I.

[415] Und hatte diese Stunde nicht bereits angefangen für ihn zu schlagen? Waren nicht seine Kompositionen, seine Virtuosenideale bereits ein Jagen nach dem »Unfaßbaren«? Seine Virtuosität, seine Kompositionen hatten neue Kreise gezogen und seine pariser Künstlerthaten berichteten von schwindelerregenden Dingen. Er war als Virtuos nicht hinter dem Komponisten zurückgeblieben. Er hatte mit seinem im Frühjahr 1836 nach Paris unternommenen Ausflug von der Integrität seines pianistischen Genies, aber auch von der in Genf gewonnenen größeren Ruhe und Reife ein alles überragendes Zeugnis abgelegt. Sein zweiter periodischer Aufenthalt in Paris (nach Genf, December-1836 bis Ende April 1837) hatte den ersten noch überboten.

Wenden wir uns diesen Vorgängen im Koncertsaal zu!

Ein besonderer Vorfall hatte im Frühjahr 1836 Liszt veranlaßt gegen seinen ursprünglichen Vorsatz die Seinestadt zu betreten und, obwohl die musikalische Saison vorbei war, dennoch die Musikalische Welt um sich zu versammeln. Es war mit dem Beginn dieses Jahres der wiener Pianist Sigismund Thalberg zum ersten Mal in den Mauern der Weltstadt erschienen. Sein Name, bis jetzt in Paris noch ungekannt, wurde plötzlich,[415] nachdem er im Januar in einem Konservatoriumskoncert gespielt und hierauf mehrere Koncerte selbst gegeben hatte, zum Losungswort des musikalischen Paris. Seine brillante Technik, die außerordentliche Ruhe seines Spiels, das aristokratisch Abgemessene seines Vortrags, sein klangvoller Ton – alles das riß das Publikum zu einem Enthusiasmus hin, wie ihn zu jener Zeit unter den Pianisten nur Liszt geerntet hatte. Der gleiche Enthusiasmus wurde den Kompositionen Thalberg's zu Theil, deren reiner Kunstwerth allerdings nur ein ephemerer war, die aber damals durch einige Neuheiten überraschten und die Kritik blendeten. Es waren Neuheiten des Effekts und der Technik, welche sie mit dem Werth der Kompositionen selbst verwechselte.

Dieser Effekt, inzwischen technisch längst verallgemeinert, bestand aus harfenartigen Arpeggien, welche eine Melodie oben und unten, durch alle Oktavlagen umrauschten, während sie selbst in den Mittellagen ruhig und jene übertönend ihre Weise fortsetzte, – in jenen Tagen ein pianistisches Wunder, der Glanzpunkt der »Moses-Fantasie« Thalberg's! Die Ausführung desselben besteht aus der bekannten Arbeitsvertheilung an Finger und Hände, nach welcher, während die Hände kreuzweise die fortlaufende Passage ausführen, die Daumen im Moment des Ablösens der Hände abwechselnd die Melodie vortragen, deren Töne durch die größere Kraft und den höheren Fall des Daumens eine die Passage überragende Fülle des Klanges entwickeln und hierdurch die Idee einer gesungenen Melodie und ihrer instrumentalen Begleitung auf dem Klavier verwirklichen. Eine derartige Arbeitsvertheilung war für die Technik des Klavierspiels in der That eine bedeutende Erfindung – ein Ei des Kolumbus! Diese Art der Melodienumwebung tauchte damals zum ersten Mal im Koncertsaal auf; der Ruhm der Erfindung jedoch wurde Thalberg streitig gemacht: einige nannten sie die seine, andere schrieben sie dem Harfenkönig Parish-Alvars zu. Man stritt sich um sie und der Harfenist beschuldigte den Pianisten des Plagiats – doch wie läßt sich behaupten, daß wenn zwei Menschen mit ähnlichen Ideen zu gleicher Zeit, auch in ein und derselben Stadt, vor die Öffentlichkeit treten, daß der eine dem andern sie abgelauscht habe, wie es bei dieser technischen Erfindung der Fall war? Parish-Alvars wollte früher als Thalberg mit ihr in Wien bei Ausführung der Harfenpartie des »Moses« excellirt haben – und Thalberg?[416] Eine Thatsache ist es – und das scheint hier genügend – daß er diese technische Idee, welche nach Dehn's historischer Forschung weder dem einen noch dem andern, sondern dem Italiener Giuseppe Francesco Pollini1 zuzuschreiben ist, am Klavier mit außerordentlichem Geschick und großer Bravour entwickelt und mit ihr bei seinen Zeitgenossen eine große Wirkung, die zu seinen glänzenden Erfolgen während seiner Koncertreisen durch Europa nicht wenig beigetragen, hervorgerufen hat.

