XVIII.

Liszt als literarische Vorkämpfer musikalischer Reformen.

(Reiseperiode mit der Gräfin d'Agoult

1835–1840. I. Schweiz.)

Genf. Blandine. – Zurückgezogenheit vom öffentlichen Leben. Die Aufsätze: »De la Situation des artistes«. Ihre Stellung zur Zeitgeschichte und zu R. Wagner's »Kunst und Revolution«. Äußere Veranlassung zu seiner literarische Thätigkeit. Seine Forderung an Kunstkritik. Gleichzeitige musikalisch-literarische Bestrebungen in Frankreich wie in Deutschland.


Nachdem Frau von Flavigny nach Paris zurück gereist war, verließen Liszt und die Gräfin d'Agoult ebenfalls Bern. Sie wandten sich nach Genf, wo sie bis Ende des Jahres 1836 blieben. Nur ein musikalischer Ausflug Liszt's im Frühjahr 1836 nach Paris und gemeinschaftliche Gebirgstouren unterbrachen ihren genfer Aufenthalt.

Hier, in Genf, bezogen sie eine elegante Wohnung in der Rue Tabazau. Ein freier Blick öffnete sich von ihren Fenstern aus auf die großartige Jura-Kette, deren schweigsame Majestät, göttlich erhaben, von anderen Dingen als von menschlicher Leidenschaft sprach.

Davor aber lag der lemanische See – ein Bild ewig bewegten wechselnden Lebens.

So, wie das Panorama vor seinen Augen, so war es im Herzen Liszt's. In seinem Innern standen die Höhen der Ideale, davor aber lag der bewegte, oft wild gährende See.

Heroisch hatte er alle Folgen seiner Leidenschaft auf sich genommen. Aber er war kein stiller Dulder, so wenig als die Leidenschaft, die in ihm entbrannt, erloschen war. Zu erregt, mit seinem heißen Temperament zu sehr unter dem Einfluß des Augenblicks[334] noch stehend, überhaupt zu tief mit den romantischen Ideen der Liebesdämonik verstrickt vermochte er nicht sich den Einflüssen seiner Situation zu entziehen. Er stand noch inmitten der letzteren, nicht über ihr. Flocht ihm das schöne Weib in dieser Stunde wilde Rosen um das Haupt, so waren in nächster nur noch die Dornen ihm fühlbar, die er mit Selbstironie sich in das eigene Herz drückte. Der Natur Beider nach konnte ihr Verhältnis für keines von ihnen zu einem beglückenden werden.

Der Zustand seiner Seele spiegelte sich in seiner Lieblingslektüre ab; es waren dies die poetischen Schriften Lord Byron's und de Sénancour's. Weckten die stimmungsreichen und doch wildzerrissenen Saiten des ersteren auf jedem Punkt seines Fühlens ein Echo, so fanden sie ihren lyrischen Nachklang in den Poesien des Schweizerpoeten, welche wie die keines anderen Dichters die im Wort gegebene Musik des Weltschmerzes sich nennen lassen.

Trotz der Widersprüche, in welche die Fluthen der Romantik Liszt hineingezogen, fehlte es ihm nicht an großen Ruhemomenten der Seele, welche den Jüngling mehr zum Manne reiften, aber ihn auch fester an die Gräfin knüpften. Von einem solchen Moment verräth uns manches ein am Ende des Jahres 1835 komponirtes Klavierstück: »Les cloches de G...« – Die dieser Überschrift beigefügten Worte:


» ... Minuit dormait; le lac était tranquille; les cieux étoilés ... nous voguissons loin du bord –«


geben ihm den Anschein einer Naturmalerei und Stimmung; ein anderes Motto aber:


»I live not in myself, but I become

Portion of that around me« –1


und die Dedikation: »à Blandine. ...« deuten daraus hin, daß es nicht nur die Erhabenheit der ihn umgebenden Natur war, die ihn bewegte und ihn sich selbst, wie es wohl zunächst im Sinn dieses Mottos lag, als einen Theil des Alls fühlen ließ, daß es ihm vielmehr noch tiefliegende menschliche Beziehungen barg, die sich mit dem Glockengeläute und mit der Feierstimmung der Natur verbanden: das Leben war ihm in seinem »lockigen Blondchen« – Angiolin del biondo crin – in neuer Weise entgegen getreten, an sein Bündnis gottbesiegelte Pflichten knüpfend. –[335]

Brachte auch der Liebesroman Liszt's Momente, die wie dieser über der Leidenschaft standen, so blieb doch das Verhältnis selbst unselig vom Anfang bis zum Ende. Im Ganzen aber hatte es durch den phantastischen Schritt der Gräfin und das gemeinschaftliche Übersiedeln nach Genf einen Abschluß erhalten. Der Würfel war gefallen. Lag er auch außerhalb der bürgerlichen Ordnung, so theilte er doch insoferne das Loos derer, welche sich in diese einreihen, daß die Sache als ein fait accompli in den Hintergrund trat. Seine Genfperiode brachte Liszt von dieser Seite keine Ereignisse mehr, aber er war ganz entschieden in dem Erfassen und Verfolgen eines bestimmten Lebensplanes gehemmt. Es schien alles auf den Zufall gestellt.

