III.

[439] Liszt an George Sand.


Paris, 30. April 1837.


Noch ein Tag, und ich reise ab! Endlich befreit von tausenderlei Banden, die eigentlich mehr in der Einbildung als in der Wirklichkeit unsern kindischen Willen beschränken, ziehe ich hin nach dem unbekannten Land, um das mein Sehnen und Hoffen schon so lange sich klammert.

Wie ein Vogel, der die Gitter seines engen Gefängnisses zertrümmert, erhebt die Phantasie ihre müden Schwingen und nimmt ihren Flug durch den weiten Raum. Glücklich, hundertmal glücklich der Wanderer! Glücklich, wer einmal durchzogene Pfade nicht nochmals zu durchirren und einmal zurückgelassene Spuren nicht wieder zu betreten hat! Rastlos die Wirklichkeit durcheilend sieht er die Dinge nicht anders als sie scheinen, die Menschen nur so, wie sie sich zeigen. Glücklich, wer die warme Freundeshand zu missen weiß, ehe ihr Druck eisig erstarrt, wer den Tag nicht erwartet, welcher den liebeglühenden Blick des geliebten Weibes in nichtige Gleichgiltigkeit verwandelt! Glücklich endlich, wer mit den Verhältnissen zu brechen versteht, ehe er von ihnen gebrochen wird!

Dem Künstler insbesondere kommt es zu, sein Zelt nur für Stunden aufzurichten und sich nirgends für die Dauer niederzulassen.[439] Ist er denn nicht immer unter Menschen ein Fremdling? Was er auch treibe, wohin er auch gehe, er fühlt sich überall als Verbannter. Ihm ist, als hätte er einen reineren Himmel, eine wärmere Sonne, bessere Wesen gekannt. Und was kann er thun, um diesem unbegrenzten Leid, diesem unbestimmten Schmerz zu entgehen? Singend muß der Tonkünstler die Menge durchschreiten und im Vorbeieilen ihr seine Gedanken zuwerfen, ohne danach zu fragen auf welches Erdreich sie fallen, ob Verunglimpfungen sie ersticken, ob Lorbeeren sie spottend bedecken. – Traurig und groß ist die Bestimmung des Künstlers. Eine heilige Gnadenwahl drückt bei seiner Geburt ihr Siegel ihm auf. Nicht er wählt seinen Beruf, sondern sein Beruf wählt ihn und treibt ihn unaufhaltsam vorwärts. So ungünstig auch immerhin die Verhältnisse, der Widerstand der Familie und der Welt, des Elends traurige Beklemmung, die unüberwindlich scheinenden Hindernisse sein mögen: sein Wille steht fest und bleibt unverwandt dem Pole zugewandt; und dieser Pol ist ihm die Kunst, ist ihm die sinnliche Wiedergabe des Geheimnisvollen, Göttlichen im Menschen und in der Natur.

Der Künstler steht allein. Werfen ihn die Ereignisse in den Schoß der Gesellschaft, so schafft seine Seele sich inmitten des unharmonischen Treibens eine undurchdringliche Einsamkeit, zu der selbst die Menschenstimme keinen Eingang mehr findet. Alle Leidenschaften, welche die Menschen bewegen, die Eitelkeit, der Ehrgeiz, der Neid, die Eifersucht, ja selbst die Liebe bleiben außerhalb des magischen Kreises, der um seine innere Welt geschlossen. Hier, zurückgezogen wie in ein Heiligthum, betrachtet und verehrt er das Ideal, welches sein Leben zu verwirklichen trach tet. Hier erscheinen ihm göttliche, unfaßbare Gestalten, Farben, wie sein Auge sie an den schönsten Blumen im Glanze des Lenzes nie erblickt; er hört die Harmonie der Ewigkeit, deren Kadenz die Welten regiert und in welcher alle Stimmen der Schöpfung sich für ihn zu einem wunderbaren Koncert vereinigen. Ein heißes Fieber ergreift ihn dann, sein Blut wallt heftig durch die Adern und tausend verzehrende Gedanken, von welchen ihn nur die heilige Arbeit der Kunst erlösen kann, durchkreisen sein Gehirn. Er fühlt sich als Beute eines unnennbaren Übels; eine unbekannte Macht zwingt ihn in Worten, in Farben oder in Tönen das Ideal zu offenbaren, das in ihm lebt und ihn mit einem Durst nach Verlangen,[440] einer Qual nach Besitz erfüllt, wie kein Mensch sie je für den Gegenstand einer wirklichen Leidenschaft empfunden. Aber sein beendetes Werk, und wenn die ganze Welt ihm Beifall zollt! genügt ihm nur halb; unbefriedigt würde er es vielleicht vernichten, wenn nicht eine neue Erscheinung seinen Blick von dem Geschaffenen abzöge, um ihn von neuem in jene himmlischen, schmerzhaften Ekstasen zu werfen, die sein Leben zu einem beständigen Ringen nach unerreichbarem Ziel, zu einem fortgesetzten Anstrengen aller Geisteskräfte machen, um sich zur Verwirklichung dessen zu erheben, was er in begnadeten Stunden, wo die ewige Schönheit sich ihm wolkenlos enthüllt, empfangen.

