XIII.

Schöpferische Keime.

(Paris 1830–1835.)

»Grandes Etudes de Paganini«. »Glöckchen-Fantasie«. Die erste Partition de Piano. Berlioz-Transcriptionen. Erste Übertragung eines Liedes von Schubert (die Rose). Ihre Doppelbedeutung. »Apparitions«. Viktor Hugo's Gedicht: »Ce qu'on entend sur la montagne«.


Aber auch der producirende Künstler war thätig. In den bis jetzt besprochenen Zeitraum fallen mehrere Kompositionsversuche Liszt's, Elemente in sich tragend, welche in der Zukunft als schöpferische Keime individueller Eigenartigkeit, sowie einer sich vorbereitenden neuen Kunstphase sich erweisen sollten.

Dabei sind sie ein treuer Abdruck seiner bisherigen geistigen und künstlerischen Entwickelung und betreten zugleich das Specialgebiet, auf welchem er feine ersten Blumen der Popularität gepflückt hat, ein Gebiet, das trotz vieler Nachfolger und Nachahmer sein specifisches Eigenthum geblieben ist: das der Bearbeitung und Übertragung, richtiger bezeichnet: der Übersetzung.

Wir haben bereits erzählt, wie Paganini ihm den ersten Anstoß hiezu gegeben und wie dessen »24 Capricci per Violino« nicht nur auf seine Technik, sondern auch auf seine Phantasie einwirkten und ihn das »Übersetzen« finden ließen. Er hatte damals angefangen jene Stücke dem Klavier zu übertragen, ließ aber diese Arbeit mehrere Jahre unfertig in seiner Mappe liegen. Erst als er sie, eine große Vorliebe für die Originale hegend, nach seinen großen Virtuosenerfolgen in Wien (1838) wieder aufgenommen, das frühere noch einmal bearbeitet und durch Neues ergänzt hatte, übergab er sie – ein Meisterwerk – dem Druck unter dem Titel:


[279] Bravourstudien nach Paganini's Capricen.

Für das Pianoforte bearbeitet etc.


(verlegt 1839 von Tobias Haslinger in Wien). Diese Studien, obwohl sie Liszt's erste Übersetzungsversuche enthalten, können darum nicht als seine ersten Versuche selbst angesehen werden, aber es läßt sich an ihnen ermessen, was dem schöpferisch-kühnen Virtuosen damals vorgeschwebt, als er am Piano sitzend, die Klänge Paganini's im Ohr, sich zum Schöpfer einer neuen Sprache des Klaviers erhob. Davon erzählt das fertige Werk. Welche Neuheiten, welche Schwierigkeiten traten aus ihm seinen Zeitgenossen entgegen! Es galt noch viele Jahre nach seinem Erscheinen für unspielbar und – unverständlich.

Robert Schumann, der es in der von ihm gegründeten und redigirten »Neuen Zeitschrift für Musik« besprach1, meinte, daß vielleicht nicht vier bis fünf auf der ganzen weiten Welt wären, die es spielen könnten. »Ein Blick in die Sammlung«, sagt er, »auf das wunderliche wie umgestürzte Notengebälke darin, genügt dem Auge sich zu überzeugen, daß es sich um nichts Leichtes handelt. Es ist, als ob Liszt in dem Werke alle seine Erfahrungen niederlegen, die Geheimnisse seines Spiels der Nachwelt überliefern wollte«. Und Liszt stand erst am Anfang der Überlieferungen seiner Erfahrungen!

Aus diesem »wunderlichen, umgestürzten Notengebälk« sollte ein neuer Schreibstil – jetzt Allen geläufig – sich entwickeln und das, was kaum »vier bis fünf« Zeitgenossen zugänglich war, hat inzwischen eine neue musikalische Generation bilden helfen. Aus Schumann's Wort aber geht hervor, wie neu, wie frappant und kolossal die Neuerungen waren, die hier vorlagen. Richtig erkannte er, daß es sich nicht um eine pedantische Nachbildung und eine bloß harmonische Begleitung der übertragenen Violinstimme handle, sondern um gleiche Effekte für das Klavier, wie sie Paganini auf der Geige hervorgerufen.

