XIV.

»Er kann nicht komponiren!«

Seine musikalische Übersetzer-Natur. Entwickelungswege der Künstlerindividualitäten; der Liszt's im Vergleich mit ihnen. Das: »Kreuziget ihn!« der Menge gegenüber dem Künstler. Liszt's schöpferisches Genie als Hintergrund seiner Virtuosität.


Keime hatte er gebracht – kein Quartett, keine Symphonie, keine Oper, keine Messe! Keime, von denen wohl niemand so recht ahnte, noch weniger überzeugt war, daß sie zu den echten, sich zur Blüthe und Frucht entwickelnden zählten. Und noch dazu traten sie mehr verhüllt als sichtbar auf, mehr umgeben mit dem Schein des Absonderlichen als des Hervorragenden; auch gehörten sie überwiegend dem reproducirenden Gebiet der Bearbeitung und Übertragung an, weniger dem selbstständiger Produktion. Seine kleinen lyrischen Blüthen, die »Apparitions«, – was wollten sie sagen gegenüber den großen Instrumental- und Chorwerken, wie sie die zu Komponisten geborenen Künstler seines Alters gebracht hatten und brachten. Die Tragweite dessen, was er mit seinen in den Augen des Kunstkritikers gering wiegenden Arbeiten gebracht hatte, konnte damals selbst ein mit künstlerischer Intuition begabter Kritiker schwerlich ermessen. Aber auffallend war die Erscheinung, daß der von Allen und selbst von seinen Gegnern als musikalisch hochbegabt und genial erkannte Jüngling sich so ziemlich ausschließlich auf dem Boden der Reproduktion bewegte und überhaupt seine Bewegungsgrenzen nicht über das Pianofortegebiet hinauszog.

So kam es, daß man ihn als den wunderbarsten und merkwürdigsten der Pianisten rühmte, aber auch bedauernd oder schadenfroh hinzusetzte: »er kann nicht komponiren!« – ein Wort, das beflügelt schien und in alle kunstgebildeten Kreise drang. Wie[294] hätten auch in jenem Moment wo er anfing am Klavier die Räthsel geistigen Lebens in zündender Sprache aufzugeben, – wie hätte diese merkwürdige Erscheinung durch einige kleine Klavierkompositionen ein Gleichgewicht erhalten können?

Und trotzdem seine Leistungen nach Seite der Komposition hinter seiner Virtuosität als Klavierspieler zurück zu bleiben schienen, breitete sein musikalischer Sinn sich aus und gewann stillschweigend ungeahnt und ungesehen an Ausdehnung und Kraft. Am meisten durch die empfangenen Zeiteindrücke und durch außermusikalische Elemente. Liegt es doch heutigentags offen da, daß all sein Tasten und Fühlen nach Ereignissen und Ideen, sein stürmisch-liebendes Sichhingeben an sie der Durst eines musikalischen Genies war, das mit leichter Hand die Riesenschale des Jahrhunderts an seine Lippen zog, um den Trank umzusetzen in Musik. Ein Wandlungsproceß, der nur mittels jener merkwürdigen Geistesanlage sich vollziehen konnte, welche nicht specifisch musikalische Stoffe seinem Musiksinn verband und diesen durch alle Stadien seines Werdens und Seins sowohl aufnehmend wie reproducirend und producirend begleitete, – jene merkwürdige und wesentliche Seite seiner geistigen Organisation, welche wir als seine Übersetzernatur bezeichnen möchten.

