XV.

Eros als Kind der Romantik.

[299] Liebesideale der romantischen Poeten. George Sand, ihr Hauptapostel. Liszt's Beziehungen zu ihr. Leone Leoni. Einfluß auf Liszt. Sein Frauenideal.


Sowie die dem Fortschritt zugewendeten Ideale der ersten Hälfte der dreißiger Jahre des Jünglings geistiges Leben nach künstlerischer Richtung in Vibration versetzten, ebenso brachte ihre Romantik menschliche Saiten in ihm zum Schwirren, die ebenfalls bedeutungsvoll für ihn und seine Zukunft werden sollten. Liszt stand in dem Alter, wo die Aufregung und Leidenschaft der Phantasie sich nicht nur geistiger Materie bemächtigt, sondern auch die Berechtigung für irdisches Sehnen, Lieben und Begehren in sich trägt, wo die Leidenschaften beider Richtungen wach auf ihren gefährlichen Höhen sich wiegen und die Kraft der einen durch die Kraft der andern potenzirt erscheint. Es giebt Naturen, deren Leidenschaften und Irrthümer, getragen von der Macht geistiger Gewalten, nur auftreten im Glanz der Poesie, – Naturen, die unbewußt des inneren Doppelspiels von Wahrheit und Täuschung die Phantasie zum Faktor der Wirklichkeit und die Wirklichkeit zum Faktor der Phantasie machen, beide ineinander weben und so die poetische Fiktion, daß: »Dichten Leben und Leben Dichten« sein könne, zu einer Wahrheit erheben.

Zu diesen Naturen zählte Liszt – und er stand in dem Alter, wo die Leidenschaften herrschen, und war umgeben von der Luft der mit souverainer Phantasie das Doppelspiel von Wahrheit und Täuschung übenden Romantik.

Letztere suchte vom Kunstgebiet aus in das praktische Leben zu dringen. Aber eine Gegnerin geordneter und geregelter Zustände,[300] voll maßloser Sehnsucht nach solchen, die dem subjektiven Empfinden keine hemmenden Schranken entgegenstellen, nahm sie hier eine Wendung, welche so wenig wie die auf künstlerischem und socialem Gebiet von Dauer sein konnte, nichtsdestoweniger aber in ihren Folgen in die Zukunft hinein spielte. Wie die politischen Stürmer des Fortschritts den einen Theil der die menschliche Gesellschaft bewegenden Probleme durch Socialismus und Kommunismus zu lösen vermeinten, so glaubten phantastische Heißsporne und Poeten, nicht minder Stürmer als jene, für einen anderen Theil dieser Probleme – den der Liebe und Ehe – eine Lösung durch Reformen freien Stils und durch Verherrlichung einer Liebestheorie, welche die blinde Naturgewalt an Stelle der Sitte setzt, gefunden zu haben. Die von der erhitzten Phantasie des père Enfantin hervorgerufenen Verirrungen der Saint-Simonisten, ihre Fortsetzung durch Fourier's Phalanstère, – sie waren so ganz und gar der Ausdruck, ein geschichtlicher Ausdruck romantischer, in krankhaftem Begehren entflammter Sehnsucht, die nach neuen Zuständen, neuen Idealen und neuen Zeiten suchte, aber als überreife Frucht am Baume phantastischen Empfindens innerlich bereits im Verrotten war. Wir nannten diese Verirrungen einen »geschichtlichen« Ausdruck; denn es ist nicht zu verkennen: die Huldigungen, welche jene Zeit, sowohl in der Poesie wie im Leben, der weder durch Gesetz noch durch Sitte gebundenen Liebe darbrachte, sind nicht nur maßlose Äußerungen krankhaft überreizter Geister. Diese waren nur die Träger einer Geschichtsepoche Frankreichs, welche die Fesseln des Formalismus gewaltsam sprengend der Despotie einer alten Zeit ihren Gegensatz: eine schrankenlose Freiheit entgegen stellte und, hinblickend auf die auch an dem Wesen der Liebe und Ehe nagenden Übel, nicht ohne Berechtigung entgegen stellte.