Liszt hat bei diesem Werk nicht Nummer um Nummer die Capricen dem Klavier übertragen oder übersetzt, sondern in höchst genialer Weise übersetzend sie zu sechs Nummern verschmolzen und, wie Schumann bewundernd sagt, »bis ins Kleinste sorgfältig[280] gearbeitet«, dabei »den Geist des Originals auf das Treueste widerspiegelnd«. Ja, letzterer ist so treu wiedergegeben, daß sogar Eigenthümlichkeiten der Bogenführung, wie z.B. in Nr. 4, in unserer Vorstellung lebendig werden. Interessant ist es, daß diese Stücke Paganini's zur selben Zeit auch Robert Schumann zur Übertragung gereizt und er dieselbe ebenfalls unter dem Titel »Etudes« 1833 und 1835 in zwei Heften der Öffentlichkeit übergeben hat, interessant ferner sie zu vergleichen, wozu Liszt mit seiner Ausgabe gewissermaßen aufforderte, indem er bei einer Nummer Takt für Takt Schumann's Übertragung über die seinige setzte.

Das Renommée unüberwindlich zu sein, welches über Liszt's »Bravourstudien nach Paganini« herrschte, veranlaßte ihn dieselben zwölf Jahre später noch einmal durchzuarbeiten und eine zweite Ausgabe 1851 bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erscheinen zu lassen. Diese Ausgabe, »dédiée à Madame Clara Schumann«, trägt den Titel:


Grandes Etudes de Paganini

pour le Piano par etc.


Nun erschienen die Bravourstudien den Pianisten »spielbarer« und die Virtuosen suchten durch sie im Koncertsaal zu glänzen. Insbesondere erfreute sich Nr. 6 derselben, die »Kampanella«, ihrer Gunst. Viele Pianisten haben sie mit glänzendem Erfolg producirt. Seitdem ist jene Sammlung in der Virtuosenwelt mehr heimisch geworden. –

An diesen Studien ist zu ersehen, was Liszt in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre für Klavierspiel und Übertragung erstrebte. Sie zeigen es uns in vollendeter und gereifter Gestalt. Daß er aber in dem Moment des Erstrebens diese Meisterschaft formeller Gestaltung, sowie der Entfaltung technischen Glanzes, der alles überbietenden Bravour und Kühnheit noch nicht vollständig entwickelt besitzen konnte, liegt auf der Hand. Alles war damals noch im Entstehen und zeigte die Anfänge des Kommenden. Wie an der Übung der Kraft die Kraft wächst, so wachsen Bravour, Kühnheit und Formgestaltung an ihren eigenen Schwingen.

Der frühere technische Standpunkt von Liszt's Virtuosenerrungenschaften, letztere als »schöpferische Keime«, ergiebt sich aus[281] mehreren Kompositionen der vorgenfer und genfer Periode, welche die Weitgriffigkeit der Akkorde, die unerhörte Kühnheit der Sprünge, sowie die alle Stimmenregister des Klaviers gleichzeitig erklingen machenden Verdoppelungen von Melodie und Harmonie – diese und alle andern wesentlichen Neuerungen Liszt's nur wie aus der Ferne ahnen ließen. Überwiegend bewegt er sich noch in engen Lagen. Seine bravourösen Momente treten jedoch nicht wie die anderer Virtuosen als Bravour an sich auf, sie sind schon hier immer Ausdruck meist hochgehender Stimmungen der Kraft; ihre Form jedoch ist noch nicht derartig entwickelt, um sich zu einem neuen Stil verdichten und klären zu können. Aber sie verheißen einen solchen; denn alles weist auf eine über Virtuosenmache hinausgehende Schöpferkraft hin. Überall bricht Neues hindurch, aber noch unausgeprägt. Neues und Dagewesenes stehen noch nebeneinander, aber selbst das Dagewesene scheint verjüngt. Sprößlinge sitzen an seinen Zweigen. –

Zu Liszt's Paganini-Literatur für Klavier gehört außer den Etüden noch seine:


Grande Fantaisie de Bravura

sur la Clochette de Paganini,2


welche bei der ersten pariser Ausgabe richtiger als Variationen bezeichnet war. Mit dieser Komposition eröffnet Liszt die Reihe seiner großen glanzvollen Virtuosen- und Koncertstücke.

