XXI.

Ein Rückblick.

Liszt's Virtuosen-Periode als historische Aufgabe. Einwirkung seiner Virtuosität auf die Entwickelung der musikalischen Reproduktion. Begeisterung und »Liszt-Kultus«. Das Anderssein des Genies. Wahrheit und Dichtung. Die Beurtheilung Liszt's. Liszt's große Natur. Der Enthusiasmus für ihn als Mensch, als Künstler.


Niemand mochte damals ahnen, daß das Koncert in Elisabethgrad die Virtuosenlaufbahn Franz Liszt's, der auf der Höhe seines Ruhmes und seiner Manneskraft stand, beschließen werde. Ihm selbst war es unbewußt, obwohl sein Rücktritt vom Podium nur des Anstoßes harrte, um sich vollziehen zu können. Mißmuth und Gleichgültigkeit an seiner Karrière hatten sich seiner mehr und mehr bemächtigt und das geistige Elend des Unbefriedigtseins kam seinen Freunden gegenüber nicht selten vulkanartig zum Ausbruch. Schon während seines Berliner Aufenthaltes berührte Rellstab diesen Punkt. Anderes, Höheres pulsirte in ihm als das Verlangen nach äußeren Ehren und Glanz. Sie hatte er nie gesucht. Als eine Konsequenz seiner Gesammterscheinung ergaben sie sich von selbst. Nichts war bei ihm geplant; nach keiner Seite war seine Virtuosenlaufbahn ein Vorgefaßtes. Privatverhältnisse und -Pflichten, Lebensdurst und künstlerischer Drang, ein: »mitten im Genuß verschmacht' ich nach Begier« verwoben sich ineinander und riefen heute das eine, morgen das andere: Weiter! weiter! Und doch – redeten auch persönliche Verhältnisse bei seinem Wanderleben ein Machtwort, und forderte auch der Romantik verlockender Reiz seinen berechtigten Antheil: so blieb es doch in erster und letzter Instanz jener innere Trieb, der mit unwiderstehlicher und undefinirbarer Gewalt die höhere Begabung auf bestimmte Bahnen zwingt und sie, wie ein Naturgesetz, auf diesen festhält, bis sie[285] durchschritten sind, welcher den Künstler von Nord nach Süd, von West nach Ost geführt hat.

Wir erblicken ihn in Ungarn, in Deutschland von der Donau bis zum Rhein, in England, Frankreich, Rußland, in Dänemark, Spanien, Portugal, selbst die letzte Station des europäischen Orients, die Hauptstadt des türkischen Reiches, wurde von dem Virtuosen besucht. Es waren Jahre ohne Rast und Ruhe. »Saus und Braus« nannte er sie selbst. Während dieser Zeit gab es nirgends für ihn eine bleibende Stätte, kein Daheim, keine stille Arbeit des Geistes – und trotzdem Thaten, deren Resultate die Zeiten überdauern. Wo er weilt, weilt er gern, – wo er erscheint, ist er umjubelt, nirgends ein Gast, dem man mit der ruhigen Miene gewährender Gastfreundschaft den Gruß des Willkomms bietet: die Freudenfeuer des Enthusiasmus entzünden sich, es öffnen sich die Ruhmeshallen und unverwelklicher Lorbeer fällt ihm zu Füßen. Zischen auch allmählich die zelotischen Flammen gegnerischer Kritik mehr hinein in die lodernden Feuergarben begeisterten Jubels, so konnten sie diesem doch nicht wehren und die Saat, die des Künstlers Wegen entkeimte, nicht am Blühen hindern. Nein, er war kein stiller sich verlierender Wanderer – Dichter nannten ihn einen Sonnengott, der seine sprühenden Rosse lenkt und seine tönenden Bahnen durch die Lande Europas zieht.