Man muß sich zurück und hinein versetzen in die vorigen von Form und Zwang beherrschten Jahrhunderte, in die bestehenden, die Rechte der Frau betreffenden mittelalterlich-barbarischen Ehegesetze, und die mit ihnen zusammenhängenden tausendfachen unglücklichen Konflikte zwischen Mann und Frau, man muß die literarhistorischen diesem Stoff gewidmeten Kapitel nachlesen und im Buche des Lebens selbst blättern, um die Forderungen der Romantik begreifen zu können, sowie daß die sie vertretenden und so übermüthig scheinenden Geister mit Zeit und Geschichte identificirt sind und mit ihnen eine, wenn auch theilweise der Ästhetik des[301] Häßlichen angehörende Komposition bilden. Man muß die »Delphine« und »Corinna« der Staël, dieser Frau mit dem ausgeprägten sittlichen Verstand und dem großen echt menschlichen Gefühl, gelesen haben, um an den Anklagen, welche sie der »Gesellschaft« mit ihrem herzlosen Seelenhandel und tyrannischen Konvenienzheirathen, mit ihren dem Hochmuth und der Eitelkeit zu bringenden Opfern, mit ihrem frivolen Spiel mit der Sitte entgegen geschleudert, die Elemente kennen zu lernen, welche jene Sehnsucht nach einer neuen Liebestheorie geweckt und genährt hatten. Dann findet man auch begreiflich, daß nicht nur desultorisch angelegte Geister, sondern auch edle harmonische Naturen, wie beispielsweise der deutsche Wilhelm von Humboldt, der, wie sich aus seinem schriftlichen Nachlaß ergab, saint-simonistisch gesinnt war, ihre Sympathien diesen Fragen zuwendeten – seitens W. von Humboldt allerdings zum nicht geringen Erstaunen seiner Verehrer.