Der Einfluß Paganini's ist hier nach Seite der technischen Schwierigkeiten, des Glanzes, der Bravour unverkennbar. Eine Fülle, der Klaviermusik bis dahin noch fremder Effekte tritt uns hier entgegen, aber bei aller Entfaltung technischen Glanzes zeigt sich doch nirgends eine leere Spielerei. Es erscheint vielmehr alles als Ausdruck eines wohl weltlich scheinenden, aber doch mehr groß gestimmten Geistes. Diesen Charakter tragen insbesondere Modulation und Passagenwerk. Bei einem Vergleich mit denen seiner Zeitgenossen – Paganini inbegriffen – ist das letztere besonders auffallend. Arbeit und Klang desselben, dieser als Schein des Geistes, sind bei Liszt ganz anders. Als ornamentischer Theil zeigt es sich sowohl als Klangfülle und Glanz gebender[282] Schmuck, als auch als ein mit dem Inhalt innigst zusammenhängendes Element, das von diesem Farbe und Charakter erhalten hat, dieselben aber reichen Glanzes wieder über den Inhalt ergießt. Hiermit tritt es auf als organisches Glied des Ganzen und, wie bei Chopin, als integrirender Bestandtheil des Kunstwerkes. Bei seinen Zeitgenossen ist das nicht der Fall. Da bringt es die Passage nicht weiter als bis zum nichtssagenden, des geistigen Reizes baren Tongeklingel. Wie der Charakter, so ist die Arbeit seines Passagenwerkes ebenfalls ganz anders als bei allen andern Virtuosen seiner Zeit, nur Chopin ausgenommen, welcher in neuer und sorgfältiger Arbeit ihm Vorgänger war, ihn auch hier übertreffen konnte, aber ihm nachstand an Vielseitigkeit und titanischer, himmelerobernder Stimmung. Scharfe harmonische Kombinationen, sowie die Benutzung der dissonirenden Nebentöne in origineller Weise – der Einfluß Berlioz's – gaben ihm einen unerschöpflichen Reichthum an Charakter- und Stimmungsnüancen, sowie an Klangwirkungen von überraschendster Neuheit und Schönheit. Die Einheit des so viel und so häufig nur als nebensächliches Beiwerk erachteten Schmuckes mit dem Stoff giebt den Koncertstücken Liszt's vom Anfang an einen künstlerischen Werth, der sie über das Ephemere des Tages und der Virtuosenmache erhebt.

Dieser künstlerische Werth wird um ein nicht geringes erhöht durch den Stempel wahren und echten Gefühls, welcher diesen Kompositionen unverwischbar aufgedrückt ist. Da sind keine gemachten Stimmungen, kein gekünstelter Gefühlsausdruck, keine hohle Gefallsucht, wie bei den allgemeinen Virtuosenwerken. Die Thräne, die er weint, ist nicht erheuchelt, seine Kraft und Großheit sind kein leerer Pomp, seine Schönheit ist kein erborgter Schein – überall spricht sich Wahrheit aus, »das erste und letzte, was vom Genie zu fordern ist«, wie Goethe den Charakter des Genies fundirend sagt. Liszt konnte als Jüngling übertreiben, in Extremen sich bewegen, aber nie lag gemachtes Wesen seinen Übertreibungen, wie seinen extremen Bewegungen zu Grunde. Gegner wohl nannten sein Spiel und seine Musik »Effekthascherei«. Aber so wenig sich sagen läßt, Blitz und Donner seien eine Effekthascherei der Natur, obwohl sie zu ihren Effekten gehören, ebenso wenig lassen sich seine Übertreibungen so nennen. Letztere gehören mit zum Durchgangspunkt jugendlicher, stark auf Stimmung und[283] Phantasie angelegter Naturen und sind ein Ausdruck der Überfülle des Gefühls und der Einbildungskraft. Seine Stimmungen, sie mochten weltlich glanzvoll, dunkel oder auch himmelstrebend nach Außen scheinen, waren es auch innerlich. In dieser inneren Wahrheit lag ihre die Gemüther packende Macht.

In seinen Koncertstücken ist jedoch nicht nur dieser große Zug innerer Wahrhaftigkeit zu finden, sondern auch die Spuren jener geistigen Strebungen sind unverkennbar, welche Liszt's Individualität durch alle Lebensphasen begleiten und zur besonderen erheben und die Heine das »unermüdliche Lechzen nach Licht und Gottheit« genannt hat. Sie brechen hindurch durch allen weltlichen Glanz und durch alle irdische Pracht und geben ihnen das himmelstürmende Wesen und die verzehrende Gluth, die ihnen so eigenthümlich und oft fälschlich mit »dämonisch« bezeichnet worden sind. Oder sie stehen im Hintergrund und werfen über die Gedanken den verklärenden Hauch der Poesie oder den hehren Schein der Apotheose. Sie sind das Element, das seiner Kraft, seiner Großheit und Schönheit den besonderen Charakter gegeben.