Der Künstler lebt heutigen Tags außerhalb der socialen Gemeinschaft; denn das poetische Element, nämlich das religiöse Element der Menschheit, ist aus unseren modernen Staaten verschwunden. Was haben sie, die das Räthsel menschlichen Glückes durch einige er theilte Privilegien, durch eine unbegrenzte Ausdehnung der Industrie und egoistischen Wohlseins zu lösen suchen, – was haben sie mit einem Dichter, was mit einem Künstler zu schaffen? Was kümmern sie sich um diese Menschen, die nutzlos für die Staatsmaschine die Welt durchwandern, um heilige Flammen, edle Gefühle und erhabene Begeisterung zu entzünden, um durch ihre Thaten das unerklärliche Bedürfnis nach Schönheit und Größe, das mehr oder weniger verschlossen auf dem Urgrund jeder Seele liegt, zu befriedigen? Die schönen Zeiten sind nicht mehr, wo die blühenden Zweige der Kunst sich ausbreiteten über ganz Griechenland, das sich an ihrem Duft berauschte. Jeder Bürger war damals ein Künstler; denn alle, die Gesetzgeber, die Krieger, die Philosophen beschäftigten sich mit der Idee des moralisch, geistig und physisch Schönen. Das Erhabene machte niemand staunen, und große Thaten waren ebenso häufig wie die großen Schöpfungen, welche jene zugleich darstellten und eingaben. Die mächtige und strenge Kunst des Mittelalters, welche Kathedralen baute und mit Orgelklang die entzückte Bevölkerung zu sich rief, erlosch, als der Glaube sich von neuem belebte. Heutigen Tags ist die Kunst und Gesellschaft verbindende Sympathie, welche der einen Kraft und Glanz, der andern jene tiefen Erschütterungen verlieh, aus welchen große Dinge hervorgehen, zerstört.

Die sociale Kunst ist nicht mehr und ist noch nicht. Wem begegnen wir auch meistens in unseren Tagen? Bildhauern? Nein,[441] Fabrikanten von Statuen. Malern? Nein, Fabrikanten von Bildern. Musikern? Nein, Fabrikanten von Musik – überall Handwerkern und nir gends Künstlern. Und hieraus noch entstehen grausame Qualen für den, der mit dem Stolze und der wilden Unabhängigkeit eines echten Kindes der Kunst geboren ist. Er sieht sich umgeben von diesem Fabrikantenschwarm, welcher aufmerksam den Launen des großen Haufens und der Phantasie ungebildeter Reichen seine Dienste widmet, vor jedem ihrer Winke sich beugt, beugt bis zur Erde, als könnte er ihr nicht nahe genug sein! Er muß sie als seine Brüder annehmen, muß sehen, wie die Menge ihn und sie vermischt, ihn und sie mit der gleichen groben Schätzung, mit der gleichen kindischen, stumpfen Bewunderung umgiebt. Man sage nicht: das seien die Leiden der Eitelkeit und Selbstliebe. Nein, nein, Sie wissen es, Sie, der Sie so hoch stehen, daß keine Nebenbuhlerschaft Sie erreichen kann! Die bitteren Thränen, welche unserem Auge entfallen, gehören der Verehrung des wahren Gottes, dessen Tempel geschändet ist durch Götzen, um derenwillen das einfältige Volk den Altar der Madonna, die Anbetung des lebendigen Gottes verlassen hat, um vor diesen Gottheiten von Schmutz und Stein anbetend ihre Kniee zu beugen.