»La femme libre und l'homme libre, die Kirche soll nichts dabei zu sagen haben und nicht einmal der Staat!« – schrieb damals Varnhagen von Ense erschrocken über diese Ideenrichtung seines Freundes, die doch in Deutschland keineswegs neu war, in sein Tagebuch. Hier in Deutschland hatte sie bereits an der Grenzscheide dieses und des vorigen Jahrhunderts ein Vorspiel gesunden, dessen literarischer Ausdruck Friedrich von Schlegel's »Lucinde« (1799) war. Diese »Lucinde«, welche von der Ästhetik ihren Mantel geborgt hatte und unter dieser Hülle die »Emancipation der Physis« predigte, ist so wenig eine von ihrer Zeit losgelöste Erscheinung, wie die der Romantik Frankreichs angehörenden Apotheosen der Sinnlichkeit. Sogar Schleiermacher hat ihr seiner Zeit das Wort geredet, wie überhaupt die geistig hervorragendsten Persönlichkeiten Deutschlands, Männer wie Frauen, damals mit Vorliebe für die Idee dämonischer Liebesmacht Partei ergriffen haben. Der »Musenhof Weimars« belegt das zur Genüge. Theils das Schoßkind einer Zeitepoche, welche in gährendem Ungestüm alle Lebensverhältnisse und menschlichen Beziehungen auf ein neues menschlich schöneres Fundament zu setzen trachtete, theils eine Folge jener Richtung des »philosophischen Zeitalters«, die in Voltaire ihren Ausdruck gefunden, ebenso eine Folge der immer mehr erblühenden und eine geistige Suprematie ausübenden Naturwissenschaften – hatte mit jenen Ideen die romantische Stimmung sich eines Problems bemächtigt, das durch alle Zeiten hindurch der[302] Tragik des menschlichen Herzens den Knoten geschürzt hat und alle Geschlechter überdauern wird. Aber in blindem Eifer wandte sie sich nicht nur gegen die das Wesen der Liebe verletzenden Vorurtheile und das frivole Spiel der Konvenienz, nicht nur gegen den die Frauen entwürdigenden Barbarismus der Gesetze, sondern ebenso gegen das Etwas, welches der menschlichen Gesellschaft Schutz gegen die dem Herzen eingeborne Tragik gewährt: gegen die Sitte. Wie die Romantik die Souveränität des Ichs predigte, so verlangte sie für das Individuum die Souveränität des Genusses ohne Rücksicht auf Andere und auf die Ordnung der Gesellschaft überhaupt. Das Herz der Romantik war Egoismus, der gekleidet in das glänzend schimmernde Gewand der Poesie, kranker Sehnsucht voll, Physis und Psyche verwechselt hat. Nichtsdestoweniger aber trug das Liebesbegehren der Romantik den Vortheil in sich, die äußeren Ursachen unendlich vieler Leiden und unendlich vielen Elends des Menschenlebens zum Bewußtsein gebracht zu haben. Konnten ihre Theorien auch den Problemen des Herzens, die zu lösen und zu binden zu allen Zeiten der sittlichen Kraft des Individuums angehören wird, keine Lösung schaffen, so haben sie doch, wenn auch theilweise nur negativ, unstreitig vor- und mitgearbeitet an unsern gegenwärtigen und zukünftigen humanen Aufgaben: an einem Reinigungsproceß des Liebes- und Ehegedankens, an einer den humanen Zielen des Christenthums näher kommenden Umwandlung der Gesetze und an dem Überwinden der Vorurtheile, welche mittelalterliche Tradition und Geschichte auf den Scheitel der Frau gehäuft hat. Brandmarken wir darum nicht die einzelnen Geister, die, Feuer und Gluth, wohl Wahrheit und Irrthum ineinander gemengt haben, aber Werkzeuge der Geschichte waren.

Als geschürt und entfesselt durch die Juli-Revolution die französische Romantik in ihr überreiztes Stadium tretend des Problems der Liebe und Ehe sich bemächtigte, fand sie nach dieser Richtung in den jugendlichen, zum Theil hoch genialen Literaten und Poeten, den geborenen Feinden der Prosa und prunkenden Alltagsmoral, ihre Verbündeten und Kämpen. Was die Systeme Enfantin's und Fourier's nie erreicht haben würden, erreichten die kecken Wagehälse. Angeführt von dem schönen leichtgeschürzten und wildlockigen Kind der Berry, dessen großes Auge ideale Schwärmerei und leidenschaftliche Gluth ausströmte, auf dessen Lippen die Sprache klassischer Schönheit schwebte und dessen Stirn[303] das Flammenzeichen der Genies trug, warfen sie Brandfackeln in die phantastisch aufgeregten Gemüther und riefen auf dem Gebiet der Götter Eros und Hymen einen Feuerbrand hervor, welcher von der Kritik sittlicher Entrüstung weder gedämpft noch in seinen sich weit verbreitenden Gluthen aufgehalten werden konnte. Es war die Stimmung der Zeit selbst, die in ihnen flüchtigen Fußes die Länder durcheilte.

Das Romangebiet brachte einen Reichthum von Dichtungen, deren Motive den Nachtseiten erotischer Beziehungen und den aus den Gesetzen, der Konvenienz und der Berechnung hervorgegangenen Mißverhältnissen entnommen waren. Unglückliche Ehen, Knechtung der Frauen, Liebeshaß und Liebesgluth, wild zerstörende Leidenschaften, Empörung groß angelegter meist Künstlernaturen gegen Sitte und Gesetz, die schneidendsten Dissonanzen und Zerwürfnisse des Herzens mit sich und der Welt und Gott – bilden den Inhalt dieser gesammten Dichtungen, eine wilde Tragödie entfesselter Leidenschaften darstellend, bei welcher das verletzte und tief aufgeregte Gefühl sich vergeblich sehnt nach einer versöhnenden Auflösung der Dissonanzen in reine Harmonien. Die Souveränität des Ichs kennt keine Versöhnung. – Aber die Leidenschaften und sinnlichen Gluthen traten in so berauschend schöner Sprache, mit solch unmittelbarem Pathos gemischt mit echtem Adel der Gesinnung und Idealität der Empfindung auf, daß sie in diesem Gemisch bestrickend Phantasie und Urtheil eines großen Theils der Zeitgenossen gefangen nahmen.