Liszt's »Glöckchen-Fantasie«, obwohl das erste seiner Virtuosenstücke, trägt bereits alle eigenthümlichen Momente seiner Lyrik in sich. Ihre Form ist romantisch, aber ohne Verwilderung. Die klassische Periodicität ist wohl durchbrochen, aber der Durchbruch hat sie nicht zerstückt. Klassische Disciplin ist bei ihr unverkennbar. Im Allgemeinen und Ganzen läßt sich sagen, daß hier wie bei allen seinen Virtuosenstücken der große Stil der Freske vorherrschend ist. – Die Fantasie selbst hat wenig Verbreitung gefunden. Liszt spielte sie wohl damals, als er sie komponirte, auch später mehrmals öffentlich, konnte aber nie einen so durchgreifenden Erfolg wie mit seinen späteren Fantasien mit ihr erreichen. Sie steht am Anfang seiner Laufbahn.

Hatte Liszt mit den genannten Arbeiten neue Wege betreten, so war das mit folgenden nicht minder der Fall. Mit ihnen zeigt sich Liszt zum ersten Mal als Übersetzer im großartigsten Stil. Schon mit seiner ersten hierher bezüglichen Arbeit, der Übertragung für das Klavier der Sinfonie fantastique von Berlioz, fand er für dieses Gebiet ungeahnte Wege und Gesichtspunkte.

Die Übertragungen von Orchesterwerken für Klavier nahmen in jener Zeit keinen hohen Rang als künstlerische[284] Arbeiten ein. Erst durch Liszt's Vorgehen sind sie etwas ganz Anderes geworden, als sie früher waren, wo man auf ein nur notengetreues Transponiren gesehen, ohne Rücksicht darauf, ob das Notenbild der Eigenartigkeit des Klavieres entsprach, ob es auf der Tastatur spiel- und ausführbar sei oder nicht. Wer z.B. Klavierauszüge der Mozart'schen Opern unter den Händen gehabt, kennt die Armuth und Unzulänglichkeit des notengetreuen Transponirens zur Genüge. Hiezu kam, daß dasselbe nicht allzu selten ganze Partien der Partitur weglassen mußte, weil Begleitung und Melodie in derselben Lage sich befanden, oder auch, daß die Partitur alle Tonlagen gleichzeitig beanspruchte, während die Klaviatur das Oben, das Unten und in der Mitte zugleich, nicht geben konnte. Die Übertragungen waren im höchsten Grad unklaviermäßig. Aber noch unendlich viel mehr, als dieses der Fall war, litt der Geist des Kunstwerks selbst unter denselben. Anstatt üppig wallender Saat ein mageres Ackerfeld, anstatt lebendiger Farbe eintöniges, die Linien verwischendes Grau – so ohngefähr verhielten sich Kunstwerk und Transposition zu einander. Diese Kontraste wurden noch dadurch vermehrt, daß das Transponiren meist als ein musikalischer Handlangerdienst betrachtet wurde, welchen bezüglich technischer und theoretischer Kenntnisse wohl gute, aber bezüglich der höheren schaffenden wie reproducirenden Kunst nichttalentirte Musiker meist besorgten. Neben diesen todten, nur an das Mechanische sich lehnenden Übersetzerdienst stellten Liszt's Arbeiten im schärfften Kontrast alle jene Eigenschaften des Übersetzens, die dem Geist und der schöpferischen Natur entspringen. Eine neue, der Anlage der Partitur und der Fähigkeit des Instrumentes entsprechende Technik schaffend, ein treues Bild des zu übersetzenden Werkes in seinem Geist, schuf er es zum zweiten Mal; kein lebensgetreues Abbild, sondern ein lebendiges Doppelbild des ersteren.

Seine erste hierher bezügliche Arbeit war die Übertragung der Sinfonie fantastique seines Freundes H. Berlioz:


Episode de la vie d'un artiste.

Partition de Piano.