Liszt übersetzte – aber nicht nur von Musik in Musik, er übersetzte alles in solche. Geistige Stoffe, die ihren ersten Ausdruck in den bildenden Künsten fanden, Eindrücke, welche die Natur dem Auge gab, Ideen, die der Intellekt, bevor sie in die Empfindung traten, erfaßt: er übersetzte sie in Musik. Wie Goethe in seiner Jugend »gelegentlich« dichtete, so musicirte er »übersetzend«, und wie bei dem Dichter sich innere Erlebnisse in Poesie verwandelten und das Erlebte ihm »Gelegenheit« war zum Dichten, so verwandelten sich bei Liszt empfangene Eindrücke in Stimmung, in Musik: die Eindrücke wurden ihm zum Stoff seiner musikalischen Ergüsse und Improvisationen am Klavier, zum Stoff musikalischer Dichtung. Las er religiöse Schriften, philosophische: er fand Beziehungen zur Musik, die Weite der Gedanken ward Weite des Gefühls, der Stimmung – sie wurden Musik; sah er ein Bild, eine Skulptur, eine Landschaft, las er Poesien, die in ihm einen Widerhall fanden: sie übersetzten sich in ihm (»Il Sposalizio«, »Il Penseroso«, »Au lac de Wallenstaedt«, »Une Fantaisie d'après une lecture de Dante« etc. etc.). Und[295] da sein Geist der Höhe und Weite zustrebte und von da seine Eindrücke holte, so mußten diese, musikalisch übersetzt, seinen musikalischen Sinn in die Höhe und Weite dehnen und ihm Stoffe zuführen, sowie eine Vielseitigkeit und universelle Richtung der Stimmung ihm entwickeln, die dem lyrischen Punktum der Musik an sich nicht entspringen konnten. Er dehnte sich aus zum Himmel und zur Welt und zog stimmungsheiß diese übersetzend in seinen Musiksinn. Es läßt sich behaupten: Liszt's Übersetzernatur bahnte ihm den Weg zu einem musikalischen Welt-Inhalt.

Damals war seine musikalische Übersetzernatur aufnehmend. Aufnehmen aber ist eine Aktivität nach Innen, welche die Aktivität nach Außen ausschließt oder auch nur im Hintergrund sich bewegen läßt. So kam es, daß er wenig komponirte, nicht, wie die Presse verbreitete, »aus Mangel an Schaffenskraft« – ein Irrthum, welchen der Reichthum und die Vielseitigkeit seiner Werke gründlich widerlegt hat –, sondern aus Grund übermächtiger Eindrücke, welche die freie Äußerung seiner selbst hinderten, die er aber überwunden haben mußte, bevor er sie selbstständig zum Kunstwerk verdichten konnte.

Noch ein anderer, ein weniger psychologischer Grund, aber einer, welcher mit Liszt's musikhistorischer Aufgabe zusammenhängt, hinderte ihn an der Aussprache seiner selbst in Form großer Tonschöpfungen: sein Stimmungsleben war angefüllt mit Stoffen und entwickelte sich durch Stoffe, wie sie durch die Musik noch nicht zum Ausdruck gekommen waren.

Die historische Entwickelung der letzteren hatte im vorigen Jahrhundert zu den klassischen Formen hingedrängt und durch sie allgemeines Gefühlsleben zum Ausdruck gebracht. Hier hatte man Vollkommenes erreicht. Mit diesem Erreichen erblaßte das musikalisch-klassische Ideal, das am Herzen geistig gebundener Völker sich entwickelt hatte. Eine neue Zeit brach herein. Der fortschreitende Weltgeist riß den Völkern ihre Binde von den Augen. Neue Ideale tauchten an ihrem Horizont auf, mit ihnen ein neuer Inhalt am Horizont der Kunst – die Mittel aber, diesen Inhalt durch die künstlerische Form zur Erscheinung zu bringen waren noch zu gewinnen, ebenso wie die Form selbst, ebenso wie auch der Inhalt, welcher zur Faßbarkeit noch vorzudringen hatte. Der Geist der Zeit ist wie das Genie: Traum, Ahnung, Werden – nur am Gewordenen läßt er sich fassen.[296]