Die Pariser fanden in ihrem Enthusiasmus für Thalberg keine Grenzen. Sie nannten ihn den ersten Spieler der Welt, den Begründer und Verkünder einer neuen Ära der Klaviermusik. Und wandelbare Gunst der Menge! Liszt, den Abwesenden, den sie seit zehn Jahren als den ersten gepriesen, hatten sie in diesem Moment vergessen oder auch nannten ihn »überflügelt« von Thalberg. Die Presse sekundirte diesem Enthusiasmus auf das kräftigste. Namentlich war es Fétis, welcher zu jener Zeit Direktor des brüsseler Konservatoriums war, dessen Feder durch die pariser Gazette musicale Thalberg als »epochemachendes Genie« verkündete.

Diese Neuigkeiten trugen sich auch nach Genf und versetzten Liszt in eine große Spannung und Aufregung. Sollten alle die Ziele, die er sich gesetzt, sollte das Gefühl seiner Kunstmission ihn getäuscht haben? War die neue von Thalberg betretene Kunstphase dieselbe, welche ihm vorschwebte? Schlugen Thalberg's Ideale dieselbe Richtung ein, wie seine eigenen? Verfolgten sie dieselben Ziele? Wenn nicht, worin waren sie anders? – Das waren die Fragen, die ihn durchstürmten. Stets geneigt neidlos jede vortreffliche Eigenschaft anderer Künstler sich selbst gegenüber als Vorzug zu empfinden und freudig anzuerkennen, war er sich doch auch wieder seiner besonderen Fähigkeiten bewußt und fühlte zu gut, daß der »geheime Trieb« in ihm kein leerer Wahn sei.

Seine Aufregung trieb ihn nach Paris.

Er kam unerwartet. Seine plötzliche Ankunft aber brachte[417] man sogleich in Beziehung zu Thalberg und machte sie zu einer Sache allgemeiner Diskussion. Die Allerweltsnoblesse sah in ihr nur Eifersucht und Neid eines Künstlers gegen einen anderen; man ergriff lebhaft Partei für und gegen, und im Handumdrehen hatte sich die musikalische Welt in Thalbergianer und Lisztianer getheilt – Piccinisten und Gluckisten des Piano.

Liszt aber war bei seiner Ankunft sehr enttäuscht. Thalberg, ohne Ahnung seines Kommens, war Tags zuvor wieder abgereist – nach Wien. Trotzdem war ihm sein Reisezweck nicht völlig verloren. Begierig forschte er überall bei Künstlern und Schriftstellern nach den Eindrücken, welche Thalberg's Spiel gemacht hatte, und nach der Art seiner Leistungen. Bald aber erkannte er, daß es sich hier nicht um das handelte, was er vermuthet und erstrebt hatte, daß Thalberg wohl ein Pianist seltenster Erscheinung sei, das Außergewöhnliche derselben sich jedoch auf technische, nicht auf geistige Strebungen beziehe und daß ein Spiel, wie das Thalberg's, nie die Tiefen des Gemüthes und die Vielheit des Geistes in unmittelbarster Empfindung offenbaren könne. Er sah deutlich, daß der bewegliche Pariser, geblendet von den technischen Neuheiten der Thalberg'schen Kunst, bestochen von dem Glanz des Tones, von dem Ebenmaß des von geistigen Gewalten und blitzenden Accenten freien Spieles, gerade durch diese dem Hörer keine Störung bringende Ruhe, blind und einseitig in seinem Urtheil gewesen.