Sie zeigte zum ersten Mal, um mit Weitzmann's Worten zu reden3, »durch welche bis dahin ungekannte Wirkungsmittel[285] das Klavier im Stande sei ein ganzes Orchester in seiner Tonfülle und seinen so verschiedenen Klangeffekten zu ersetzen.«

Diese damals nur von Liszt allein ausführbare Übersetzung erregte die Bewunderung aller Klavierspieler. Aber nicht allein die Bewunderung dieser, sondern auch die der Musiker überhaupt. Schumann sagte erstaunt über sie,4 daß diese Kunst des Vortrags, diese vielfältige Art des Anschlags und Pedalgebrauchs, das deutliche Verflechten der einzelnen Stimmen, das Zusammenfassen der Massen, die Kenntnis der Mittel und der vielen Geheimnisse, die das Pianoforte verberge, nur »Sache eines Meisters und Genies des Vortrags wie Liszt's« sein könne. Doch alle diese Punkte betreffen mehr die technischen Erweiterungen, welche er mit dieser Übertragung der Sache geschaffen. Indem er die Symphonie von Berlioz für sein Instrument gleichsam noch einmal komponirte, zeigte er, wie der Zwang zu beseitigen sei, den die buchstäblichen Übertragungen gegenüber dem Kunstwerk, wie gegenüber dem Klavier ausübten. Er lehrte eine neue Behandlung der Stimmlagen, der orchestralen Massen, der Stimmenverwebung und der Begleitung. Nun konnte die Idee klar und deutlich walten und das Bild des Komponisten brauchte nicht mehr unter den früheren technischen Mängeln zu leiden. Diese Aufgabe konnte aber auch nur ein Künstler lösen, welcher sich nicht allein das Klavier in phänomenalster Weise zu eigen gemacht hatte, sondern auch die komponistische Fähigkeit und Schaffenskraft, sowie dem Autor selbst insbesondere nach Seite der Phantasie, verwandte geistige Eigenschaften besaß. Denn nur ein dem Autor in Gedanken und Gefühl ebenbürtiger Geist wird befähigt sein bei der Übertragung eines Kunstwerkes auf einen anderen Stoff dessen ideelle Eigenartigkeit nicht nur unverwischt zu erhalten, sondern sie auch dem andern Darstellungsstoff so einzuhauchen, als wäre er mit der Idee ursprünglich verwachsen. Mit diesen Übertragungen von Orchesterwerken auf das Klavier ist es, wie z.B. mit der Übersetzung von Gemälden in Kupferstiche. Nur der Kupferstecher, der zugleich ein tüchtiger Maler und Komponist ist, wird ein Gemälde treu in der Zeichnung und ohne Verletzung seines geistigen Kolorits mit dem Stichel wiedergeben können. Ähnlich ist es[286] auf literarischem Gebiet mit der Übersetzung von Dichtwerken in eine andere Sprache. Hingabe an den Dichter, sprachliche Gewandtheit und rhythmische Virtuosität allein werden wohl nach allgemeiner und formeller Richtung genügen; um aber auch die Originalität, die Kraft und den Reichthum der Gedanken eines Autors wiedergeben zu können, setzen jene Eigenschaften seitens des Übersetzers noch die Fähigkeit voraus den Schöpfungsproceß seiner Dichtung dermaßen in sich erleben zu können, daß das Nachempfinden kräftiges Schaffen wird, dem die Kongenialität mit dem Dichter das seinem Geist entsprechende Wort schöpferisch in den Mund legt. Alle Übersetzungen in Wort, in Farbe, oder in Musik werden immer nur solchen Geistern gelingen, die dem Autor an Bildung und Phantasie verwandt sind.

Liszt's Übertragungen der Orchesterwerke anderer Meister für Klavier stehen in der musikalischen Literatur durch Treue der ideellen Wiedergabe, welche ebenso die dynamische wie orchestrale Wirkung berücksichtigt, durch ihr geistiges und formelles Anpassen an dieses Instrument, ja sogar durch die möglichste Nachahmung des instrumentalen Kolorits, sowie durch entsprechende Klaviereffekte, unübertroffen und unerreicht da.

Berlioz's genannte Symphonie war, wie gesagt, die erste derartige Arbeit Liszt's. Sie war so großartig, kühn und neu, daß sie als ein Markstein alter und neuer Zeit auf dem Gebiet der Übertragung da steht. Das Klavier ist hier vom Solo-Instrument zu einem Orchester herangewachsen.

Liszt nennt diese Übertragung »Partition de Piano«, auf deutsch: Klavier-Partitur. Eine neue Bezeichnung! Er wollte hiemit, wie er später sagte,5 seine Absicht gleich Jedem deutlich zu erkennen geben, daß er »dem Orchester Schritt für Schritt habe folgen wollen, so daß diesem nur der Vortheil der Massenwirkung und die Mannichfaltigkeit der Klänge« bliebe.