Vielleicht, daß Sie mich heute sehr düster gestimmt finden; vielleicht haben Sie unter dem Sang der Nachtigall den Übergang einer köstlichen Nacht zu einem prächtigen Tag herangewacht; vielleicht sind Sie unter blühenden Syringen entschlummert und haben träumend einen schönen blondlockigen Engel gesehen, der Sie beim Erwachen mit den Zügen Ihrer theuren Tochter anlächelte; vielleicht hat Ihr feuriger Andalusier, knirschend unter der bändigenden Hand, Sie in wenigen Sekunden durch den Raum getragen der Sie von ihrem besten Freunde10 trennt; vielleicht und sicherlich sind Sie auf Ihrem Weg einem Unglücklichen begegnet, den Sie die Vorsehung segnen machten! – – Ich, ich habe sechs Monate lang ein Leben nichtiger Kämpfe und unfruchtbarer Versuche gelebt. Ich habe freiwillig mein Künstlerherz den Reibungen des gesellschaftlichen Lebens ausgesetzt, ich habe Tag[442] um Tag, Stunde um Stunde die dumpfen Qualen jenes immerwährenden Mißverständnisses ertragen welches noch lange zwischen Publikum und Künstler obwalten wird.

Der Musiker ist in dieser Beziehung zweifellos zu kurz weggekommen. Der Poet, der Maler, oder der Bildhauer bringt in der Stille seines Atelier sein Werk zur Ausführung und findet, wenn es vollendet ist, Bibliotheken, die es verbreiten, Museen, die es ausstellen; keiner Vermittlung bedarf es zwischen einem Kunstwerk und seinen Richtern, während der Komponist nothwendiger Weise gezwungen ist seine Zuflucht zu Interpreten zu nehmen, die unfähig oder gleichgültig ihn unter den Proben einer Wiedergabe leiden machen, die oft dem Buchstaben getreu, doch nur unvollkommen den Gedanken des Werkes, das Genie des Autors enthüllen. Oder – ist der Komponist zugleich ausführender Künstler, wie selten wird er verstanden, wie viel öfter kommt es vor, daß er das innigste Bewegtsein seines Innern einem kalten, spöttelnden Publikum preisgiebt, daß er seine Seele sich gleichsam entreißen muß, um der zerstreuten Menge einigen Beifall abzuringen! Nur durch größte Anstrengung wirst die helle Flamme seiner Begeisterung einen blassen Wiederschein auf diese eisigen Stirnen entzündet er schwache Funken in diesen liebeleeren, sympathielosen Herzen.

Man hat mir oft gesagt, daß ich weniger als jeder Andere das Recht habe derartige Klagen laut werden zu lassen, weil seit meiner Kindheit der Erfolg vielfach mein Talent und meine Wünsche überschritten. Aber gerade das, der rauschende Beifall, hat mich auf das traurigste überzeugt, daß er vielmehr dem unerklärlichen Zufall der Mode, dem Respekt vor einem großen Namen und einer gewissen thatkräftigen Ausführung gegolten hat als dem echten Gefühl für Wahrheit und Schönheit. Der Belege giebt es über und über genug. – Noch ein Kind belustigte ich mich oft mit muthwilligen Schülerstreichen und mein Publikum verfehlte nie in die Falle zu gehen. Ich spielte z.B. ein und dasselbe Stück bald als Komposition Beethoven's, bald als die Czerny's, bald als meine eigene. An dem Tag, an welchem ich sie als mein eigenes Werk vorführte, erntete ich den aufmunterndsten Beifall: »das sei gar nicht übel für mein Alter!« sagte man; an dem Tage, an welchem ich sie unter Czerny's Namen spielte, hörte man mir kaum zu;[443] spielte ich sie aber unter Beethoven's Autorität, so wußte ich mir schließlich die Bravos der ganzen Versammlung zu sichern.

