge, das Übermaß[122] seiner Empfindung suchten nach dem Gefäß, in das seine Seele sich läuternd ergießen könne. Seine Hand hob sich und griff nach Hostie und Kelch, um als Geweihter Allen die Liebe zu spenden, die in unendlicher Fülle seine Brust bewegte. Nicht die Künstlerlaufbahn: der Priesterstand däuchte ihm das erlösende Werk vollbringen zu können.

Wie aber einst sein Vater, so trat jetzt seine Mutter zwischen ihn und seinen Wunsch. Konnte sie auch nicht wie ihr verstorbener Gatte ihm mit Entschiedenheit entgegen treten und ihm mit Worten klar machen, daß sein Beruf die Musik sei und er der Welt gehöre, so hatte sie doch andere Argumente, Argumente des mütterlichen Gefühls, die ihre Wirkung auf das zärtliche Herz des Sohnes nicht verfehlten. Ihre Abneigung gegen das Ordenswesen floß zusammen mit den Thränen des Schmerzes den einzigen Sohn verlieren zu sollen. Diese Thränen konnte Liszt nicht ertragen, der Mutter Kummer drückte ihn nieder. »Du sollst Vater und Mutter ehren« mahnte es wieder in ihm und wie einst unter die väterliche Autorität, so beugte er jetzt unter die Thränen der Mutter seine Wünsche, sein Sehnen, sein Verlangen. Sein Beichtvater, dem er hierbei sein Herz eröffnete, stand auf seiner Mutter Seite und nannte seine höhere Vokation die künstlerische.

So hatte der Jüngling abermals das Verlangen seiner Seele unter das vierte Gebot gestellt. Doch konnte auch jetzt seine Entsagung die aufgeregten Wogen seines religiösen Gefühls nicht zurückrufen zu ruhigem Lauf. Sie schwollen höher und höher. Und täglich erneute er in seinem Herzen das Gelöbnis Gott zu dienen, täglich reinigte er seine Seele in Gebet, in heiliger Inbrunst, in Gottesschauern. Ein traumhaft mystischer Hauch breitete sich über sein Wesen und mischte sich mit dem angestammten Feuer seiner Seele.

In solchen Momenten war Musik die einzige Sprache seines Innern. Wie einst David mit Harfenklang seinen Gott zu sich herunter beschwor, so schwang der Jüngling im Strom der Harmonien sich hinauf in das Reich der Überirdischen. Dann kam ihm der Gedanke Kirchenkomponist zu werden – »laus tibi Domine«, wie er schon als Knabe gesungen. Da aber die Kirchenmusik, welche er bis jetzt kennen gelernt, der Inbrunst seiner religiösen Gefühle nicht entsprach, träumte er davon, eine »heilige Musik«[123] selbst zu schaffen,2 die alles das ausspräche, was er so heiß im Herzen trug und doch in der bisherigen Kirchenmusik nicht finden konnte.

In dieser Zeit hatte der Jüngling einen Freund gewonnen, der die mystischen Verzückungen seiner Seele verstand und mitempfand. Dieser Freund war Christian Urhan, ein tüchtiger und vielseitig gebildeter Künstler, der bedeutend älter als Liszt durch sein originelles und geheimnisvolles Wesen, durch seine religiöse Schwärmerei und asketische Richtung eine lebhafte Anziehungskraft auf ihn ausübte und seinem musikalisch-religiösen Träumen Nahrung gab.