Fünf Jahre Wanderlebens durch die Schweiz und durch Italien, ohne anderes Ziel und ohne anderen Zweck als der Reiselust und dem Bedürfnis der Selbstbildung zu genügen, folgten den pariser Stürmen. Obwohl er dabei während dieser ganzen Periode der Kunst im Stillen mehr wie ein Privatmann oblag, so entzog er sich doch nicht ganz ihrer öffentlichen Ausübung. Sein natürlicher Drang zur Öffentlichkeit ließ ihn immer wieder die Schranken der Zurückgezogenheit durchbrechen, besonders wenn es künstlerischen und humanen Zwecken galt oder auch wenn die Frage der Existenz es erheischte. –

Nichtsdestoweniger wurden diese fünf Jahre keine verlorene Zeit für ihn. Er reifte als Mensch wie als Künstler und sein Geist gewann an Klarheit und Ausdehnung. Schienen insbesondere die drei letzt verflossenen Jahre dazu bestimmt Liszt's individuelle Eigenartigkeit herauszufordern und ihren breiten empfängniswarmen. Boden mit Samen mannichfachster Art zu besäen, so schien die nun folgende Zeit letzterem die Ruhe innerer Gestaltung gewähren zu sollen. Diese Zeit beginnt mit seinem Aufenthalt in Genf. Bald traten von hier aus die Spuren größerer Reife nach Außen. Es war aber auch nichts mehr dazu geeignet die Anschauungen und Ideen, die sich in ihm festgesetzt hatten, zur Klarheit vordringen zu lassen als das Leben, welches er hier führte.

In scharfem Kontrast zu seinen pariser Gewohnheiten war das jetzige zurückgezogen. Er lebte im Umgange mit wenigen, aber hervorragenden und theils gereiften Männern; er lebte seiner Kunst, der Natur und selten kam er mit der Öffentlichkeit Genfs in[336] Berührung und dann nur leicht und obenhin. Kein Kampf der Meinungen umgab ihn, keine korrumpirenden Gesellschaften zogen ihn in ihren Strudel; die tausendfachen Widersprüche und Aufreizungen der Seinestadt mit ihrem romantischen Prophetenthum lägen hinter ihm, und anstatt ihrer wirren Stimmen drangen die Echos der Berge an sein Ohr, trat die überwältigende Macht der Naturstimmungen in sein Herz.

Sein Gedankenleben konnte sich frei, ohne Störung, ohne Hemmung, aber auch ohne gewaltsam mit sich fortreißende Strömungen entwickeln und sich so das Bedürfnis und Maß seiner Natur aus sich selbst herstellen. Die Zurückgezogenheit, in der er hier lebte, war für ihn die ausgleichende Stille der Natur nach Frühlingsstürmen. War er auch zu jung, als daß der geistige Gährungsprozeß, in dem er sich befand, seine vollkommene Abklärung schon hätte finden können, so vollzog sich doch ganz von selbst ein allmähliches Ausscheiden dessen, was nicht im Zweck seiner Natur lag.

Es reisten seine Anschauungen und sein Bewußtsein ward klarer. Die politischen, socialen und künstlerischen Fragen der Zeit klangen wohl heftig in ihm fort und nach, aber um sich mehr und mehr geklärt mit seinen Anschauungen über die humane und kulturhistorische Aufgabe der Kunst, sowie über die Stellung und Lage der Künstler zu verbinden. Liszt lebte hier zurückgezogen von der französisch-historischen Bühne der Zeitfragen, aber er blieb in Fühlung mit ihr, ebenso wie er nicht unthätig für sie blieb.

Schon in Paris hatte ihn die sociale Stellung der Künstler auf das lebhafteste beschäftigt, ja tief erregt. Er war hiebei mit seinen Sympathien und Antipathien nicht allein dem verletzten Künstlergefühl gefolgt, das zusehen sollte, wie die Nüchternheit der neuen Regierung dem Künstler seinen Lebensboden untergrub, auch nicht allein der allgemeinen Strömung, welche der Gleichberechtigung der Stände zustrebte: mehr noch als diese, wenn auch für die Künstlerexistenz nothwendigen, doch mehr äußeren Fragen arbeitete das Bewußtsein in ihm, daß der Künstlerstand der Träger und Vertreter der Kunst ist und daß letztere durch ihn den wesentlichen Theil ihrer Sendung vollzieht, daß sie aber in ihrer Entfaltung gehemmt wird, wenn die socialen Zustände der geistigen und pekuniären Existenz der Künstler entgegenstehen, daß sie unmöglich ist, wenn der Künstler selbst sich nicht zu den Höhen[337] der allgemeinen Bildung hinauf arbeitet und seine Intelligenz unentwickelt bleibt, wie bisher.