Die französische Ausgabe erschien in Mitte der dreißiger Jahre bei M. Schlesinger in Paris, die deutsche, welche zur Zeit vergriffen ist, Anfangs der vierziger bei Witzendorf in Wien. Eine neue Ausgabe mit wesentlichen von Liszt gemachten Umänderungen ist bei Leuckart in Leipzig 1877 erschienen. Dieser[287] Klavier-Partitur entnahm Liszt die Einzelpartien, welche er als Berlioz-Propagandist in seinen Koncerten 1835 und später häufig spielte. Dieselben erschienen auch in Separatdruck und waren:


Un Bal

(Sinf. fant. de H. Berlioz), –


der »Marsch zum Richtplatz«:


Marche au Supplice

(de la Sinf. fant. de H. Berlioz.)6


und endlich:


L'idée fixe. Andante amoroso

d'après une mélodie de Berlioz.


Diese Ausgaben erschienen, die ersteren beiden 1838 und 1843 bei Schlesinger, die letztere 18 (?) bei Mechetti (Wien). Später überarbeitete Liszt den Marsch noch einmal und stellte ihm die»Idee fixe«, ebenfalls neu bearbeitet, als Einleitung an die Spitze. Ein Übergang verbindet Einleitung und Marsch. Diese Ausgabe (1866, bei Rieter-Biedermann) erschien gleichfalls unter dem Titel:Marche au Supplice. Die Arbeit selbst hat gewonnen. Man sieht die Jahre der Erfahrung und inneren Durcharbeitung, welche zwischen dieser und der früheren liegen. Es ist alles krystallklar und durchsichtig geworden.

Damals, als Liszt die Sinfonie fantastique dem Klavier übertrug, komponirte er über Motive von Berlioz eine


Fantaisie symphonique

pour Piano et Orchestre.

sur le chant du Pêcheur et le choeur des Brigands de Berlioz.


Diese Fantasie, welche ungedruckt blieb, hatte er, wie wir bereits wissen, während eines Landaufenthaltes in La Chênaie bei Lamennais komponirt. In den dreißiger Jahren spielte er sie mehrfach öffentlich. Zum erstenmal in einem von ihm am 9. April 1835 inl'Hôtel de Ville gegebenen Koncert, wo sie nach derGazette musicale7 große Sensation hervorgerufen hat. d'Ortigue berichtet von ihr, daß sie durch »kühne und neue[288] Verbindungen der Harmonie sehr tiefe Kenntnisse verrathe, daß ihre Instrumentation farbenreich und sie insbesondere durch Versetzung der Grundthemen und durch höchst originelle aus ihnen gewonnene Nebengänge unerwartete herrliche Effekte bringe«. Joseph Mainzer hingegen, der Berichterstatter der Zeitschrift Cäcilie, schrieb der letzteren 18378, daß sie »neben glänzenden Lichtpunkten vieles Undeutliche und Verworrene« enthalte.

Bestimmtes läßt sich in Folge dessen, daß diese Komposition nicht veröffentlicht wurde, nicht über sie festsetzen. Aber d'Ortigue's Referat bezeichnet Momente, welche den schöpferischen Keimen angehören.

Noch drei Klavier-Partituren arbeitete Liszt in jener Zeit. Die eine von ihnen blieb jedoch bis 1845 ungedruckt in seiner Mappe. Es war das die schon gegen 1828 von Berlioz komponirte:


Ouverture zu Franc-Juges,

Partition de Piano,


welche er 1845 Schott's Söhnen in Mainz zum Druck übergab. Die zwei anderen waren die Symphonie: »Harald en Italie« und die Ouvertüre »du Roi Lear«, welche aber beide, noch bevor sie gedruckt waren, verloren gingen. Doch dürfte es nicht unmöglich sein, daß sie eines Tages wieder zum Vorschein kommen.

Mit Ausnahme dieser letztgenannten Klavier-Partituren, welche Liszt 1836 in Genf gearbeitet, gehören die vorerwähnten an Berlioz anknüpfenden Arbeiten sämmtlich in die Zeit 1832–1835. Jahrzehnte später – auf Veranlassung des Musikalien-Verlegers Rieter-Biedermann, der ein großer Verehrer der Muse Berlioz's war, – übertrug Liszt noch Mehreres aus Werken desselben Meisters dem Klavier. – Um die Berlioz-Transkriptionen nicht getrennt dem Leser vorzuführen, nennen wir diese schon jetzt. Es sind:


Danse des Sylphes

de la Damnation de Faust,


und:


[289] Marche des Pélérins

de Harald en Italie.