Die Hauptvertreter dieser Richtung sind die Erstlingsromane George Sand's, des genialen gluthäugigen Kindes der Berry. Ihre Romane »Indiana«, »Jacques«, »Lélia« und »Léone Leoni« sind hier in erster Linie stehende Ergüsse ihres Talents und ihrer Leidenschaften, die jedoch auf das engst verbunden sind mit dem damals auftretenden überreizten christlichen Liebesgefühl, eine Mischung der Gefühle und der Phantasie, durch welche sie sich, wie der Literarhistoriker Kreyßig1 es ausspricht: »mit den romantischkatholischen Welterneuerern auf denselben Abwegen der Gefühlsverirrung, in derselben Täuschung über Freiheit und Willkür, in demselben Abfall der dämonischen Naturkraft von der Zucht des vernünftigen Geistes« bewegen.[304]

»Die Liebe«, sagt die Dichterin, »ist das auf ein einzelnes Wesen koncentrirte christliche Erbarmen. Sie gilt dem Sünder, nicht dem Gerechten. Nur für jenen bewegt sie sich unruhig, leidenschaftlich und ungestüm. Wenn du, edler, rechtschaffner Mann« – fährt sie mit trügerisch-phantastischer Glut fort – »wenn du eine heftige Leidenschaft für eine elende Buhlerin empfindest, sei sicher: das ist die echte Liebe, darüber erröthe nicht! So hat Christus diejenigen geliebt, die ihn gekreuzigt haben.« – Dieser Anschauung entsprechend mußte die Liebe, die aus Liebe sündigt, Tugend sein. Es kann darum kaum erschrecken, wenn sie sagt: »Je größer das Verbrechen, desto echter die Liebe, die es vollbringt« oder wenn sie den von Leidenschaft und Laster durchwühlten, aber genialen und körperlich mit männlicher Schönheit ausgestatteten Léone Léoni seiner Geliebten zurufen läßt: »So lange Du auf meine Besserung gehofft, hast du mein eigentliches Wesen nie geliebt«. Ebenso scheint es dieser Kasuistik erotischer Phantasie entsprechend, wenn die Helden ihrer Tragödien himmelstürmenden Ernstes, aber mit allen Eigenschaften der Unnatur geschmückt sich in letzteren mit berauschendem Zauber bewegen und im Wahn der Selbsttäuschung, wie dort die Sünde für Tugend, so hier die Unnatur für höhere Wahrheit und Schönheit halten. So konnte, wie ebenfalls Kreyßig sagt, als »negativer Pol« der Liebestheorie George Sand's der Lieblingstypus ihrer Helden hervorgehen: der demüthige, stille, für nichts geachtete, in heimlicher Liebe sich verzehrende »Freund«, der »En cas que« der liebenden Heldin – Brackenburg in höherer Potenz –, diese Ralph, Jacques, Bustamente und andere, welche bei den Stelldichein der begünstigten Taugenichtse Schildwache stehen, sich für die Ehre der untreuen Gattin oder Geliebten schlagen, ihre Schulden bezahlen, ihren bösen Leumund auf sich nehmen, sich ihr zur Gesellschaft, eventuell um nicht zu geniren, auch allein ums Leben bringen, und im günstigsten Fall überglücklich sind sich an den Brocken zu erlaben, die von des Herrn Tische fallen.