Liszt hatte sich im Frühjahr dieses Jahres den Blicken der Pariser entzogen und war für kurze Zeit in eine Vorstadtswohnung geflüchtet. Hier hatte er bereits angefangen seinem Gedankengang sich hinzugeben und ihn mit der Feder in der Hand auszugestalten. In einer Reihe Essays wollte er jene Fragen zur öffentlichen Besprechung bringen, aber auch zugleich auf ihre Lösung hinsteuern. Es waren große bahnbrechende Gedanken, die den, Jüngling bewegten und zur Feder trieben. Zwei dieser Essays hatte er bereits beendet, als er Paris verließ. Jetzt in Genf nahm er diese Arbeit wieder auf und eine Reihe von sechs glänzenden Aufsätzen – dieselben, in welchen Liszt das Vandalismus an der Tonkunst übende Régime Louis Philippe's auf die öffentliche Anklagebank setzte – mit der Überschrift:


»De la situation des artistes«2


erschienen in kurzen Zwischenräumen in den Spalten der Gazette musicale de Paris des Jahres 1835, Aufsätze, welche deutlich die Spuren von Liszt's beginnender Reife an sich tragen und mit jedem neuen die Arbeit zeigen, welche die gegenwärtige Ruhe stillschweigend in seinem Geiste vollzog. Während die zwei ersten mehr den von seinen Kunstidealen durchglühten Jünglingsphantasien gleichen, überraschen die letzteren durch ihren praktischen Scharfblick, der sicher und klar die Wege erkennt, welche die Künstler zu betreten haben, um ihre Kulturarbeit ausführen zu können.

Mit diesen Aufsätzen trat Liszt geharnischt als freiwilliger Kämpe für Kunst und Künstler vor das Forum der Zeit. Alle ihre Fragen blitzten in ihrem Hintergrund und züngelten hinein in die Beleuchtung, unter welche er die derzeitige Tonkunst, die sie vertretenden Institute Frankreichs und endlich die Künstler selbst stellte und hiebei die Krebsschäden zeigte, denen beide, Kunst und Künstler, zu verfallen schienen.

Wie ein heiliger Michael schwang er das Schwert. Er schwang es gegen alles, was dem Aufblühen der Musik im Wege zu stehen schien – er neigte es demüthig, wo Großes und Bedeutendes seine[338] Bewunderung weckte. Dabei war sein Blick klar, sein Visir offen, seine persönliche Sprache bescheiden, aber ein Held sprach aus ihr.

Mit einer unbeschreiblichen Kühnheit hielt er die Fackel der Wahrheit über die musikalischen Zustände. Zunächst besprach er die verschiedenen Aufgaben der Tonkünstler, welche letzteren er im Anschluß an Jean Jacques Rousseau und diesen ergänzend in drei Klassen: in ausführende, schaffende und lehrende Musiker, theilte. Rousseau's Eintheilung bestand aus nur zwei: aus den ersten beiden Klassen; die lehrende fügte Liszt hinzu. Als Folie der socialen Stellung der Künstler der modernen Zeit nahm er die des klassischen Alterthums. Er wies darauf hin, wie diese für das Staats- und Kulturleben von gleich großer Bedeutung und wie der Einfluß der »Musik« ein das gesammte Leben durchdringender und fördernder war. Und nachdem er mit Begeisterung ein Bild dieser damaligen Kunst und der großen ihr von der Nation zuerkannten Aufgabe entworfen, sowie den Einfluß, den sie auf das politische, sociale und philosophische Leben ausgeübt, berührt hatte; maß er an dem Einst das Jetzt, an der früheren die jetzige Stellung der Kunst und Künstler zum Staats- und Kulturleben. Unerschrocken hielt er dem Staat, respektive Louis Philippe seine Sünden gegen Kunst und Künstler vor, ebenso geißelte er die Künstler, die ihrer Würde bar, Verrath an der Kunst übend, diese zur milchenden Kuh gemacht. Aber auch jener Parasitenklasse unter den Künstlern gedachte er, die ohne inneren Beruf, nur äußere Zwecke verfolgend, die Kunst als Mittel hiezu benutzten. Zu ihnen zählte er die musikalisch unberufenen Kritiker, die weder Musiker noch Gelehrte, ein Hohn auf die Kunst, in der Tagespresse musikalisches Urtheil üben und mit ihrer »Kritikasterei« das Urtheil des Publikums beirren und verwirren.

Den Grund des Verfalles der Kunst und des Künstlerstandes erblickte er jedoch nicht allein in dem staatlichen und socialen Leben, in den Forderungen des letzteren, sondern bezeichnend für sein ideales Durchdrungensein von der Kunst und dem Beruf des Künstlers, ebenso sehr in dem Mangel an Bildung, an künstlerischer Überzeugung und an Glauben an die Ideale und Macht der Kunst seitens der Künstler.

Nachdem er nach allen Richtungen hin seine glühende Sonde in Staat, Kunst und Künstler gesenkt, wandte er sich zu den verschiedenen musikalischen Anstalten Frankreichs, sie ebenfalls einer[339] Untersuchung unterziehend, um sodann die Reformen anzugeben, deren sie bedurften. Hiebei ließ er es nicht bewenden; er kritisirte nicht allein, sondern zeigte ebenfalls die Mittel und Wege, durch welche diese Reformen sich zu vollziehen hätten und sich vollziehen konnten. Mit einer für sein Alter seltenen, merkwürdigen Schärfe und ebenso gesundem praktischem Blick prüfte der kaum dreiundzwanzigjährige Jüngling die Leistungen des Konservatoriums, der lyrischen Theater, der Koncertinstitute, des Unterrichts, der Kritik und endlich der Kirchenmusik und maß nach der Aufgabe, welche diese auch gegenüber der Gegenwart und ihren Bedürfnissen zu erfüllen haben, ihre Vorzüge und ihre Schattenseiten.