Beide Nummern erschienen 1866 bei dem oben genannten Verleger. Auch bei Litolff in Braunschweig wurde schon zwölf Jahre früher (1854) eine Übertragung:


Bénédiction et Serment

(de l'Opéra Benvento Cellini)


edirt, welche zusammen die Berlioz-Transkriptionen abschließen. Die letztere ist während eines gleichzeitigen Besuches Berlioz's und Litolff's bei Liszt in Weimar entstanden.

Dieser bis jetzt besprochenen Periode Liszt's (1832–1835) gehört noch ein anderer Übertragungsversuch an, der hier zu nennen ist: die erste Transkription eines Franz Schubert'schen Liedes.


Die Rose (La Rose)9


bildet den Anfang jener Reihe glänzender und genialer Liedübertragungen, deren Genieblitz die lyrische Muse Schubert's gleichsam zum zweiten Mal ins Leben zurückgerufen hat und die, je tiefer man in den künstlerischen Entwickelungsgang Liszt's hineinsieht, noch eine ganz andere Bedeutung gewinnen als die der genialen einzig dastehenden Übertragungen, die schon an und für sich hier Kunst geworden sind.

In der musikalischen Biographie Liszt's sind seine Liedübertragungen, speciell die Schubert's, die Voräußerungen seines Princips als Komponist: die reine Musik mit der Poesie zu verbinden. Derselbe Drang, der ihn musikalisch zur Poesie trieb, führte ihn dazu das Lied in Klaviermusik zu übersetzen, womit er zugleich eine Musikgattung schuf, welche einen Übergang zu diesem Princip bildet, ohne aber dabei das Gebiet der Lyrik zu verlassen, wie es Berlioz mit seinem Musikroman »Episode de la vie d'un artiste« gethan hat. Sein[290] geistiges Ergriffensein von der Poesie bahnt sich in seinen Liedübertragungen einen Ausdruck, welcher sich den Momenten einreiht, die seinen Beruf und seine besondere Richtung als Instrumentalkomponist vorverkünden. Historisch und ästhetisch sind sie der Vorläufer seiner Programm-Musik.

Die Übertragung der »Rose« gehört somit in zweifacher Beziehung zu den »Schöpferischen Keimen«. Liszt hatte die »Rose« mit andern Liedern des wiener Komponisten durch die Gräfin d'Appony kennen gelernt: ihr auch dedicirte er sie. Sie machten einen so warmen Eindruck auf ihn, daß er, wie er uns einmal sagte, »ganz verliebt« in sie war. – Diese Übertragung gehört dem Frühjahr 1835 an. Sie und die schon genannten Klavier-Partituren und Transkriptionen bilden die zweite Gruppe der Kompositionsarbeiten Liszt's.

Ein dritte Gruppe derselben setzt sich zusammen aus den »Apparitions«, aus dem früher besprochenen Fragment »Pensée de Morts«, sowie aus dem Lamennais gewidmeten Klavierstück »Lyon«. Sie zusammen sind Originalkompositionen für Klavier. Die


Apparitions,10


drei halb phantasieartige, halb der strophischen Liedform angehörende Klavierstücke, sind Poesien, die, obwohl von feinster Durcharbeitung, doch mehr gedichtet als komponirt erscheinen. Als Ausfluß poetischer Stimmung und Intuition rechtfertigen sie vollständig den Titel: »Erscheinungen«. Ungleich klarer und einheitlicher in der Form als seine »Erinnerung an die Todten« deuten sie, so klein ihre Form ist, auf das bezüglich Liszt's klassischer Bildung bereits gesagte hin. Sie bekunden, trotzdem sie nach Innen und Außen zu den romantischen Gebilden zählen, eine geordnete Grundlage. Ihre Harmonien und Rhythmen sind geistvoll, frappant und neu. Letztere, welche sich in reizendes, die Melodien umwindendes Figurenspiel hinein legen, erinnern an Chopin's träumerische Ornamentik. No. 1 und 2 der Stücke athmen eine zauberhafte Anmuth, Innigkeit und schwärmerische Poesie. Innerlich sind sie ganz und gar das Gegenstück zu der nach Außen[291] strebenden Kraft, wie die »Glöckchen-Fantasie« sie zum Ausdruck gebracht hat. Das erste ist Madame la Duchesse de Rauzan, das zweite Madame la Vicomtesse de Larauche-Foucold gewidmet, welche beide Schülerinnen von ihm waren. Die dritte Nummer der»Apparitions« – sie ist ohne Widmung – ist eine Phantasie über eine Walzermelodie von Franz Schubert, der wir noch einmal begegnen werden.