Das neue Evangelium staffirte aber seine Lieblinge nicht nur mit den heroischen Tugenden der Märtyrerschaft aus, sondern es fand auch den Schwankungen und der Untreue des Herzens eine Sanktion. »Die Liebe«, heißt es in der »Lélia«, »besteht in dem heiligen Streben unsers ätherischen Theils nach dem Unbekannten. Deshalb vergeuden wir den Himmel suchend unsere Kraft an ein uns ungleiches[305] Wesen. Fällt dann der Schleier und das Geschöpf zeigt sich uns hinter der Weihrauchwolke armselig und unvollkommen, so erröthen wir über unser Ideal und treten es unter die Füße. Und nun suchen wir ein anderes; denn lieben müssen wir! – aber wir täuschen uns noch oft, bis wir endlich für diese Erde die Liebe aufgeben.«

Als Konsequenz dieser Lehre tritt nach praktischer Seite die Ansicht hervor, daß die Ehegesetze nur vorübergehend Mann und Weib verbinden sollten, eine Ansicht, die jedoch unter ganz anderen Beziehungen und mit anderen Zielen als denen der französischen Romantik auch von Goethe in seinen »Wahlverwandtschaften« berührt wurde. Die Ehen, meinte der deutsche Dichter im Hinblick auf die Tragödien, wel che sich durch die Bindung auf Lebensdauer oft entwickeln, sollten kontraktlich sich erneuernd immer nur auf fünf Jahre geschlossen werden; denn jeder Theil würde dann in seinem Bestreben sich die Neigung des andern zu erhalten und ihn glücklich zu machen, nicht erschlaffen. Goethe's Vorschlag – allerdings mit dem Princip der Belohnung und Bestrafung im Hintergrund und darum abstrahirend von dem freien Willen sittlicher Vernunft – zielte auf Erhaltung, Verschönerung und Vertiefung der Liebe. Andere Ziele aber als diese der germanischen Richtung hatte die aus gallisch-romanischem Blut hervorgehende neue Liebesanschauung. »Jede Liebe erschöpft sich«, heißt es ebenfalls in der »Lélia«, »Widerwille und Traurigkeit folgen ihr: die Verbindung des Weibes mit dem Manne sollte darum nur vorübergehend sein.« Und wie die Romantik die Dinge auf den Kopf stellt, sieht sie in den Ehegesetzen nur die »Vergötterung der Selbstsucht, die nur allein besitzen und bewahren will«. »Jenes Gesetz der moralischen Ehe in der Liebe«, behauptet sie kühn, »ist vor Gott ebenso thöricht, ebenso lächerlich wie gegenwärtig das Gesetz der gesellschaftlichen Ehe in den Augen der Menschen«. –

Diese das Gefühl für Sitte und Wahrheit verwirrenden und durch die Erstlingswerke George Sand's verbreiteten Ideen übten durch den Zauber dichterischer Schönheit, in welche sie gehüllt waren, eine sinnbethörende Gewalt aus. Die berauschenden Essenzen unmittelbarer Leidenschaften, die ihnen entströmten, wurden von der freiheitdürstenden, vorzugsweise von der Dichter- und Künstler-Jugend, die in Paris mit dem Wort »la bohéme« bezeichnet wird, mit Begierde eingesogen. Ihre Dichtungen enthielt[306] für sie ein neues Evangelium. Das Mystische, welches die Lehre von der dämonischen Macht der Liebe enthält, nahm namentlich die Geister, welche einer poetisch-mystischen religiösen Richtung sich zuneigten, gefangen. Die magnetischen Emanationen dieser Macht glaubte ihr verwirrtes Gefühl als eine Emanation göttlichen Geistes zu empfinden und so hatten diese Dichtungen für ihre Zeit die traurige Folge, daß sie die romantische Verwirrung des Gefühls und der Phantasie, welche bereits Chateaubriand's »Génie du Christianisme« ausgesprochen und die namentlich durch Lord Byron's himmelhochfliegende und doch skeptisch-frivole Muse Nahrung und Entwickelung gefunden hatte, nach erotischer Seite auf ihre Spitze getrieben haben. Es half nichts, daß die Dichterin, ein echtes Kind Apollo's, sich von Tendenz und Sophistik sinnlicher Leidenschaft frei zu machen suchte, daß sie jene unheilbringenden Erstlinge ihrer Muse verwarf2 und, wie Chateaubriand gegenüber seinem »Réné«, wünschte sie nicht geschrieben zu haben: die Jugend war entflammt von dem neuen Evangelium, die Jugend glaubte an dasselbe, die Jugend lebte nach ihm!