Der Name Beethoven ruft mir eine andere Begebenheit ins Gedächtnis zurück, die sich später zutrug, die jedoch meine Ansicht über die künstlerische Kapacität des musikalischen Publikums nur zu sehr bestätigt. Sie wissen wohl, daß die Kapelle des Konservatoriums seit einigen Jahren es unternommen hat dem Publikum Beethoven's Symphonien vorzuführen. Heutigentags ist sein Ruhm allgemein bestätigt; die Unwissendsten der Unwissenden verschanzen sich hinter dem kolossalen Namen und ohnmächtiger Neid bedient sich seiner als Keule gegen jeden Zeitgenossen, der es wagt seinen Kopf zu erheben. Um die Idee des Konservatoriums zu ergänzen, widmete ich diesen Winter (leider aus Zeitmangel in sehr unvollständiger Weise) einige musikalische Unterhaltungen fast ausschließlich der Vorführung Beethoven'scher Duos, Trios und Quintetten. Ich war fast ganz sicher zu langweilen, war aber ebenso fest überzeugt, daß es auszusprechen niemand wagen würde. Und in der That, es erfolgten so glänzende Ausbrüche der Begeisterung, daß man in dem Glauben, das Publikum unterwerfe sich dem Genie sich leicht hätte täuschen lassen können, wenn nicht in einer der letzten Soiréen diese Illusion durch eine Veränderung des Programms gänzlich gestört worden wäre. Ohne das Publikum zu benachrichtigen wurde ein Trio von Pixis an Stelle eines von Beethoven gespielt. Die Bravos waren stürmischer und zahlreicher als je; als aber das Trio von Beethoven den ursprünglich für Pixis bestimmten Platz einnahm, fand man es kalt, mittelmäßig und langweilig. Ja, es gab Leute, die davon liefen, indem sie die Zumuthung des Herrn Pixis, sein Werk nach dem soeben gehörten Meisterwerk vorzuführen geradezu für impertinent erklärten.

Es sei ferne von mir behaupten zu wollen, der von Herrn Pixis geerntete Beifall sei ein unverdienter gewesen. Aber er selbst hätte den Beifall eines Publikums, das im Stande gewesen zwei Werke so verschiedenen Stils zu verwechseln, nicht ohne bedauerndes Lächeln entgegen nehmen können. Sicher sind Menschen, die eines solchen Mißverständnisses fähig, total unzugäng lich für die Schönheiten seines Werkes. »O«, rief Goethe aus, der nach gewöhnlicher Anschauung doch vor jedem anderen seines Ruhmes [444] genoß, welcher der glückliche Dichter seines Jahrhunderts war und den seine Zeitgenossen als König begrüßten:


»O sprich mir nicht von jener bunten Menge,

Bei deren Anblick uns der Geist entflieht,

Verhülle mir das wogende Gedränge,

Das wider Willen uns zum Strudel zieht.

Nein, führe mich zur stillen Himmelsenge,

Wo nur dem Dichter reine Freude blüht;

Wo Lieb' und Freundschaft unsers Herzens Segen

Mit Götterhand erschaffen und erpflegen.«


Es ist Thatsache, daß gegenwärtig nur Wenigen eine gründliche musikalische Bildung zu eigen ist. Die Majorität ignorirt die ersten Grundsätze der Musik und nichts ist selbst in den höheren Klassen seltener als ein ernstes Studium unserer Meister. Man begnügt sich meistens von Zeit zu Zeit und ohne Wahl, unter einer Menge erbärmlichen Zeugs, das den Geschmack verdirbt und das Ohr an kleinliche Armuth gewöhnt, einige gute Werke zu hören. Im Gegensatz zum Dichter, welcher die Sprache Aller spricht und sich überdies nur an Menschen wendet, deren Geist durch klassisches Studium gebildet ist, ergeht sich der Musiker in einer geheimnisvollen Sprache, deren Verständnis, wenn nicht ein Specialstudium, doch zum mindesten einen lang gewohnten Umgang mir ihr voraussetzt; und außerdem hat er noch gegenüber dem Maler und Bildhauer den Nachtheil, daß diese sich mehr an das Form gefühl wenden, welches viel allgemeiner ist als das innere Verständnis für die Natur und das Gefühl für das Unbegrenzte, welche die Eigenart der Musik sind.

Giebt es für diese Lage der Dinge eine Verbesserung? Ich glaube es; ich glaube es um so mehr, als wir sie von allen Seiten anstreben. Man wiederholt fortgesetzt, daß wir in einer Übergangsepoche leben, was von der Musik wahrer als von allen anderen Dingen ist. Aber ohne Zweifel ist es traurig in einer Zeit undankbarer Arbeit geboren zu sein, wo der Säende nicht erntet, der Schätzesammelnde nicht genießt, wo derjenige, welcher Gedanken des Heils empfängt, ihr Lebendigwerden nicht sehen soll, sie vielmehr nackt und schwach der Nachwelt vermachen muß gleich der Mutter, die in den Schmerzen der Entbindung dahin stirbt. Aber was sind dem Gläubigen die langen Tage des Harrens!