Hierauf folgten seiner Kritik Vorschläge zu einer durchgreifenden Reform, welche noch heutigentags wie für alle Zeiten volle Gültigkeit haben und haben werden. Ein Aufruf an Künstler und Kunstfreunde endlich: zur »Begründung eines allgemeinen musikalischen Weltverbandes« stempelte diese Artikel vollends zur reformatorischen That. Dieser Weltverband sollte: »die emporstrebende Bewegung und die unbeschränkte Entwickelung der Musik hervorrufen, ermuthigen und bethätigen, sowie die Stellung der Künstler heben und adeln durch Ergreifen aller der im Interesse ihrer Würde liegenden Mittel zur Abschaffung der Mißbräuche und Ungerechtigkeiten, denen sie ausgesetzt seien.«


»Im Namen aller Künstler, der Kunst und des socialen Fortschrittes«, schrieb Liszt, »fordern wir:

a) die Gründung einer alle fünf Jahre abzuhaltenden Versammlung für religiöse, dramatische und symphonische Musik, durch welche best befundene Werke dieser drei Gattungen einen Monat hindurch täglich im Louvre feierlichst zur Aufführung gelangen und hierauf von der Regierung erworben und auf deren Kosten publicirt werden sollen. Mit anderen Worten: wir verlangen die Gründung eines musikalischen Museums;

b) die Einführung des Musikunterrichts in die Volksschulen, seine Verbreitung in andere Schulen und bei dieser Gelegenheit das Inslebenrufen einer neuen Kirchenmusik;

[340] c) die Wiederherstellung der Kapelle und die Verbesserung des Chorgesangs in allen pariser Kirchen und in denen der Provinz;

d) Generalversammlungen der philharmonischen Gesellschaften nach Art der großen Musikfeste Englands und Deutschlands;

e) ein lyrisches Theater,

Koncert- und

Kammermusikaufführungen, organisirt nach dem im vorigen Kapitel über das Konservatorium entworfenen Plan;

f) eine Schule des musikalischen Fortschritts, zu gründen außerhalb des Konservatoriums von den hervorragendsten Künstlern – eine Schule, deren Verzweigung sich auf alle Hauptstädte der Provinz erstrecken müßte;

g) einen Lehrstuhl für Musikgeschichte und Philosophie;

h) eine wohlfeile Ausgabe der bedeutendsten Werke alter und neuer Komponisten seit der Epo che der musikalischen Renaissance bis auf unsere Zeit.

Diese Publikation, welche die Entwickelung und geschichtliche Reihenfolge vom Volkslied bis zu Beethoven's Chorsymphonie im Großen und Ganzen umfassen müßte, könnte den Titel: ›Pantheon der Musik‹ führen.

Die sie begleitenden Biographien, Abhandlungen, Kommentare und erklärende Beigaben würden eine wahre Encyklopädie der Musik bilden«.


Das war das Programm, welches der jugendliche Liszt zur Hebung der Kunst entwarf und seiner Zeit übergab. Und thatsächlich! er war mit demselben der Pionier aller jener fortschrittlichen Bewegungen und Reformen geworden, welche während der letzten vierzig Jahre – in der musikalischen Welt Europas, läßt sich sagen – Gestalt gewonnen. Ist dieses Programm auch nicht in allen Punkten durchgeführt und ist die Zeit noch immer die Antwort auf den Ruf nach Gründung einer die fortschrittlichen Bestrebungen der Tonkunst zusammenfassenden und repräsentirenden Schule schuldig und ist auch der Ruf nach Reform der Kirchenmusik ein ungehörter geblieben: so ist es doch noch heutigentags in jedem[341] einzelnen Paragraphen gültig und enthält alle Ziele künstlerisch-socialer Bestrebungen fortschrittlicher Richtung aller Zeiten.

Interessant ist es, daß namentlich der von der leipziger Tonkünstler-Versammlung 18593 ins Leben gerufene »Allgemeine deutsche Musikverein« diese Tendenzen – vielleicht ohne eine Ahnung von dem einstigen Vorgehen ihres Präsidenten4 zu haben – übernommen und, wenn auch nicht in der Ausdehnung, wie dieser sie sich damals dachte, zu den seinigen gemacht hat.

Diese Aufsätze Liszt's wirbelten viel Staub auf. Kaum waren die ersten erschienen, als auch seine Charakteristik der Kunstparasiten ihm ein ganzes Heer von Kritikern, Theaterspekulanten, auch eine gewisse modische, für die Salons arbeitende Lehrerklasse entgegenstellte. Es regnete Gegenschriften und Pamphlete aller Art. Man nannte seine Darstellungen »Übertreibungen«, »Phrasenmacherei«, »wahnwitzige Aussprüche« und ähnliches mehr und hielt ihm aus seine Beziehungen zur Gräfin d'Agoult anspielend spöttisch vor, »daß er, der eine so bevorzugte Stellung in der Gesellschaft einnehme, doch kein Recht habe sich über die Stellung der Künstler zu beklagen«.