Der neue Inhalt, musikalisch durch die Romantiker zum Durchbruch kommend, schuf sich durch sie neue Ausdrucksmittel und Formen. Liszt hatte sein Stimmungsleben an den Ideen der neuen Zeit entwickelt, sein Geist war mit ihnen gefüllt, aber ersteres hatte wie die Stoffe, zu denen es sich ausbreitete, eine andere Richtung und einen anderen Inhalt als dasjenige der Träger der musikalischen Idee der dreißiger Jahre; es überflügelte sie an Weite und Höhe und die zum Universum sich ausspannende Vielseitigkeit seines geistigen Lebens schuf ihm Nüancen und Übergänge, die jenen fremd geblieben sind. Aber dieser Inhalt, welcher künstlerisch zum Ausdruck kommen und da anknüpfen sollte, wo jene aufhörten, lag noch im Gähren. Er war Traum, Ahnung, Werden und mußte sich in ihm als Individuum noch entwickeln und klären, ehe er zur klaren und reifen Offenbarung seiner selbst durch das Kunstwerk kommen konnte. Liszt's Entwickelungsgang war ein anderer als der der meisten Tonkünstler. In ihm liegt seine Verspätung als Komponist.

Auf musikalischem Gebiet hat die Kunstgeschichte wenige, wenn überhaupt ein ähnliches Beispiel aufzuweisen, wo eine in ihrer geistigen Entwickelung stehende Künstlerpersönlichkeit so inmitten, wir möchten sagen im platzenden Schoße gährender Zeitereignisse stand und mit ihrem ganzen Organismus sich seines Inhaltes mit solch heißer und gläubiger Inbrunst bemächtigte, wie die Liszt's.

Nicht, daß dieses Wort ihn höher stellen soll als einen Palestrina, Bach und Händel, als einen Gluck, Haydn, Mozart und wie die Meister alle heißen, die zu den Geisteskoryphäen ihrer Jahrhunderte zählen und mit ihren Werken ebenfalls den Inhalt derselben widerspiegeln – aber es soll auf das hindeuten, worin das Andersseinmüssen seiner künstlerischen Äußerungen, vor allem aber seines künstlerischen Entwickelungsganges, mit welchem der größte Theil der ihm als Komponist entgegen tretenden Vorurtheile zusammenhängt, sich begründet. Wie jeder große Mann einen Blick hat, den nur er haben kann, so hat er auch einen geistigen Entwickelungsproceß, welcher nur ihm eigen ist. Beethoven's innere Welt gestaltete sich auf eine andere Weise als die Haydn's, die Haydn's anders als die Gluck's; bei jedem war der Grundton der geistigen Anlage verschieden und bei jedem der Entwickelungsgang dieses Grundtones seiner historischen Bestimmung entsprechend, bei allen jedoch[297] tritt frühzeitig der Komponistendrang in exklusiver Weise hervor, anders als bei Liszt, dessen historische Bestimmung aber auch eine andere war als die früherer Meister und andere geistige Fakultäten voraussetzte, als es bei ihnen der Fall war.

Die Art und Weise, wie das individuelle Leben des Künstlers zur Höhe oder zur Tiefe, zu Idealem oder zu Realem sich wendet, enge oder weite Dimensionen annimmt, wie es sich in Beziehung setzt zur Außen- oder zur Innenwelt, zur Gegenwart, zur Vergangenheit oder zur Zukunft, – das bestimmt die Eigenartigkeit seines Entwickelungsprocesses. Aber gerade in dieser Eigenartigkeit, in welcher in geheimem Spiel des Geistes unendlich viele unsichtbare Fäden zusammen treffen und sich binden, liegt die eigene Art des Talentes, des Genies und seiner Erscheinung im Gegensatz zu andern Genien sowohl als zu der Masse von Menschen, welche die allgemeine Art repräsentiren – die Sache, die so vieler Verkennung ausgesetzt ist. Sie giebt den Anstoß zu den Irrthümern, welche dem anders und höher Begabten seitens seiner Zeitgenossen und der Mitwelt, welche das Anderssein als das eigene Selbst meist nur bis zu einem gewissen Grad zu verstehen befähigt sind, engegen treten. In dem »nicht über sich hinaus können« liegt das Räthsel, das den Menschengeist in endliche Grenzen bannt und sein Unvermögen in tausendfache Irrthümer spaltet und – sie tausendfach entschuldigen läßt; in ihm liegt das häufige Verkennen des Großen und Bedeutenden, auch die Erklärung für das »Kreuziget ihn!« Hiezu kommt, daß die Welt das fertig Sichtbare und Greifbare haben will. Der Keim, der unter der Erde arbeitet, kümmert sie wenig. Die Zeichen, durch welche das bahnbrechende Genie, der Prophet sich ankündet, sind Faktoren, mit denen sie, je ferner sie ihr stehen, niemals rechnen wird und kann. Sie sind ihr unverständliche Dinge. Aber immer geneigt ihr Facit zu ziehen verwechselt sie das Werden mit dem Gewordensein, nimmt das erstere für das letztere, zieht so falsche Schlüsse und häuft in Folge derselben Irrthum auf Irrthum, gegenüber dem Genie: Schuld auf Schuld, – welche sie der Tilgungskasse der Nachwelt übergiebt.