[445] Unter den Verbesserungen, welche ich »in meinen Träumen, träume«, ist eine, welche leicht ins Werk zu setzen wäre und die mir plötzlich einfiel, als ich stille die Galerien des Louvre durchschritt und bald die tiefe Poesie des Scheffer'schen Pinsels, bald die lebendige Farbenpracht eines Delacroix, die reinen Linien Flandrin's und Lehmann's, die kräftige Natur Delaroche's betrachtete. Warum – sagte ich mir, – warum wird nicht auch die Musik zu diesen jährlichen Festen eingeladen? Warum bleiben die weiten Hallen des Louvre stumm? Warum bringen nicht die Komponisten wie ihre Brüder, die Maler, die schönsten Garben ihrer Ernte hierher? Warum sind nicht unter dem Anruf des Christus von Scheffer, der heiligen Cäcilie von Delaroche die Kom ponisten Meyerbeer, Halevy, Berlioz, Onslow, Chopin und andere noch weniger beachtete, die ungeduldig den Tag ihres Sonnenaufgangs erwarten, hier, um in dieser geheiligten Umgebung ihre Symphonien, Chöre und Kompositionen aller Art, welche aus Mangel an Aufführungsmitteln in den Mappen verschlossen bleiben, zu hören?

Die Theater, welche überdies nur einseitig die Kunst repräsentiren, sind in den Händen von Administratoren, die den alleinigen Zweck der Kunst weder haben noch haben können. Gezwungen den Erfolg im Auge zu behalten, um nicht dem Ruin entgegen zu gehen, weisen sie unbekannte Namen und ernste Werke zurück. Der Saal des Konservatoriums nimmt nur ein kleines Auditorium auf und sein Orchester genügt kaum zur Aufführung großer Werke. Wäre es nun nicht dringend geboten, daß die Regierung diese Lücke ausfüllte, indem sie ein tüchtiges Orchester und einen Chor anstellen würde, um moderne und von einer speciellen Kommission gewählte Werke aufzuführen? Das Publikum, einige Monate zum Anhören dieser auserlesenen Musik zugelassen, würde seinen Geschmack bilden und die jungen talentvollen Künstler gewännen Aussicht, nicht immer im Dunkeln und in der Vergessenheit, in welche sie die unübersteiglichen zwischen ihnen und der Öffentlichkeit sich aufthürmenden Hindernisse unausbleiblich hineinstoßen, verharren zu müssen. Gewiß, es wäre von Seiten der Regierung ein großartig nationales Unternehmen, den Musikern dieselbe Unterstützung zu Theil werden zu lassen wie den Malern, ein Unternehmen, das dieselbe Aufmerksamkeit verdienen würde wie manche ernste Kammerde batte, wie mancher ernste[446] Ministerstreit. Zur großen Schreckenszeit hat es der Konvent nicht verschmäht das Konservatorium zu gründen.

Aber ich bemerke, daß ich es wie die schüchternen Beichtkinder mache, die das, was ihnen am schwersten zu sagen wird, auf den Schluß der Beichte sparen. Ich habe bis jetzt gezögert Ihnen von dem musikalischen Streite zu sprechen, mit dem man sich nur zuviel beschäftigte; ist er doch bis in Ihre Einsamkeit gedrungen und hat sogar Sie zu der Bitte einer Erklärung veranlaßt. Die anfänglich einfachste Sache der Welt ist – Dank den Auslegungen! – zur unverständlichsten fürs Publikum und – Dank den Deutungen! – zur peinlichsten und reizbarsten für mich geworden: so will ich Ihnen nun diesen Vorgang erzählen, den Einige so gefällig waren meine »Nebenbuhlerschaft« mit Thalberg zu nennen.

Sie wissen, daß ich Herrn Thalberg am Anfang des letzten Winters, als ich Genf verließ, nicht kannte. Seine Berühmtheit war nur schwach zu uns gedrungen. Die Echos des St. Gotthards und des Faulhorns, welche die ersten Worte der Schöpfung zurückbehalten zu haben scheinen, hatten wohl anderes zu thun als unsere kleinen armen Eintagsnamen zu wiederholen! Bei meiner Ankunft in Paris war in der ganzen musikalischen Welt von nichts anderem die Rede als von der wunderbaren Erscheinung eines Pianisten, der alles weit hinter sich lasse, was man je gehört, der Regenerator der Kunst genannt zu werden verdiene und der sowohl als ausführender Künstler wie als Komponist ganz neue Bahnen betrete, auf denen ihm zu folgen wir alle uns anstrengen sollten.