»›Eben darum‹, entgegnete Liszt ruhig, ›weil meine Stellung eine so glückliche ist, habe ich die Pflicht meine weniger glücklichen Kunstbrüder zu vertreten.‹«

Die Angriffe, welche ihm wurden, schwollen jedoch zu einer solchen Masse an, daß er zur Vertheidigung schreiten mußte. Und so ist der ganze vierte Artikel eine Abwehr, aber auch durch die Thatsachen, die er zur Konstatirung der von ihm geschilderten Zustände und Verhältnisse anführt, eine beißende Philippika gegen seine Gegner, zugleich ein tieftrauriges Bild der Künstlerleiden und des Künstlerlebens. Dieser Aufsatz wird durch Schilderung der letzteren als Beitrag zur Künstlergeschichte jener Zeit immer werthvoll bleiben.

Wahrend jedoch seine Gegner gegen ihn wütheten, begrüßte die kleine Zahl seine künstlerischen Glaubensbrüder, zu denen vor allen Hektor Berlioz, Friedrich Chopin, Christian Urhan und viele der hervorragendsten Tonkünstler zu Paris, sowie die den Fortschritt vertretenden Literaten und Poeten gehörten, seine[342] Aufsätze mit Freuden. Ihnen war sein Appell an die Würde der Künstler aus der Seele geschrieben.

Was den derzeitigen Zweck der gesammten Aufsätze selbst anbelangte, so blieb er leider unerreicht. Unter den vielen Stimmen, welche damals appellirend, demonstrirend, diskutirend von allen Ständen erhoben wurden, konnte die des Musikers nicht durchdringen. Der Reformgedanke derselben, dessen Tragweite blieb im ganzen unverstanden und unberücksichtigt. Selbst die Demonstrationen seiner Gegner berührten ihn nicht. Liszt war mit demselben seiner Zeit zu sehr vorausgeeilt.

Gedenken wir späterer Kunstbewegungen auf dem Gebiete der Musik, so sind diese Aufsätze Liszt's gewissermaßen zu Vorgängern, sowie ein Seitenstück zu dem 1849 erschienenen Schriftchen: »Kunst und Revolution« von Richard Wagner geworden. Verwandte Saiten klingen hier vor und eine Zusammengehörigkeit beider Schriftstücke ist unverkennbar. Beide sind ein Aufschrei der Noth des in seinen Tiefen erregten Kunstherzens, beide Kinder der Revolution. Wie Wagner's Schriftchen: »Kunst und Revolution« aus dem Braukessel der Februarrevolution hervorgegangen und deren innerste Erregung die schürende Flamme zu Wagner's sich gegen das Bestehende aufbäumender Gefühls- und Gedankenwelt geworden ist, so kochte in Liszt's vierzehn Jahre früher geschriebenen Aufsätzen dir Julirevolution nach, einen Hilferuf gegen den vandalistischen Geist der französischen Regierung an die Künstler, an die Nationen entsendend.

Beide Künstler, Liszt wie Richard Wagner, beginnen mit einem Hinweis auf die alten Kulturvölker, an das einstige Griechenland, an die altklassische Zeit. Allerdings verräth das Motto der Brochüre Wagner's: »Wo einst die Kunst schwieg, begann die Staatsweisheit und Philosophie: wo jetzt der Staatsweise und Philosoph zu Ende ist, da fängt wieder der Künstler an« – von vornherein andere Ziele als diejenigen waren, welche Liszt verfolgte, dennoch ergänzen sich beide.

Liszt verglich die Ideen, welche sich im Bewußtsein der alten Nationen an den Begriff Musik knüpften, mit denen, welche bei modernen Völkern über Musik herrschen, und maß an der früheren hohen Stellung der Kunst und des Künstlers zum Staat deren jetzige, während Wagner gewissermaßen aus der Kunst und[343] Geschichte Griechenlands der zukünftigen Tonkunst ein Horoskop stellte oder auch ihre Bahnen ihr vorzuzeichnen gedachte.

Bezeichnend für den Standpunkt beider ist hierbei, daß, während Wagner die Lösung seiner Fragen in dem Hinwenden zu den Kunstideen Griechenlands erblickt, Liszt das wahre Kunstheil nur aus einer »großen religiösen und philosophischen Synthese« hervorblühen sieht.

Wagner geht mit seiner Brochüre von sich aus. Der in seinen Intentionen gehemmte Opernkomponist und Kapellmeister ist in jedem Satz erkenntlich. Seine Gedanken fliegen wie durch Gewalt berstende Felsstücke aus dem innern Aufruhr hervor. Liszt's Essays dagegen sind frei von allen Ichbestrebungen. Der Ausfluß einer reinen Liebesflamme, kämpfen sie für die Sache der Kunstgenossen und der Tonkunst im Großen und Ganzen, nicht für einen einzelnen Zweig der Musik und am allerwenigsten für den von ihm vertretenen. Seine Gedanken, wohl durchdrungen von der Inbrunst seiner Liebe zur Kunst, bleiben im Flusse dieses Feuers und eine Besonnenheit, die das Gegenwärtige und Mögliche nicht aus den Augen verliert, steht über ihnen und leitet sie. Diese verschiedenen persönlichen Ausgangspunkte weisen dem Inhalt ihrer Gedanken gleichsam verschiedene Wege an. Während »Revolution und Kunst« kunsttheoretische Reformen andeutete und praktische nur nach Seite des musikalischen Drama's kaum berührte, die Hilfe für ihre Vollziehung aber in Schwert und Umsturz erblickte, so erstrebt die Schrift »De la situation des artistes« ein neues Aufblühen der Kunst auf friedlichem Weg durch geordnete Zustände, durch eine verbesserte pekuniäre Lage und eine der Würde der Kunst entsprechende Bildung und verbesserte sociale Stellung der Künstler, durch praktische Reformen aller künstlerischen Institutionen. Liszt erstrebte den gesammten praktischen Boden, auf welchem theoretische Reformen sich naturgemäß, d.i. organisch vollziehen: Humanität, Bildung, vernünftige Freiheit und Einreihung der Kunst in die Kulturinteressen des Staates.