Liszt wurde ebenfalls in diesen Strudel hineingezogen. Er wurde für ihn verhängnisvoll. Konnte er auch die germanischen Einflüsse seiner Erziehung zu keiner Zeit vernichten, war auch die Achtung und das Gefühl für die Vernunft der Sitte zu stark ihm eingeboren, um sie je ganz verleugnen zu können: so haben doch die Jugendeindrücke, welche in der Gestalt und im Geist einer Sitte und Gesetz zersetzenden Zeit ihm geworden, die falschen Ideale, welche letztere ihm gegeben, mächtig genug auf ihn eingewirkt, um ihm Gewohnheiten zu erziehen auch sich über Sitte und Gesetz zu stellen, wo sie den Leidenschaften seines Herzens entgegen traten.

Als der Jüngling Liszt ebenso neugierig wie wissensdurstig, den Saint-Simonistischen Lehren lauschte, hatte ihn noch keine sinnliche Leidenschaft mit in den Kultus gezogen, welchen père Enfantin seiner Gemeinde zu eröffnen bestrebt war. Jedenfalls aber waren die dieser Richtung angehörenden Lehren keineswegs dazu geeignet sein ethisches Bewußtsein zur Klarheit und Kraft zu entwickeln – ebensowenig wie das Leben in Paris selbst, sowie die allgemeine Anschauung über Liebe und Ehe seitens der Franzosen, welche von der der christlich-germanischen Bildung entstiegenen[307] sehr verschieden ist. Das feurige, leichtlebige und chevalereske Naturell des Gallo-Romanen hat von jeher in l'amour und la gloiere seine Ideale gefunden und l'amour in la gloire und la gloire in l'amour versetzt. Das »galante Abenteuer« gehört zur Lebensluft des Franzosen. Sein Naturell hat den Verhältnissen beider Geschlechter einen Charakter geschaffen, welcher die ethische Vertiefung und Verklärung der Liebe durch die Ehe und der Ehe durch die Liebe weniger erstrebt, als es im Bedürfnis der germanischen Natur liegt. Die Ehe ist dort mehr eine Sache der Konvenienz, geregelt durch sie und die Etikette, und die Liebe ein Schmetterling, der am Gängelband heißwalliger Phantasie seinen Lebenskurs für sich durchmacht. Unter solchen allgemeinen Anschauungen hört eine im germanischen Sinn gedachte Entwickelung des ethischen Bewußtseins und ethischer Idealität des Einzelnen auf. An ihrer Stelle steht das Gefühl für formellen Anstand und formelle Sitte.

Hatte sich auch bei Liszt durch das innige Zusammenleben mit seiner Mutter germanische Empfindungsweise erhalten und theilweise auch ausgebildet, so konnte sie doch bei dem Leben, das ihn rings umgab, nicht zu einer Macht werden, die stark genug war, um der französischen Anschauung im allgemeinen und dem romantischen Liebesevangelium insbesondere ein Gegengewicht geben zu können. Er war in dem Stadium jugendlicher Erregung, wo »Bilder bestimmen und Metaphern überzeugen, wo Thränen Beweise sind und die Konsequenzen begeisterten Hingerissenseins den Vorzug vor ermüdenden Argumenten haben.«