Christian Urhan war 1790 in Montjoie bei Aachen geboren3 und als Musiker erzogen. Als angehender Jüngling hatte er das Glück das Interesse der Kaiserin Josephine zu gewinnen, welche ihm in Paris bei Jean François Lesueur eine höhere musikalische Ausbildung geben ließ. Zu der Zeit sympathischen Verkehrs mit Liszt war er Violinist an der großen Oper und bekleidetete zugleich die Stelle als Organist an Saint Vincent de Paul. Sein Lieblingsinstrument war aber weder Violine noch Orgel, sondern die außerordentlich schwer zu behandelnde Viola d'amour,4 ein Instrument, das durch die Klänge, die ihm entlockt werden können, durch die lang fort- und ausklingenden Akkorde und Arpeggien, zu welchen es sich vorzugsweise eignet, durch seinen sanften melancholischen Timbre mehr als jedes andere zu geheimnisvoll-romantischem Träumen reizt – und das war die Seite, die Urhan mit Vorliebe ergriff und kultivirte. Er hatte förmlich eine Leidenschaft für die seraphischen Klänge, die sich diesem Instrument entlocken ließen und die nur er ihm entlocken konnte. Katholischer Christ, religiöser Schwärmer und Mystiker verschmolz er seine religiöse Richtung mit diesen[124] Klängen, welche ihm Geister waren, mit denen er mystische Zwiesprache hielt. Urhan war nicht nur Meister auf der Viola d'amour, er war hier auch schöpferisch. Das nächtliche Flüstern mit seinen Geistern ließ ihn Harmonien von wunderbarer, überirdischer Färbung finden und Laute religiöser Verzückung reden.

Kein Wunder, daß sein Viola d'amour-Spiel in Paris Aufsehen erregte und man die neuen Effekte, welche er seinem Instrument, das noch dazu kein Pariser Musiker zu spielen wußte, abgewann, auch im Koncertsaal hören wollte. In den französischen Koncertberichten der dreißiger Jahre begegnet man häufig seinem Namen, meistens in Zusammenhang mit dem musikalisch-französischen Romantiker Hektor Berlioz, welcher damals in Paris eine neue musikalische Ära, der sich auch der romantische Urhan anschloß, anbahnte. Obwohl beide grundverschieden, wurden sie dennoch als »in innigem Einklang stehend« aufgefaßt. »Was Berlioz im satanischen Reich«, hieß es, »ist Urhan im Reiche der Engel. – Berlioz giebt nie sein Maifest5, ohne daß Urhan daneben seine Äolsharfen, begleitet von Engelsthränen, hören läßt.«6

Der melancholische Timbre der Viola d'amour, die eigenthümlichen Reize, welche Urhan's Spiel ihr gab und entlockte, wußte auch der sich für seine Opern keinen Effekt entgehen lassende Meyerbeer zu würdigen. Die Viola d'amour-Partie der Romanze des Raoul im ersten Akt der Hugenotten – wohl die erste einer Opernpartitur – hat Meyerbeer für Urhan komponirt.

Wie als Künstler kannte man Urhan aber auch als Sonderling und seine mystische Richtung als Musiker war so wenig unbekannt, wie die als Christ. Man wußte in ganz Paris, daß er den Versuchungen, welchen er durch seine Thätigkeit als Geiger an der Oper ausgesetzt war, zu entgehen suchte; man wußte, daß, obwohl er bei jedem Ballett der großen Oper an seinem Geigenpult stand, sein Auge niemals ein Ballett erblickt: er hielt es, so lange eine Vorstellung währte, gesenkt.[125]

Das war der Musiker, mit welchem der junge Liszt mit Vorliebe verkehrte. Der romantische Mysticismus Urhan's, ebenso seine mit ihm verbundene musikalische Richtung waren dem gegenwärtigen Zustand seines Gemüths und seiner Phantasie entsprechend und darum sympathisch. Verwandte Saiten erklangen in ihm hier und dort. Die seraphischen, einer andern Welt zu entschweben scheinenden Klänge und Arpeggien Urhan's klangen gleichsam aus seinen eigenen Stimmungen heraus und, was er am Klavier selbst geträumt, trat ausgesprochen durch jenes Instrument noch spiritualistischer ihm entgegen. In dieser gemeinschaftlichen Neigung für das überirdisch Klingende haben sich beide gegenseitig gesteigert, nur daß bei Liszt, dem Genie, diese nicht frei von ungesundem Romanticismus auftretende Neigung sich mit der Zeit in den reinen Äther geklärt religiöser Stimmung erhob, während sie bei Urhan, dem Talent, den Nebel mystischen Träumens unüberwunden ließ. Liszt's religiös verklärte Harmonien späterer Lebensperioden fanden in dieser, wo die göttliche Liebe seine irdische überwand, ihren Ursprung. Sie sind den Mysterien des Schmerzes und der himmlischen Sehnsucht entsprungen.