Zu diesen träumerisch-poetischen Tonblüthen bildet, wie die »Glöckchen-Phantasie« nach der Seite äußeren Glanzes, das Klavierstück:


Lyon


nach der Seite sturm- und kraftvoller Empfindung und dramatischer Spannung einen Gegensatz. »Lyon« ist ein Charakterstück, das, wie schon gesagt, der französischen Zeitgeschichte angehört. Seine harmonische Grundlage ist sehr merkwürdig, insbesondere durch den Gebrauch des übermäßigen Dreiklangs, dieses der Tonkunst in seiner Vielseitigkeit damals noch unerschlossenen Ausdrucksmittels, dessen Sprachgeheimnisse keiner wie Liszt erlauschen sollte.

Dieses Klavierstück wurde als erste Nummer der »Impressions et Poesies« des »Album d'un Voyageur« 1842 (Haslinger, Wien) veröffentlicht. Als Liszt dieses Album einer Sichtung und Umarbeitung unterzog, nahm er es in die neue Ausgabe desselben nicht mit auf. Nur die Haslinger-Edition enthält es.

Diese drei Gruppen kompositorischer Arbeiten enthalten sämmtlich entschieden Neues, welches für die Zukunft auf Bedeutendes hinweist. Die verschiedenen Zweige der späteren Kompositionsthätigkeit Liszt's sind, wenn auch nur als Stimmungsmomente, angezeigt. Namentlich zeigen sich die seiner Kompositionen für Klavier vorbereitet. Die höhere Bravour, vertreten durch die erst besprochene Gruppe, findet ihren Gegensatz in der poetischen Lyrik der letzteren, während die mittlere ganz besonders die technische wie geistige Umgestaltung des Klavierspiels markirt. Überall Lebensblitze, Emporstrebendes, Originelles – schöpferische Keime einer großen Natur.

Sie alle traten nach Außen, doch erst durch ihre Weiterentwickelung werden sie faßbar. Im Stillen bereitete sich ebenfalls manches vor, das zurückgedrängt durch seine Virtuosenlaufbahn, erst nach einer Reihe von Jahren hervortrat. Dann allerdings[292] nicht als Keim, sondern in fertiger Gestalt. Die Idee symphonischer Dichtung empfing in die ser Zeit ihre erste Saat. Sie wurde ihm durch Viktor Hugo's großartiges und ergreifendes Gedicht: »Ce que' on entend sur la montagne«. Der Dichter las es damals einem Kreise literarischer Freunde und Künstler, unter denen Liszt war, als Manuskript vor. Der Eindruck, den es auf ihn machte, war so überwältigend, daß er haften blieb, Jahre und Jahre hindurch, und er sich nur durch eine symphonische Wiedergabe des Gedichtes von ihm befreien konnte Er wurde zum ersten Keim seiner symphonischen Poesien.

Fußnoten

1 Siehe: Schumann's »Gesammelte Schriften«. IV. Band, Seite 121.


2 Deutsche Ausgabe: Pietro Mechetti in Wien 1862. (?)


3 C.F. Weitzmann, Geschichte des Klavierspiels, Seite 154.


4 »Neue Zeitschrift für Musik.« III. Band, Seite 47. (Schumann's »Gesammelte Schriften«. I. Band, Seite 138.)


5 Siehe: Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band, Brief an Adolfe Pictet.


6 Bei der Schlesinger-Ausgabe dieses Marsches trägt der Umschlag irrthümlich die Angabe: Benvenuto Cellini de Berlioz.


7 1835 No. 15 »Concerts de la semaine«.


8 XIX. Band, »Paris im Januar 1837«.


9 Deutsche Ausgabe: 1835, Hofmeister in Leipzig.


10 Edirt 1834 (?) bei Schlesinger in Paris und 1835 bei Fr. Hofmeister in Leipzig.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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