Mit diesen Essays beginnt Liszt's höhere schriftstellerische Thätigkeit. Er hatte wohl, noch ehe er diese größere Arbeit begonnen, schon mehrmals die Feder geführt. Allein diese Arbeiten waren mehr zu fällig und gehörten Tageserscheinungen an, hinter denen kein bedeutender Gedanke stand, die aber nichts destoweniger seiner literarischen. Thätigkeit die erste Anregung gaben. Ihre[344] äußere Veranlassung hatten sie theils in der Gründung der Gazette musicale de Paris, bei welcher Liszt sehr stark betheiligt war und deren Mitredaktion er obwohl ungenannt und ohne irgend welche Gegenverpflichtung übernommen, theils auch – in einem Pistolenduell gefunden. Es war damals die Zeit der literarischen, wenn sich so sagen läßt: »ideellen Duelle«, im Princip von dem idealen Journalisten Armand Carell vertreten. Und bei einem solchen Duell war Liszt als Sekundant betheiligt. Der Musikalienverleger und Chefredakteur der Gazette musicale nämlich, Maurice Schlesinger, hatte sich erlaubt einige bewunderte Kinder der Muse Henri Herz' etwas weniger charmant zu finden als einer ihrer Verehrer. Die Folge war ein Duell auf Pistolen, bei welchem der junge Liszt als Sekundant Schlesinger's auftrat und hierauf der Gazette musicale den Bericht lieferte, aber ohne Chiffre. Das war Liszt's maidenspeech als Schriftsteller. Schlesinger war so für sie eingenommen und entdeckte in Liszt's Schreibweise so viel Talent und Originalität, daß er ihn seitdem vielfach um Arbeiten anging. Das war im Frühjahr 1834, die Sache selbst gehörte nur dem Tag.

Mit der jetzigen Arbeit war es anders. Sie behandelte einen Stoff von bedeutendem Gehalt und unberechenbarer Tragweite für die Musik. Obwohl, um in allen Dingen richtige Schätzung zu üben, der Blick des Autors noch zu sehr von jugendlichem Enthusiasmus umwoben war und auch seine Schilderungen ihre Farben noch zu sehr dem Gefühl entnahmen, so war sie trotzdem eine durchdachte, scharf gegliederte, bedeutende Arbeit, welche ein organisches Ganzes bildete und viele Studien zu ihrer Voraussetzung hatte. Sie führte ihn schriftstellerisch ein in die Reihe jener Namen, welche durch eine gleiche Thätigkeit den geistigen Werth der Gazette musicale de Paris – insbesondere während des Bestehens in ihrem ersten Decennium – zu einem bleibenden gemacht hat. Es waren das Namen, die noch heute auf ihrem Titel glänzen, wie Adam, Berlioz, Halévy, Panofka, Marx, R. Wagner, – sodann Balzac, Dumas, Janin, Heine, Sand u.A.

Musikhistorisch bemerkenswerth bleibt es noch, daß in jener regsamen Zeit die Musiker anfingen die Kritik auf musikalischem Gebiet, die bis dahin in den Händen der Literaten, Dichter, Politiker mit und ohne musikalische Kenntnis lag, selbst zu üben.[345] Auch hier war Liszt durch seine Bekämpfung des falschen musikalischen Literatenthums einerseits, andererseits durch das Ausstellen neuer leitender Gedanken ganz entschieden einer der ersten und bedeutendsten Vorgänger. Bezüglich letzterer schrieb er damals an George Sand:

»Ich habe die feste Überzeugung, daß es über Kunstwerke zu einer Art philosophischer Kritik kommen muß, die niemand besser auszuüben versteht als Künstler selbst.« Dieser Gedanke war zu jener Zeit ein so wenig geläufiger, daß er hinzufügte: »So bizarr Ihnen auch diese meine Idee im ersten Moment erscheinen mag – spotten Sie nicht über sie«.