Urhan war jedoch nicht nur ausübender Musiker, er war auch Komponist und nahm lebhaft Theil an Principienfragen der Kunst. Wie seine Gemüthsrichtung war sein Phantasie- und Denkleben romantisch und so entwickelte er hier im Anschluß an seine Zeit Ansichten, welche frei waren von dem der klassischen Schule angehörenden Formzwang und aus den Gährungen schöpften, die in jenen Tagen auf allen geistigen Gebieten hervortraten und auf dem der Kunst Principien hervorriefen, welche der fortschreitenden Kunst im Gegensatz zu der nur konservativen, neue Wege suchten. Seine Kompositionen7 nannte Urhan »Auditions«, eine Bezeichnung, die ebenso wie manche ihrer Überschriften, wie z.B. »Elle et moi«, »La salutation angélique«, »Les regrets«, »Les lettres« und andere, auf seine subjektive und romantische Geistesrichtung hindeutet. Seine Ansichten über die Musik, hinter welchen, so frei sie waren, immer seine religiöse Richtung hindurch[126] sah und sie leitete, machten den jungen Liszt mit den aufkeimenden Ideen einer neuen Kunstepoche vertraut, Ideen, die wohl noch hinter dem Schleier der Ahnung wirkten, aber mit des Jünglings Ahnen und Träumen über eine von ihm zu schaffende »heilige Musik« übereinstimmten. So ward Urhan der Freund, gegen den er zwanglos seine Gefühle und Gedanken ausströmen lassen konnte, von dem er verstanden wurde als katholischer Christ und als Künstler, wobei der Mysticismus des älteren Mannes ihn sympathisch berührte, ihn aber auch in der Überschwänglichkeit seines gegenwärtigen Gefühlszustandes bestärkte.

In jener Zeit brachte Liszt die meisten Stunden des Tages in den Kirchen zu. Und mancher Freund und Fremde, welcher kam, um den jugendlichen und doch so berühmten Künstler zu besuchen, mußte von Madame Liszt abgewiesen werden, weil ihr Sohn in der Kirche sei. Da sei er fast immer und beschäftige sich überhaupt gar nicht mehr mit Musik, soll sie auch manchmal hinzugesetzt haben8.

Letzteres war jedoch nicht so; er trat sogar, wenn auch äußerst selten, öffentlich auf, wie aus einer Koncertanzeige von damals, nach welcher er in einem Extrakoncert des Konservatoriums Beethoven's Esdur-Koncert spielte, zu ersehen ist. Im allgemeinen nur schien es für die weltliche Musik stumm und lautlos in ihm. Und doch, wenn hier eine besondere Anregung ihm entgegen trat, da wurde sein Inneres für sie lebendig und die eingeborenen Funken blitzten und sprühten!

Hiervon erzählt W. von Lenz, der spätere russische Staatsrath und Beethoven-Biograph, welcher zu jener Zeit in Paris studirte und Liszt – es war im Herbst 1828 – mit einigen Klavierkompositionen Karl Maria von Weber's, welche diesem bis dahin fremd geblieben waren, bekannt machte. Weber's Musik war wohl schon bis nach Paris gedrungen, wenn auch nur in der durch Castil-Blaze und Sauvage verstümmelten Gestalt des »Freischütz«, welcher von diesen Herren, die ihn für die pariser Bühne zugerichtet hatten, »Le Robin des bois ou les trois balles« umgetauft worden war9. Liszt kannte ebenfalls[127] mehrere Klavierwerke dieses Meisters: die Cdur-, die Asdur-Sonate, das Koncertstück. Er hatte sie schon als Knabe in Wien durch Frau Kotzeluch, die Wittwe des an Mozart's Stelle 1792 zum kaiserlichen Hofkapellmeister ernannten Leopold Kotzeluch, kennen gelernt10, und sie damals bereits gleichsam zur Übung der Finger gespielt, die blühende Romantik Weber's jedoch konnte er noch nicht empfinden, ebensowenig als sie sich ihm durch die Robin des bois-Aufführungen fühlbar machen konnte. So war sie ihm fremd geblieben. Nun kam der Russe W. von Lenz zu ihm, um sich einige Lektionen im Klavierspiel zu erobern11. Er war ganz Weber. Durch ihn sah Liszt zum ersten Mal die »Aufforderung zum Tanz«. Mit welcher Spannung er die Noten durchflog, mit welchem feurigen Enthusiasmus er sie aufnahm und die Gedanken Weber's sogleich verarbeitete, erzählt v. Lenz, dem es etwas Ungeahntes war zu sehen, »wie ein Genie das andere ansieht«. – Weber gehörte von da an immer zu Liszt's Lieblingen, denen er im Koncertsaal mit feuriger Zunge das Wort geredet hat.