Der persönliche Verkehr mit den an der Spitze des romantischen Evangeliums stehenden Poeten, mit Jules Sandeau, Viktor Hugo, Alfred de Musset und vielen anderen, und vor allen mit George Sand selbst trugen, ebenso wie ihre Dichtungen dazu bei, sein ohnedies unter dem Einfluß der Romantik heftig schwingendes Gefühlsleben mit dem Zeitgeist vollends zu verbinden. Die Phantasie ergriff das Scepter, das Paradoxe der Lieblingshelden Sand'scher Muse spukte in ihm herum, der Satz von der dämonischen Gewalt der Liebe als Ausdruck ihres höchsten Wesens schien ihm Wahrheit, und so zogen die falschen Schattenbilder der letzteren in ihm ein und mischten sich als Irrlichter mit seinem glühenden Streben nach innerer Veredlung. –

Es war 1834, als sich die für des Jünglings Liebesideale[308] leider bedeutungsvollen Beziehungen zwischen ihm und George Sand anknüpften. Die Dichterin war so eben von ihrer italischen Reise zurückgekehrt. Ihr Name war durch die leidenschaftlichsten Angriffe und enthusiastischsten Vertheidigungen seitens ihrer Gegner und Freunde nicht minder, wie durch die Feuerbrände, welche sie in Sitte und Herkommen warfen, über Nacht zu einer Berühmtheit geworden und der Ruhm des Genies begann ihn zu umleuchten. In dieser Zeit war es, wo Alfred de Musset den feurigen jungen Künstler auf Wunsch der Dichterin zu ihr führte. Liszt stand von da an einige Jahre hindurch in engem Verkehr mit ihr. Bald zählte er zu den intimen Freunden, deren Beziehungen das seit Balzac's Roman »Camaraderie« Mode gewordene Wort »kameradschaftlich« deckte3, das aber hier nicht im Sinne journalistischen Kliquenwesens wie bei Balzac aufzufassen ist, sondern mehr in dem der George Sand untergeschobenem Sinne unbegrenzt-vertraulicher Besprechung. Die falsche Idealität der dreißiger Jahre sah in solcher auch in der Freundschaft zwischen Mann und Frau geübten Intimität den Ausdruck einer erhabenen Seele.

Auf dieser Seite ihres persönlichen Verkehrs lag ein gefährlich korrumpirender Einfluß: gefährlicher für den Jüngling als der ihrer Dichtungen selbst. Denn falsche Theorien von Büchern gelehrt wirken nicht so unmittelbar eindringend wie die, deren Lehre die Praxis übernimmt. Diesen persönlichen Beziehungen gegenüber bleibt es eine beachtenswerthe Erscheinung, daß in Liszt zu keiner Zeit eine herzliche Sympathie für die Dichterin selbst sich entwickeln konnte. Es war, als ob im tiefsten Grund seiner Seele die germanischen Reminiscenzen instinktiv gegen sie reagirt hätten. Damals, als Alfred de Musset ihn zum erstenmal zu ihr geleitete, verbrachte er einen Abend in ihrem Salon. Aber mit Widerstreben war er ihrer Einladung gefolgt, und ein innerer Frost verließ ihn nicht während des ganzen Abends. Er stand noch am Eingang seiner romantischen Verwickelung und die schöne, geniale moderne Kirke erfüllte ihn mit heimlichem Grauen. Die Wirkungen der Phantasie jedoch waren damals stärker und mächtiger[309] als das in diesen Zeichen sprechende Gefühl für wahre Idealität.