Daß die Kritik mehr und mehr Sache der produktiven Künstlerschaft selbst werden müsse, verlangte er mit Entschiedenheit. Und alles, was er später bezüglich dieser Forderung an fruchtbaren Samenkörnern in das musikalische Leben gestreut hat, stand schon jetzt fest und ausgeprägt in ihm. Es sind nur Konsequenzen jener Ideen, wenn er später sagt:

»Der Nichtkünstler kann immer nur von seinen individuellen, unverbürgten Eindrücken reden, weil er die zu ihrer Motivirung nöthige Grundlage nicht besitzt.« –

»Fragen wir: Wem anders als den Künstlern gehört die Kritik? Wessen Sache ist es über Angelegenheiten der Kunst zu entscheiden, wenn nicht Sache der Ausübenden? Und wer kann besser als die Producirenden selbst die Erzeugnisse des fühlenden und schaffenden Geistes beurtheilen? Um das Gebiet der Kunst endlich einmal rein zu jäten, das Unkraut zu beseitigen, die Giftpilze mit der Wurzel auszurotten, dazu genügen uns nicht die Gelehrten, nicht die Politischer und Dichter, nicht gutgesinnte Parteigänger – uns selber kommt es zu unser Haus zu reinigen, Verkäufer, Wechsler und Wucherer zum Tempel hinaus zu jagen!«

Das waren Ansichten, die schon zu jener Zeit in Liszt feststanden. Mit solchen hatte er Schlesinger geschürt die Gazette musicale de Paris (1834) zu gründen und den Künstlern ein Blatt zur Verfügung zu stellen, in dem sie die Diskussion theoretischer Fragen und der künstlerischen Angelegenheiten selbst führen und in die Hand nehmen könnten. Liszt's Aufsätze »Über die Stellung der Künstler« waren der vollste Ausdruck dieser vom Geist des Fortschritts bedingten Forderungen, welche nicht allein in Frankreich, sondern ebenso in Deutschland hervortraten. Es war ein[346] Zufall, aber immerhin ein bedeutungsvoller, daß im gleichen Jahr 1834 auch Robert Schumann in Leipzig von gleichen Ansichten ausgehend die »Neue Zeitschrift für Musik« in das Leben rief. Beide Musikzeitungen, die französische und die deutsche, haben wohl mit der Zeit nicht Schritt mit einander gehalten: die deutsche ist durch alle Jahrzehnte hindurch ein Bannerträger der fortschreitenden Kunst und der Künstlerinteressen geblieben, was sich von der unserer Nachbaren jenseits des Rheins nicht behaupten läßt; doch waren es verwandte Bestrebungen, welche beide gründen ließen. Hier wie dort, und dort wie hier wurde dem Fortschritt das Wort durch Künstlermund geredet, und hier wie dort waren es musikalische Pioniere unseres Jahrhunderts, die Genien, auf deren Schultern sein Fortschritt lag, deren Gedanken zündend in die musikalisch-literarischen Zustände fielen.

Nun bereitete sich in der Handhabung und Richtung der Kritik ein Umschwung vor. In Deutschland tauchte durch Schumann, dessen tiefe und poetisch-erregte Natur die Kritik mit dem Zauberstab künstlerischer Phantasie zur Kunst erhob und ihr neben letzterer einen Platz anwies, eine neue Morgenröthe am denkenden Kunsthimmel auf, und in Frankreich war es nach Liszt's Vorgehen sein Freund Hektor Berlioz, dessen an beißendem Sarkasmus geschliffenes Secirmesser die faulen musikalischen Zustände und Krebsschäden bloslegte und hiemit reinigend wirkte. Liszt als der dritte – oder auch der erste – in diesem Geisterbunde wirkte nicht durch Sarkasmen, auch nicht durch die poetische Innerlichkeit des Gemüthes, wie Schumann. Durchzog auch leicht und graziös ein ironischer Faden – denn ohne Ironie keine echte Intelligenz! – seine literarischen Kundgebungen, so trat doch immer sein für Schönheit und Wahrheit entflammtes Wesen in den Vordergrund und warb für die Ideale der Kunst, wobei nur er allein durchdrungen war von dem religiösen Äther, welcher der Kunst die Weihe giebt und sie in den höchsten Sphären des geistigen Lebens hält.

An diese drei Künstlernamen knüpft sich für die allgemeine Geschichtsperiode 1830–1848 eine allgemeinere schriftstellerische Betheiligung seitens der Tonkünstler an ihren eigenen Interessen, der große Umschwung, welcher sich allmählich hier vollzog. – Der Gedankenbau Richard Wagner's (»Kunstwerk der Zukunft, Oper und Drama« etc.), welcher den Kulminationspunkt der schriftstellerischen[347] Thätigkeit seitens der Tonkünstler unseres Jahrhunderts bilden dürfte, fällt der Zeit nach dem Jahr 1848 zu.

Liszt trat von da an wiederholt schriftstellerisch ins öffentliche Leben. Mehrere kleinere Essays – über: »Volksausgaben bedeutender Werke«, über: »Meyerbeer's Hugenotten«, über: »Schumann's Klavierkompositionen«, eine Kritik der »Kompositionen Thalberg's«, sein Federkrieg bezüglich Thalberg's mit Fétis5 – fallen in die Jahre 1835 bis 1837.

In derselben Zeit (1835) beginnen seine Reisebriefe unter dem Titel: »Lettres d'un Bachélier Es-musique«,6 zwölf an der Zahl, welche er während der Jahre seiner Reiseperiode mit der Gräfin d'Agoult (1835 bis 1840) an Schlesinger für die Gazette musicale sandte.

Diese Reisebriefe sind zur Charakterisirung und Beschreibung seines damaligen Lebens bedeutendes Material, aus das wir noch öfter zurückkommen werden. Aber auch der Musikgeschichte lieferten sie Beiträge über Kunstzustände und Zeitgenossen von großem Werth.