Das Übertriebene des letzteren forderte sein Wahrheitsgefühl heraus und ohne Rückhalt sprach er seinen Freunden seine Ansicht über Thalberg aus, ihnen zugleich seine eigenen Ideale über Ziele und Aufgabe der Virtuosität darlegend. Um diese ihnen ganz deutlich zu machen, lud er sie zu einem musikalischen Abend im Pleyel'schen Saale ein, dem andern Tags ein zweiter im Saale Erard folgte. Er hatte nur wenige Einladungen ausgegeben. Aber wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet: »Liszt spielt!« Daß es nur privatim geschah, hielt die Neugierde nicht zurück und Hunderte strömten in die offenen, die Menge kaum fassenden Räume.

Über diese beiden Soiréen hat Hektor Berlioz seiner Zeit berichtet und das Wesentliche derselben in einem Aufsatz, »Liszt« überschrieben, zusammengefaßt, welcher ihm als Virtuosen und Künstler[418] gerecht zu werden versuchte und dabei auch die künstlerischen Umwälzungen konstatirte, die sich während des letzten Jahres bei ihm vollzogen.2

Er schrieb:


Liszt.


Wohl noch niemals hat dieser große Künstler die pariser musikalische Welt in so hohem Maße in Aufregung versetzt, als seit einigen Wochen. Durch seinen Aufenthalt in Genf hatte er seinem Rivalen (und Gott weiß wie viele Pianisten diesen Titel in Anspruch neh men dürfen!) das Feld ohne Anmaßung frei gelassen. Seine unerwartete Rückkehr jedoch, in dem Moment als die Erfolge Thalberg's dem beweglichen Geist der Pariser fast zur Waffe gegen ihn geworden, gewann die früheren Sympathien in kräftigster Weise zurück und brachte ihm neue entgegen. Er gab kein öffentliches Koncert, aber ich glaube kaum, daß die Zuhörerschaft des Konservatoriums3 bedeutender gewesen war als die Versammlung hervorragender Künstler und Kunstfreunde, welche sich ihm überall, wo nur immer Hoffnung war ihn zu hören, nachdrängte.

In dieser Zeit waren Erard's Säle mehr als einmal förmlich belagert, wie es selbst dann, wenn ein vollständiges Koncert in allen Zeitungen ausposaunt und auf ungeheuren Plakaten an allen Straßenecken angekündigt worden, selten der Fall war. Und doch handelte es sich nur darum, Liszt ganz allein seine letzten Kompositionen vortragen zu hören. Da gab es keine, auch nicht die kleinste italienische angenehmes Flötenkoncert, kein komisches Duett, nichts von allem dem, was gewisse Dilettanten so sehr entzückt; aber es gab auch keine der riesenhaften Symphonien Beethoven's, keinen Chor von Gluck, keine Ouvertüre von Weber, um gewisse andere, von ersteren ganz verschiedene Zuhörer, deren Bereinigung jedoch mit den Kavatinenfreunden erst die musikalische Menge bildet, anzuziehen – und trotzdem waren sie alle gekommen. Obgleich vielleicht nur zehn bis zwölf direkte[419] Einladungen ausgegeben waren, verbreitete sich die Nachricht von Liszt's Anwesenheit so schnell und die Neugierde ihn zu hören war so groß, daß wohl oder übel vier bis fünfhundert Personen sich einfanden und Liszt, statt, wie er erwartet hatte, einen Kreis von Freunden vorzufinden, mit einem wirklichen Publikum, das sowohl mit Gleichgiltigen als auch mit feindlich gestimmten Neugierigen gemischt war, zu thun hatte. Sein unerhörter Erfolg und der schwindelnde Eindruck, den er auf alle machte läßt nur mit der Überraschung sich vergleichen, welche er auch bei denen hervorrief, die er mit vollem Recht zu seinen wärmsten Anhängern zählen darf.