Gehörten auch während der Periode seiner übertrieben religiösen Stimmungen Momente wie der eben beschriebene zu den Ausnahmen, so legen sie doch dar, daß er keineswegs der weltlichen Musik sich entfremdet hatte. Seine religiöse Stimmung absorbirte nur die entgegenkommende Theilnahme für außerhalb ihres Kreises sich bewegende Stoffe. In jener Lebensperiode war sie so exklusiv, daß die Berührung mit dem Leben ihm der Finger war, der heftig an eine offene Wunde stößt. Und doch konnte er sich nicht gänzlich von ihm abschließen. In dem bereits erwähnten Briefe äußerte sich Liszt über damals: »Die Armuth, diese alte Vermittlerin zwischen dem Menschen und dem Übel, entriß mich meiner der Betrachtung gewidmeten Einsamkeit und stellte mich oft vor ein Publikum, von welchem nicht nur meine eigene, sondern auch die[128] Existenz meiner Mutter abhing. Jung und übertrieben litt ich schmerzhaft unter den Reibungen mit äußeren Dingen, welche mein Beruf als Musiker mit sich brachte, die mich aber um so intensiver verwundeten, als mein Herz ganz und gar von dem mystischen Gefühl der Liebe und der Religion erfüllt war.«

Den Gemüthserschütterungen, welche die Trennung von Karoline hervorgerufen, dem Entsagungskampf, der mit ihr verknüpft war, sowie dem religiösen Brand seiner Seele war sein jugendlicher Körper nicht gewachsen. Auch das Ungeregelte seiner Lebensweise trug das Seinige dazu bei: er erkrankte. Es trat eine Nervenabspannung ein, die sehr bedenklich wurde. Alle Lebenskräfte schienen sich erschöpfen und Geist und Körper alle Thätigkeit versagen zu wollen. Ein ähnlicher Zustand, wie in seinen Kinderjahren, bemächtigte sich seiner. Er verlor täglich an Kraft. Trotzdem schleppte er sich im Gefühl seiner Pflichten für seine Mutter fort, um seine Unterrichtsstunden zu geben, brach aber mehrmals ohnmächtig zusammen.

Allmählich nahmen seine Kräfte so ab, daß er das Haus gar nicht mehr verließ. Er schloß sich ab vom Leben. Niemand durfte mehr zu ihm. Er wollte einsam sein. Und als die Mutter in der Absicht ihn diesem Zustand vielleicht entreißen zu können Freunde zu ihm ließ, verschloß er sich vollends und mied selbst sie. Wochenlang sah sie ihn nur bei Tische, wo er schweigend ihr gegenüber saß, sein tiefliegendes Auge fest auf einen Punkt gerichtet.

Als man in Paris ihn gar nicht mehr sah, auch seine Freunde nichts mehr von ihm hörten, wurde er, wie einst in Raiding, für todt erklärt. Fand sich auch kein Tischler vor, der im geschäftlichen Eifer einen Sarg für ihn baute, so war die Annahme, er sei todt doch so verbreitet und von solcher Theilnahme begleitet, daß der »Etoile« sich veranlaßt sah ihm einen Nekrolog zu widmen. Derselbe erschien gegen Winteranfang des Jahres 1828 und lautete:


»Tod des jungen Liszt.