Von Genf, Paris, Nohant, Bellaggio, Venedig und anderen Städten aus geschrieben, und an George Sand, an Adolfe Pictet, an Heinrich Heine, Louis de Ronchaud, H. Berlioz und Andere gerichtet bringen sie, den Kurs seiner Reisen begleitend, in zwangloser Briefform und auf stimmungsreichem Untergrund Reiseerlebnisse, Eindrücke, Lebensanschauungen, Besprechungen verschiedener Zeitgenossen, sowie allgemein künstlerischer und musikalischer Zustände. Elegant und anmuthig im Ausdruck, voll genial blitzender Gedanken und metaphorischer Blüthen, immer fein und treffend in ihren Aperçüs, geben sie ein Bild seines Inneren als Jüngling, ein Bild reich poetischen Blühens und heißen idealen Begehrens, voll Traumes und doch voll wachenden Sehens, behangen mit manchem Schein, aber diesen veredelt durch ein tiefes Gefühl für Wahrheit und echte Schönheit.

Der Weltschmerz, dessen Schatten sich noch da und dort über seine »Briefe« breitet, verschwindet und jener allgemeine, bei den Romantikern zur Manie gewordene Zug das eigene Ich zum Gegenstand der Beschauung zu machen und vor das Publikum zu citiren,[348] von dem Engländer Curran so trefflich in Byron mit dem Ausspruch gegeißelt: »he wept for the press and wiped his eyes with the public« – ein Zug, von dem auch der Jüngling Liszt nicht ganz freizusprechen ist, wie manche seiner Briefe an George Sand und Louis de Roncheau belegen, verzieht sich immer mehr wie Nebeldünste vor der herbeiströmenden Kraft gesunder Luft. In einem Brief an Heinrich Heine (1838) weist er jene Manie mit aller Entschiedenheit zurück. »Offen gesagt«, schrieb er ihm nach den bereits erwähnten indiskreten Bemerkungen, die Heine bezüglich seiner gemacht hatte7 – »ich sehe die Veröffentlichung der Gedanken und Gefühle unseres inneren Lebens durch die Presse als eines der Übel unserer Zeit an. Unter uns Künstlern herrscht der große Mißgriff, daß einer den andern nicht nur in unsern Werken, sondern auch in unsern Persönlichkeiten beurtheilt. Indem wir uns gegenseitig vor dem Publikum seciren, führen wir es hiedurch oft ziemlich brutal, meist aber unrichtig in einen Theil unserer Existenz ein, der wenigstens zu unsern Lebzeiten mit aller Fragelust verschont bleiben sollte! Diese Art, aus der Eitelkeit des Einzelnen anatomisch-psychologische Vorträge zum Besten der öffentlichen Neugierde zu halten, ist bei uns zur Gewohnheit geworden: niemand hat mehr das Recht sich zu beklagen, denn niemand schont mehr. Und überdies läßt sich nicht verhehlen, daß die meisten unter uns einer Veröffentlichung, sei sie lobend oder bekrittelnd, nicht böse sind – sie sehen ihre Namen, wenigstens für ein paar Tage, in Umlauf gesetzt. Zu diesen, muß ich erklären, gehöre ich nicht.«

Immer klarer und reiner tritt aus diesen Briefen ein ideal sittlicher Ernst hervor, eine große Weltanschauung, ein tieffühlender und dabei objektiver Geist, welcher die Dinge sieht, wie sie sind und sie dabei zu verbinden weiß mit dem großen Ganzen des Lebens, ohne dabei an Glut für die hohen Ideale der Menschheit und an Glauben an sie zu verlieren. –

Der erste dieser Briefe fällt in das Jahr 1835 und steht am Anfang der mit diesem Kapitel begonnenen Lebensperiode Liszt's. Er ist von Genf aus an seinen Freund George Sand gerichtet – an seinen »Freund«; denn nur im engeren Literaten- und Künstlerkreis war es bekannt, daß der männliche Name George[349] eine weibliche Feder deckte. Dieser Brief giebt eine fesselnde Beschreibung seines Lebens in der Schweizerstadt, die gerade in dieser Zeit ein Asyl für manche gefallene Größe und für manchen politischen Flüchtling war. Dabei wirst er interessante Streiflichter auf Liszt's allgemeine Bildung, auf die Schärfe und Feinheit seines psychologischen Blickes, ebenso auf die Anmuth und Bescheidenheit seines Wesens, auf die künstlerisch-religiösen Anschauungen, zu welchen ihn sein religiöses Empfinden beständig hindrängte – eine farbenweiche Skizze, welche mehr als jede Beschreibung aus anderer Feder einen Theil der Genfperiode Liszt's schildert. Dieser Brief folgt darum in getreuer Übersetzung im nächsten Kapitel, welches seinem Aufenthalt in Genf gewidmet ist.

Fußnoten

1 Childe Harold's Pilgrimage. Canto III. LXXII.


2 Liszt's Gesammelte Schriften, II. Band. »Über die Stellung der Künstler.«


3 Auf Antrag Louis Köhler's.


4 Liszt ist Präsident dieses gewichtigen Vereins.


5 »Gesammelte Schriften Liszt's«, II. Band.


6 »Gesammelte Schriften Liszt's, II. Band: Reisebriefe eines Baccalarius der Tonkunst.«


7 Kapitel: Abbé Lamennais.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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