Ganz unwillkürlich offenbarte sich nämlich seinen Zuhörern die seltsame und sehr unerwartete Thatsache: Liszt's Wiedererscheinen war zu einer neuen Erscheinung geworden; den Liszt des vergangenen Jahres, den wir alle gekannt, hat der Liszt von heute, trotz der Höhe seines damaligen Könnens, weit hinter sich gelassen und seitdem einen so außerordentlichen Flug genommen, sich mit solcher Schnelligkeit über alle bis jetzt gekannten Gipfel hinaufgeschwungen, daß man denen, die ihn kürzlich nicht hörten, mit Dreistigkeit zurufen kann: »Ihr kennt Liszt nicht«

Um die verschiedenen Mittel, das neue Verfahren, die neuen Effekte, mit welchen er sein ohnedies wirkungsvolles Spiel bereichert hat, aufzählen und in gehöriger Weise schätzen zu können, bedarf es eines tüchtigen Klavierspielers. Trotz eines lebendig empfundenen Eindruckes derselben muß ich mich, der nicht einmal die Cdur-Tonleiter mit der rechten Hand spielen kann, für unbefugt erklären, nach technischer Seite die Ursachen dieser unglaublichen Macht analysiren zu können. Was ich bezüglich der Technik als thatsächlich Neues bei den unendlichen Tonmassen, welche unter Liszt's Hand entstehen, unterscheiden konnte, beschränkt sich aus Accente und Nüancen, die auf dem Klavier hervorzubringen man einstimmig für unmöglich gehalten hat und die bis jetzt thatsächlich unerreichbar waren. Hierher gehören: ein breiter einfacher Gesang; lang klingende und streng gebundene Töne; sodann ganze in gewissen Fällen mit äußerster Heftigkeit und doch ohne Härte und ohne an harmonischem Glanz einzubüßen, nur so hingeworfene Notenbüschel; ferner Melodienreihen in kleinen Terzen, diatonische Läufe in der Tiefe und den Mittellagen[420] des Instrumentes (wo bekanntlich die Saitenschwingungen nachhaltiger sind) mit unglaublicher Schnelligkeitstaccato ausgeführt und zwar so, daß jede Note nur einen kurzen gedämpften Ton erzeugte, der sofort erlosch und vom vorhergehenden sowohl wie vom nachfolgenden gänzlich getrennt war. Solche Stellen müßten auf einem vorzüglichen Kontrabaß mit dem Rücken des Bogens gespielt eine ähnliche Wirkung hervorbringen, nur, müßte der Bogen durch Dampfkraft getrieben werden; denn ich glaube kaum, daß ein menschlicher Arm – und wäre er ein Dragonetti aller Dragonetti!4 im Stande wäre sie in solcher Schnelligkeit wie Liszt hervorzubringen. Es läßt sich weder der Glanz seiner Läufe, noch die prachtvolle Zeichnung seiner Begleitungen beschreiben – von dem allem läßt sich kaum reden; übrigens haben selbst diejenigen, die am wenigsten günstig für Liszt gestimmt sind, längst erklärt, er sei zu allem fähig.

Ein Fortschritt, der am meisten Bewunderung erregte und den man in Rücksicht auf seine Jugend und sein nervöses Temperament am wenigsten erwartet hatte, war die namhafte Reform des lyrischen Theils seines Vortrags. Er hatte manche herbe Kritik wegen der bezüglich dieser Seite oft übertriebenen, sein Spiel unruhig machenden Nüancen, auch wegen seines zu häufigen Tempowechsels und seiner vielen Verzierungen, welche Kompositionen, die Einfachheit und Ruhe erfordert hätten, fast unwillkürlich überluden, hinnehmen müssen. Wenn auch die ganze Art und Weise dieser Kritik eine andere hätte sein müssen, diente sie dennoch dazu die Aufmerksamkeit des Künstlers auf diesen wichtigen Punkt zu lenken und die Frage an sich zu stellen: »Darf der Dichter-Künstler während des Schaffens seines Werkes sich selbst von der Glut seiner Inspiration mit fortreißen lassen? zittern unter der leidenschaftlichen Erregung, die er erwecken soll? Oder thäte er nicht besser sie in die Tiefen seines Herzens zu verschließen, sie zu zähmen und zu beherrschen, über ihnen zu stehen und zu schweben wie Äolos über den Winden? wobei es ihm immer noch frei stünde ihr in seltenen Fällen freien Lauf zu geben und sie momentan austoben zu lassen, bis das Genie sein quos ego![421] ausgesprochen, von neuem den Zügel ergriffen und den herauf beschworenen Sturm besänftigt hätte?«