Korrumpirend wie der Charakter seiner persönlichen Beziehungen zu George Sand waren ihre Erstlingswerke auf ihn. Sie bestrickten seine Phantasie, konnten aber ebenso wenig sein Gefühl für wahre Ethik ganz verdecken, wie seine persönlichen Beziehungen sein Gefühl für germanische Sitte ersticken konnten – es brach immer durch alle Irrthümer hindurch. Von dem großen Zauber aus, den sie auf seine Phantasie ausübten, erklärt sich ihre Einwirkung auf seine Auffassung der Liebe und Ehe. Insbesondere hat der 1834 erschienene und heftig diskutirte Roman»Léone Léoni«, welcher die absolute Liebe selbst unabhängig von der Achtung glorificirt – »so lange du auf meine Besserung gehofft, hast du mein eigentliches Wesen nie geliebt!« ruft Léone der Julietta zu – seinen Idealen bezüglich der Liebe und Liebesopfer der Frau eine falsche Richtung gegeben. Er sah in Worten, wie den citirten, nur die kühne, stolze, männliche, sich auf sich selbst stellende Liebe; die Blasphemie jedoch, die sie der Ethik und höheren Wahrheit ins Gesicht schleuderten, die moralische Entwürdigung der Frau, die sie enthalten, wollte er nicht sehen. Julietta galt ihm als Typus – idealer Frauenliebe. Er sah in ihr nur die vom Manne, von Dichtern und Künstlern zu allen Zeiten zum Ideal erhobene Eigenschaft des Weibes: die unbedingte Liebe, die Liebe, die alles glaubt, hofft und duldet; das aber sah er nicht, daß die sittliche Kraft, welcher die wahre Würde und innere Schönheit des Weibes entspringen, ihr fehlten. Jenes Ideal mag auch George Sand, als sie ihre Julietta schuf, vorgeschwebt haben. Aber sie sah es nur im Hohlspiegel ihrer Zeit: darum das widerliche Zerrbild echter Frauenliebe. Die Julietta dient nur dem diabolischen Triumphlied dämonischer Leidenschaft, wie Léone Léoni es repräsentirt, als Folie.

Mit Hartnäckigkeit vertheidigte Liszt oft Sätze, wie die angeführten, jedoch eben so oft aus innerer Parteistellung, aus Freude am Paradoxen und aus dem Gefühl der Ritterlichkeit gegen Frauen, wie aus innerer Verblendung.

Aber er vertheidigte nicht nur George Sand: er erwies ihr auch andere Freundesdienste. Damals, als »Léone Léoni« in den Spalten der »Revue des deux mondes« erschien, war Liszt der Vermittler zwischen der Dichterin und dem ihm befreundeten[310] Gustave Planche, dem gefürchteten Kritiker und Mitarbeiter dieser Zeitschrift. Planche war sehr entrüstet über den Inhalt dieses Romans, auch über seine künstlerische Durchführung, und sagte Liszt die schneidendsten Worte über George Sand's Mangel wahrer Gestaltungskraft, der Schemen veranlasse, aber das Schaffen lebensfähiger Charaktere hindere. Die Verachtung aber, mit welcher der berühmte Kritiker diesen Roman behandelte, schob der verblendete Jüngling, berauscht von dem blühenden Zauber und der Eloquenz der Sprache, welche die Dichterin hier entfaltete, weniger auf dessen Ethik als auf seine literarischen Mängel.

Der Geist der Romantik aber, den der junge Künstler in diesen literarischen Kreisen einsog, verband sich mit einer Herzensleidenschaft und gab dieser die Richtung und den Charakter. Die verschiedensten Stadien romantischen Wahnes durchlebte er nun – durchlebte sie bis zu dem Punkt, wo die Wahrheit die Hohlheit dieses Wahnes wohl aufdecken mußte, aber auch seine Spuren nicht mehr tilgen konnte.

Fußnoten

1 Kreyßig, »Studien zur französischen Literatur- und Kulturgeschichte.«


2 »Lettres d'un Voyageur«. à Rollinat.


3 Das von Heinrich Heine durch einen Brief an Laube hervorgerufene, später jedoch von ihm widerlegte Gerücht anderer Beziehungen zwischen Liszt und George Sand bedarf heutigentags keiner Widerlegung mehr.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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