Liszt's Mitwelt hat ihrer Nachkommenschaft so manches übertragen, was letztere ihm als Komponisten auszugleichen hat. Der erste Irrthum, den sie beging, war, daß sie das in der Eigenartigkeit seines Entwickelungsganges Liegende als die Sache selbst[298] nahm. Daß er in jenen Jahren nicht große Werke schrieb, wie andere Komponisten, legte sie als Unfähigkeit des Schaffens aus, ein Irrthum, den die folgenden Jahrzehnte in hundertfachen Varianten fortsetzten, dessen Ursprung aber jener Zeit angehört. Daß die höhere musikalische Schaffenskraft auch durch andere Formen, als durch die der Komposition zum Durchbruch kommen könne, war ein Gedanke, der, als der Virtuose Liszt seine Laufbahn begann, bei der Beurtheilung seiner Schaffensfähigkeit unbeachtet blieb. Seine Umgestaltung des Klavierspiels galt als ein in den Fingern liegender, dem Glanz des Virtuosen dienender technischer Apparat, als eine Fingersache, nicht als die Sache eines mit schöpferischem Machtgebot sich eine Sprache schaffenden Geistes, dessen übermächtige Stimmungen nach einem Ausdruck ihrer selbst verlangten. Man erkannte wohl den Virtuosen von Gottes Gnaden und vindicirte seiner Phantasie die schaffende Befähigung, welche man einem solchen zuerkennt: die des technischen Genies – aber der Spruch: »Er kann nicht komponiren!« wurde insbesondere von seinen Gegnern stets als kadenzirender Anhang ihren dem Virtuosen gemachten Zugeständnissen nachgesandt.

Durch seine Übertragungen für Klavier – die reproduktive Seite seiner Übersetzernatur – setzte sich diese Ansicht noch fester. »Man überträgt nur, wenn man nicht produciren kann«, urtheilte die allgemeine Erfahrung. Aber sie übersah, daß, als der Jüngling die Violine Paganini's und das Orchester Berlioz's dem Klavier übertrug, er diesem hiedurch seine Ausdrucksmittel erweiterte und den Ausgang zu der neuen Phase gewann, in welche Klavierspiel und Klaviermusik traten. Das, was jene und viele andere Übertragungen für seine Entwickelung als Komponist damals waren, nämlich: mittels Übersetzen ein Aneignen der Mittel der Tonkunst, ein theoretisch-technisches Lernen ihrer Wirkungen, das Prüfen der Materie, durch welche sein Geist sich äußern sollte – das entzog sich dem Blick der Zeit und konnte erst später, als er in voller Reife war und frühere Perioden als fertig und abgeschlossen sich der Beschauung und Prüfung unterbreiteten, zum Verständnis kommen.

Die damalige öffentliche Meinung aber adoptirte den Refrain seiner gegnerischen Bewunderer: »Er kann nicht komponiren!«

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 294-299.
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