Liszt's gesunder Sinn konnte solchen Alternativen gegenüber keinen Moment im Unklaren sein. Ob Herr oder Sklave, ob treibende Macht oder getriebene Sache, ob Kopf oder Maschine, ob auf halbem Berge inmitten der Nebel und Gewitter und folglich in der Dunkelheit stehen bleiben oder seine Spitze ersteigen und umgeben von reiner, ruhiger Luft zusehen, wie der Regen zu unseren Füßen niederströmt, beobachten, wie des Donners Pfeile Furchen durch die Wolken zie hen, – hierüber kann man nicht unschlüssig sein! Auch braucht man bei letzterer Richtung nicht zu befürchten den kühlen und ohnmächtigen Naturen, deren Thatlosigkeit unverändert bleibt, weil sie nicht handeln können, beigezählt zu werden. Ein solcher Mißgriff wäre unmöglich, denn die wahre Empfindung verräth sich in Allem und die Seele wird bei jeder ihrer Bewegungen sich als göttlich erkennen lassen, wie die Venus an ihrem Gange. Dem Phlegmatiker wird es leicht den Kaltblütigen zu spielen: soll er aber Beweise von Wärme und Energie ablegen, so wird er trotz heftiger Anstrengung es nur bis zum Lächerlichen bringen, weil er weder das eine noch das andere je besessen, während eine glühende Seele, nur einen Augenblick entschleiert alles durch den geringsten Strahl ihres Feuers versengt.

Es giebt ganz entschieden Künstler, die nichts empfinden, die nie von ihrer Kunst ergriffen und daher in ihrer Ausübung auch nie durch innere Bewegung verwirrt werden. Für sie ist die Kunst eine Profession, eine Zunft, ein Handwerk. Solche usurpiren den Namen Künstler, welchen sie nie verdient haben, noch verdienen werden. Sie können auch kaum Kritiker abgeben; denn um kritisiren zu können, muß man verstehen – um verstehen zu können, muß man fühlen. Sie sind Praktiker, Mechaniker, Theoretiker, mehr und weniger tüchtige, oft recht nützliche Menschen, aber auch oft die Geißel der Kunst.

Es giebt ferner Künstler von ganz entgegengesetzten Eigenschaften, solche, die von ihrer Phantasie gequält, fast von ihr gedrückt, ja manchmal sogar von ihr getödtet werden. Wohl sind sie Künstler, aber noch ohne Mannesreise. Bleiben sie am Leben, so gelangen sie meistens in die Epoche der Kraft und Einsicht, vorausgesetzt, daß sie nicht zu den Beschränkten gehören, die von[422] Eitelkeit verleitet bis zu ihrem Ende in den Verkehrtheiten und Torheiten einer ersten Jugend verharren; doch ist es selten, daß die wahre Empfindung nicht mit gesundem Sinn und einer, wenn auch nicht weiten, doch klaren Intelligenz gepaart ist.

Es giebt schließlich Künstler, die fertig als Mensch, mit Phantasie, Kraft und Empfindung begabt stets Herr über diese kostbaren Eigenschaften bleiben, sie nur mit Bewußtsein verwenden und inmitten der heftigsten Erregungen der Leidenschaft sich noch so viel Besonnenheit bewahren, um den richtigen Grenzpunkt nicht zu überschreiten. Das allein ist der ganze Künstler, der Erstgeborene der Kunst, ihr ebenbürtiger Freund und nahezu ihr Vater, um den sich die jüngeren Brüder, die verwöhnten Kinder der Kunst schaaren, welchen alsdann die mehr und minder ergebenen Diener folgen.