Der junge Liszt starb zu Paris. In einem Alter, welches viele andere Kinder kaum an die Schule denken läßt, hatte er bereits das Publikum durch seine Erfolge für sich eingenommen. Mit neun Jahren, wo andere kaum ihre Sprache stammeln können,[129] improvisirte er zum Erstaunen der Meister am Klavier und doch nannte man ihn nur »Le petit Litz«, womit man seinen Namen mit jener anmuthigen Kindlichkeit, aus der er nie herausgetreten, zu verbinden suchte. – Als er das erste Mal in der Oper improvisirte, ließ man ihn hierauf die Runde durch die Logen und Gallerien machen, wo er von allen Damen geliebkost wurde; in ihrer naiven und dem Alter des Künstlers angepaßten Bewunderung glaubten sie ihn nicht besser belohnen zu können, als wenn sie ihn mit Küssen und gebrannten Mandeln beschenkten und mit der einen Hand Bonbons darboten, während die andere in seinem blonden Seidenhaar spielte.

Dieser außerordentliche Knabe vergrößert die Liste der frühreifen Kinder, welche auf der Erde nur erscheinen, um zu verschwinden, den Treibhauspflanzen gleichend, die einige herrliche Früchte tragen, aber an der Anstrengung sie hervorzubringen sterben. Auch Mozart, der wie Liszt durch seine Frühreife in Erstaunen setzte, starb mit einunddreißig Jahren; aber er kaufte einige Lebensjahre durch so viele Leiden und so vielen Kummer, daß auch vielleicht für ihn ein früher Tod eine Wohlthat gewesen wäre.

Betrachtet man alle die Gefahren, denen das Talent ausgesetzt ist, alle die Ungeheuer, die sich um das Genie reihen, es unablässig verfolgen und bis zu seinem letzten Schritt begleiten; bedenkt man, daß jeder Erfolg den Neid erweckt und indem er die Mittelmäßigkeit erröthen macht, die Intrigue aufstachelt, so wird man vielleicht finden, daß es glücklicher für die Blume war zu verblühen, als der Stürme zu warten, welche später möglicherweise sich auf sie stürzen und sie zerknicken würden. Der junge Liszt hat bis jetzt nur Bewunderer gehabt. Sein Alter war ein Schild, der alle Pfeile von ihm abwehrte. »Er ist ein Kind«, sagte man bei jedem Erfolg und der Neid ergab sich in Geduld. Aber wäre er älter geworden, hätte der ihn belebende Götterfunke sich mehr entwickelt, dann würde man nach Fehlern gesucht, dann würde man seine Verdienste geschmäht und – wer weiß es? – sein Leben bis ins Innerste vergiftet haben. Er würde die Launen der Macht, die Ungerechtigkeiten der Gewalt haben kennen lernen, er würde von dem rohen Anfall nichtswürdiger und gehässiger Leidenschaften erdrückt worden sein, anstatt, wie jetzt, eingehüllt in sein Bahrtuch den Schlaf der Kindheit von neuem zu beginnen und vielleicht mit der Sehnsucht den Traum von gestern fortzusetzen einzuschlummern.

[130] Schmerzhaft ist dieses Ereignis, nicht für seinen Vater, der vor einem Jahr ihm vorausgegangen, aber für eine Familie, deren Namen er anfing berühmt zu machen. Schmerzhaft ist es für uns, denen er zweifellos eine neue Quelle musikalischer Bewegung und Freude eröffnet haben würde. Auch wir beklagen seinen Tod, und vereinen uns mit seiner Familie, um den frühzeitigen Verlust zu beweinen.«


Franz Liszt's Mutter las diesen Nachruf mit Schrecken und Kummer. Er schien ihr eine unheilvolle Vorbedeutung. Auch Franz las ihn, aber ohne davon berührt zu sein; seine Apathie hatte den höchsten Grad erreicht. Das waren trauervolle, schwüle Tage für die arme Mutter. Bereits mehrere Monate hatte dieser Zustand gewährt und der Arzt befürchtete, daß die Erschöpfung in eine schnelle Abzehrung übergehen würde. Allein es sollte besser kommen. Seine durch und durch gesunden Organe reagirten gegen ein solches Ende.