Sie, die Sie wissen, wie ich dem kleinsten Gerücht mein Ohr leihe, wie meine Sympathien jedem Fortschritt warm entgegen fliegen, Sie werden sich denken können, wie meine Seele der Hoffnung entgegen zitterte dem zeitgenössischen Pianistenthum einen großartigen Impuls gegeben zu sehen. Nur eines machte mich mißtrauisch: die Eile, mit welcher die Verkünder des neuen Messias alles Vorhergegangene vergaßen oder verwarfen.

Ich gestehe, daß ich von den Kompositionen des Herrn Thalberg wenig Gutes erwartete, als ich sie von den Leuten in einer Art loben hörte, die deutlich zu verstehen gab, daß alles, was vor ihm erschienen, Hummel, Moscheles, Halkbrenner, Bertini, Chopin, schon durch die Thatsache seines Erscheinens in das Nichts versunken sei. Ich wurde endlich ungeduldig diese[447] neuen und tiefen Werke, die mir einen Mann des Genies offenbaren sollten, selbst kennen zu lernen. Ich schloß mich einen ganzen Vormittag ein, um sie gewissenhaft zu studiren. Das Resultat dieses Studiums war dem von mir erwarteten diametral entgegengesetzt. Ich staunte nur noch über eines: daß solche mittelmäßige, nichtssagende Kompositionen allgemein einen solchen Effekt gemacht hatten. Hieraus schloß ich, daß das Ausführungstalent des Komponisten ein außergewöhnliches sein müsse. Diese Ansicht sprach ich in der Gazette musicale aus, ohne jede andere Absicht als die bei vielen anderen Gelegenheiten gezeigte: meinen guten oder schlechten Rath über die Klavierkompositionen abzugeben, die zu prüfen ich mir die Mühe genommen. Bei dieser Gelegenheit hatte ich weniger als je die Absicht, die öffentliche Meinung zu beherrschen oder herunter zu setzen. Ich bin weit davon entfernt mir ein solch impertinentes Recht anmaßen zu wollen, aber ich glaubte ungehindert sagen zu dürfen, daß, wenn dieses die neue Schule sei, ich nicht von der neuen Schule wäre, daß, wenn Herr Thalberg diese neue Richtung nehme, ich mich nicht berufen fühlte denselben Weg zu gehen und endlich, daß ich in seinen Ideen keinen Zukunftskeim entdecken könne, den weiter zu entwickeln Andere sich bemühen sollten.

Was ich da sagte, sagte ich mit Bedauern und gleichsam dazu gezwungen vom Publikum, das sich zur Aufgabe gemacht hatte uns einander wie zwei Renner gegenüber zu stellen, die in einer Arena sich um den gleichen Preis bewerben. Es hat mich vielleicht auch das manchen Naturen eingeborene Gefühl, welches gegen die Ungerechtigkeit reagirt und selbst bei kleinen Anlässen gegen den Irrthum oder den falschen Glauben eifert, bewogen die Feder zu ergreifen und meine Meinung offen auszusprechen. Als ich sie dem Publikum mitgetheilt, sagte ich sie auch noch dem Komponisten selbst, als wir uns später trafen. Es machte mir Freude sein schönes Ausführungstalent mit lauter Stimme loben zu können, und er hat besser als alle andern das Loyale und Freie meines Benehmens verstanden. Nun proklamirte man uns als »Versöhnte«, ein Thema, das bald ebenso albern und weitschweifig variirt wurde, wie vordem unsere sogenannte »Feindschaft«. – In Wahrheit hat es zwischen uns weder Feindschaft noch Versöhnung gegeben. Sind sie denn Feinde, wenn ein Künstler dem andern einen Werth, den die Menge ihm übertrieben zuerkennt, abspricht? Sind sie[448] denn versöhnt, wenn sie sich außerhalb der Kunstfragen schätzen und achten?

Sie werden verstehen, wie mich bei dieser Gelegenheit die unaufhörlichen Kommentare meiner Worte und Handlungen verstimmt machen mußten. Während ich jene Zeilen über Thalberg schrieb, sah ich wohl einen Theil der Entrüstung, die ich mir zugezogen, der Gewitter, die über meinem Haupt sich sammeln würden, voraus, glaubte aber dennoch – ich gestehe es offen – nach vielem Vorhergegangenen von dem häßlichen Verdacht des Neides freigesprochen zu werden.