In diese feierliche Epoche des Künstlerlebens tritt soeben Franz Liszt. Die Kompositionen sowohl, welche wir kürzlich von ihm gehört, sowie der Fortschritt zur Mäßigung in seiner ausübenden Kunst belegen diese Behauptung. In vielen Passagen seiner neuen Werke ist es nicht schwer den Gedanken als das bestimmende Element zu erkennen, dessen Wirkung unabhängig ist von dem Blendwerk des Vortrags. Ich erwähne hier unter andern die Einleitung zu der Fantasie über den Piraten, wo ein zweitaktig gegliederter Satz mit bewundernswürdiger Kunst ohne Verzierung, ohne Läufe, ohne Hilfe irgend eines der zahlreichen Mittel, welche die musikalische Pyrotechnik ihm zur Verfügung stellt, behandelt ist. Die Fantasie über Themen aus der Jüdin steht der andern in nichts nach. Das ist die neue große Schule des Klavierspiels! Von heute an läßt sich Alles von Liszt als Komponist erwarten! man weiß aber auch kaum, wo er als Klavierspieler stehen bleiben wird; denn die schnelle und gänzliche Umwandlung, welche wir soeben nachgewiesen, spricht von einer noch in der Entwickelung stehenden Natur, die einem mächtigen inneren Trieb, dessen Tragweite unberechenbar ist, gehorcht.

Als Stütze meiner Ansicht berufe ich mich auf das Urtheil aller derer, die ihn die große Sonate von Beethoven (opus 106), diese erhabene Dichtung, welche bis heute beinahe sämmtlichen Klavierspielern das Räthsel der Sphinx war, haben spielen hören. Ein neuer Ödipus, Liszt, hat es gelöst, gelöst in einer Weise[423] daß, hätte der Komponist ihn im Grabe hören können, Schauer der Freude und des Stolzes ihn überkommen haben müßten. Keine Note war ausgelassen, keine hinzugesetzt (ich hatte mit der Partitur in der Hand das Spiel verfolgt), keine Inflexion war verwischt, keine Veränderung im Zeitmaß vorgenommen, die nicht angegeben gewesen wäre, kein Gedanke abgeschwächt, keiner von seinem wahren Sinn abgelenkt. Besonders im Adagio, dieser einzig dastehenden Hymne, welche Beethoven's Genie, einsam in der Unendlichkeit schwebend, gleichsam sich selbst gesungen, hat sich Liszt in stets gleicher Höhe mit dem Gedanken des Autors gehalten.

Ich weiß es wohl: mehr kann man nicht sagen; aber sagen muß man es, weil es wahr ist. Es ist das Ideal der Ausführung eines Werkes, das für unausführbar galt. Liszt hat, indem er dergestalt ein noch unverstandenes Werk zum Verständnis brachte bewiesen: daß er der Pianist der Zukunft ist. Ihm sei Ehre!


Hektor Berlioz.


Berlioz hatte mit diesem Aufsatz nicht nur die Umwälzungen dargelegt, welche sich bei Liszt als Virtuos und Komponist vollzogen hatten. Ohne es auszusprechen, schimmert auch überall der Kampf hindurch, der in den musikalischen Kreisen um Liszt und Thalberg begonnen hatte sein Spiel zu treiben. Und ohne sich in eine Polemik einzulassen, hatte Berlioz mit diesem Aufsatz die Sache der Romantik vertreten, im Gegensatz zu den einige Monate vorher erschienenen Thalberg-Aufsätzen von Fétis, welche die konservative Partei zum Hintergrund hatten. Berlioz's Schlußwort hatte der Überzeugung der romantischen Künstlerschaft Ausdruck gegeben. In Berlioz's Ausruf: »Liszt ist der Pianist der Zukunft!« stimmten sie alle überein, aber zugleich hatte er den konservativen Gegnern, welche Liszt von Thalberg überflügelt wähnten, einen Fehdehandschuh hingeworfen. In diesem Moment hob ihn keiner auf. Denn Liszt hatte soeben solche Beweise seines Genies gegeben, daß seine Gegner verstummen mußten Dazu war sein »großer Rivale«, wie man Thalberg nannte, nicht gegenwärtig, um eine abermalige Schilderhebung provociren zu können. Als aber ein Jahr später dieser wieder in Paris koncertirte und auch Liszt zu derselben Zeit als Pianist vor der Öffentlichkeit[424] stand, begann das Für und Wider von neuem und der Handschuh fand seinen Ritter.

Zu der Zeit, als der Aufsatz von Berlioz erschien, war Liszt längst wieder in der Schweiz und Niemand dachte daran, daß sich Weiteres an den Enthusiasmus und die Meinungsverschiedenheit der Parteien knüpfen und alles nur ein Präludium zu noch Folgendem sein sollte.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 415-425.
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