Der apathische Zustand, in welchem der Jüngling sich Wochen und Wochen befand, war mehr eine Krise, während welcher sein überreiztes Nervensystem sich ungesehen ausruhte. Seine Natur hatte zur Erhaltung ihrer selbst sich eine Ruhepause geschaffen. Als sie ihren Zweck erreicht, ließ, wenn auch langsam, die Erschöpfung nach und in dem Maße, in welchem sie nachließ, ward sein Thätigkeitssinn und seine Theilnahme für das Leben wieder regsam. Er las wieder, die Besuche wurden weniger abgewiesen als bisher und hie und da begegnete man ihm wieder in einem Salon.

In der Zeit von Liszt's apathischem Zustand war es, wo v. Lenz ihn besuchte. Er beschreibt ihn als einen hageren, blaß aussehenden jungen Mann, mit unendlich anziehenden Gesichtszügen. W.v. Lenz fand ihn tief nachdenkend, verloren in sich auf einem Sopha lagernd, das zwischen drei Klavieren stand. Er rauchte aus einer langen türkischen Pfeife. Nicht die geringste Bewegung verrieth, ob er den Fremden bemerkt habe oder nicht. Erst als dieser musikalisch interessante Dinge ihm vorplauderte, wurde er aufmerksam und lächelte. Das Lächeln aber kam plötzlich, leuchtend und war ebenso schnell vergehend, wie es gekommen, ähnlich dem »Blitzen eines Dolches in der Sonne«, wie Lenz sagte.

Die Periode seiner Rekonvalescenz dehnte sich aus bis zur Zeit der Julirevolution.

Fußnoten

1 Liszt's »Gesammelte Schriften«. II. Band, Brief No. 3.


2 Gazette musicale de Paris: »Franz Liszt« v. J. d'Ortigue. 1834.


3 † 1845.


4 Die Viola d'amour ist größer als die Viola und hat sieben Darm-saiten, von denen die drei tiefsten mit Silberdraht übersponnen sind. In Einklang mit diesen Saiten gestimmt, laufen unterhalb des Griffbretts und des Stegs, sieben andere, aber Metallsaiten, welche nur durch die Schallwellen in tönende Mitleidenschaft gezogen werden und den Klängen einen geheimnisvollen Nachhall geben. Insbesondere sind die Flageolettöne der Viola d'amour von märchenhaftem Duft und Zauber.


5 Im Monat Mai gab Berlioz meistens seine Koncerte, was den Referenten bei der wildromantischen Richtung Berlioz's zu der Anspielung auf den Blocksberg – »Maifest« – veranlaßt haben mag.


6 Zeitschrift Cäcilie 1837. »Paris im Januar 1837.«


7 Sie sind bei Richault in Paris gedruckt erschienen, und wurden ganz besonders zwei romantische Quintette, zwei romantische Duos für Klavier (à 4ms) und ein Duo für Klavier und Violine seiner Zeit sehr gerühmt.


8 Vergl. W. von Lenz: »Die großen Pianoforte-Virtuosen unserer Zeit« (Berlin, E. Bock. 1872) pag. 8.


9 Diese Bearbeitung von Castil-Blaze und Sauvage ist nicht zu verwechseln mit der Bearbeitung des »Freischütz« von H. Berlioz. Die Aufführung jener war am 7. December 1834 (théatre royal de l'Odéon), die des letzteren zu Anfang der vierziger Jahre.


10 Nach W.v. Lenz's Erzählung kannte Liszt damals noch nichts von Weber's Klavierkompositionen, was jedoch irrig ist.


11 Lenz legt (»Die großen Pianoforte-Virtuosen«) dem über Weber entzückten Liszt die Worte in den Mund: »Und Lektionen will ich Ihnen geben, zum ersten Mal in meinem Leben«, was jedoch, wie aus unserer Darstellung ersichtlich, nicht buchstäblich zu nehmen ist.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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