Ich glaubte – o heilige Einfalt! werden Sie sagen – daß die Wahrheit immer gesagt werden könne und solle und daß der Künstler unter keinen Umständen, selbst nicht bei geringfügigen Dingen, durch ein kluges Berechnen persönlicher Interessen Verrath an seiner Überzeugung üben dürfe. Die Erfahrung hat mich zwar aufgeklärt, aber nicht geheilt. Unglücklicherweise gehöre ich nicht zu jenen »natures émollientes«, von denen der Marquis von Mirabeau spricht, und ich liebe die Wahrheit, liebe sie mehr als mich selbst.

Überdies erhielt ich unter den ungehobelten Lektionen, die mir nicht erspart geblieben sind, so anbetungswürdige graziöse Backenstreiche, daß ich im Stande wäre im Sturme dieser Bestrafung nachzulaufen. Frauenbackenstreiche! was sage ich? Backenstreiche der Muse, die so wenig wehe thun und so süß zu empfangen sind, daß man niederknien und bitten möchte: »Mehr!« Lehren von der Ex-Muse des Vaterlandes zu erhalten ist werthlos und im Grunde genommen glaube ich, daß mich niemand um sie beneidet.

Aber in der That, ich bin beschämt Ihnen so lange von diesen Kleinigkeiten gesprochen zu haben: vergessen wir diesen letzten Lärm einer Welt, in welcher dem Künstler noch die Lebensluft fehlt. Irgendwo, weit weg in einem Lande, das ich kenne, ist eine klare Quelle, die liebevoll die Wurzeln eines einsamen Palmbaums netzt. Der Palmbaum breitet seine Äste über die Quelle und schützt sie vor den heißen Sonnenstrahlen. Aus dieser Quelle will ich trinken, unter diesem Schatten will ich ruhen, diesem rührenden Sinnbild jener heiligen unzerstörbaren Liebe, die auf Erden alles zusammenhält und ohne Zweifel im Himmel erblüht.


[449] F. Liszt.

Fußnoten

1 Pollini gehörte der Clementi – Schule an und hat durch sein Lehrbuch: »Metodo pel Clavicembalo« (Mailand, Ricordi), welches s.Z. von den Professoren des mailänder Konservatoriums für Musik geprüft und mit dem Beschluß dasselbe »unveränderlich« (invariabilmente) als Basis des Klavierunterrichts diesem Institut einzuverleiben, hier eingeführt wurde, vielfach Anregung speciell für diesen Theil der Klaviertechnik gegeben.


2 Dieser Aufsatz, von der Gazette musicale de Paris gebracht, scheint bei der Zusammenstellung der »Gesammelten Schriften Berlioz's« übersehen worden zu sein. Dieselben enthalten ihn nicht, was seinem Abdruck und seiner Übersetzung hier noch einen besonderen Werth geben dürfte.


3 Die Zuhörerschaft Thalberg's – die vornehme Gesellschaft.


4 Dragonetti war ein pariser Kontrabassist, der auf seinem Instrument eine fabelhafte Virtuosität erreicht hatte.


5 »Cäcilie« XIX. Band 1837: »Paris, im Januar«. –Gazette musicale de Paris 1837 No.52: »Concert de M.M. Berlioz et Liszt«.


6 Gazette musicale 1837 pag. 81: »Les concerts de M.M. Liszt, Batta et Urhan« von L. Legouvé


7 »Salon« IV. Band.


8 Gazette musicale de Paris 1837, No. 13.


9 Gazette musicale de Paris 1837, No. 15 »Concert, donné au profit des Italiens indigents dans les salons de Mad. la Princesse de Belgiosjoso« – Nach einem Bericht der leipziger »Neuen Zeitschrift für Musik« waren Herz, Chopin, Czerny die Mitwirkenden, was jedenfalls eine Verwechselung mit den Komponisten des noch zu erwähnenden »Hexameron« ist.


10 George Sand's Nachbar und treuer Freund, der viel gereiste Naturforscher Neraud, den sie als ein »dürres, kupferfarbiges, schlecht gekleidetes Männchen« beschreibt und den sie ihren Malgache nennt.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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