Die Wanderjahre von 1839/40 bis 1847 unterscheiden sich wesentlich von seiner vorhergehenden Reiseperiode. Während dieser war er innerlich aufnehmend, sammelnd, sich selbst ausgestaltend. Was er damals errungen, hatte er jetzt, ein eigenartiger Bannerträger des musikalisch fortschreitenden Geistes, hinausgetragen in die civilisirte Welt Europas.

Liszt's Virtuosenperiode bildet hiedurch nicht nur in seinem eigenen Leben eine Epoche strahlenden Glanzes: sie wurde auch epochemachend für die historische Entwickelung des Klavierspiels und der Klaviermusik. In der Geschichte derselben ließe sich diese füglich als »Liszt-Epoche« bezeichnen. Der große Umschwung, welcher seit 1848 sich auf diesem Gebiet vollzog, findet in ihr Fundament und Ausgangspunkt. Liszt hat während derselben dem geistig leeren, aber glatten Formenspiel, wie es aus der Restaurations- und Virtuosenepoche in diese Zeit herübergekommen war, sein Endziel gesetzt. Gegenüber dem formellen Princip inaugurirte er den Geist des gedankenreichen Fortschritts.[286]

Wollte man aber die Grenzlinie des Einflusses, welchen der Virtuose Liszt auf die Umgestaltung der Virtuosität ausübte, nur um das Klavier herumziehen, so würde man irren. Sie ging über dieses Instrument hinaus. Wie sein Klavierspiel so ganz und gar jenseits der Grenzen der eigentlichen Virtuosität lag und mehr ein Ausdruck musikalischen Vollgenies als der eines nur technischen Genius war, so überstieg seine Wirkung die Linie, welche im allgemeinen die Virtuosen der verschiedenen Instrumente von einander trennt: die gesammte musikalische Virtuosität, technische wie ideelle, erfuhr durch ihn einen keineswegs blos vorübergehenden und unbedeutenden Anstoß zu ihrer Weiterentwickelung. In der umfassenden Weite seiner Individualität fand die begrenzte sich wieder. »Es ist das Wunderbare seines Spiels, daß Jeder sich von ihm getroffen fühlt« hörte man damals wie noch dreißig Jahre nachher aus dem Munde der Virtuosen verschiedenster Gebiete. Jeder, der ihn hörte, ging bereichert von hinnen – bald der Geiger, bald der Sänger oder der Harfen- oder der Orgelspieler. Er hat indirekt nach allen Richtungen hin tiefspurig eingewirkt. Suchte jeder angesichts der Omnipotenz seiner Technik die eigene zu steigern, so wurde insbesondere die geistige Seite seines Spiels – sein Vortrag – der Anstoß zu einer vollständigen Umgestaltung der Virtuositätsziele. Liszt war Virtuose im Dienste seines schaffenden Ichs. Das Besondere seiner Art warf seine Reflexe belebend und befruchtend auf alle Zweige der musikalischen Reproduktion. Was die Virtuosität der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nach dieser Seite charakterisirt, ist zum großen Theil auf die Einwirkung zurückzuführen, welche Liszt am Klavier auf die Welt geübt hat.

Ähnliches gilt von seinen Kompositionen dieser Epoche, obwohl der Einfluß hier ein mehr vorbereitender blieb. Allerdings gab es auch in ihr keine »großen Werke«, keine Ouvertüre, keine Symphonie, kein Oratorium, keine Oper. Doch sind es auch nicht ausschließlich Klavierstücke, welche ihr angehören. Neben ihnen trieben Lieder und Chöre, weltlichen und religiösen Inhalts, reiche Blüthen. Unter den Klavierstücken, Opern-Fantasien, Paraphrasen, Übertragungen fällt der Schwerpunkt auf seine für den Koncertsaal komponirten Fantasien. Sie bilden eine neue Gattung innerhalb der Klaviermusik. Hier schuf er Meisterstücke. Der Bedeutung seiner Liedübertragungen wurde schon früher gedacht.1[287]

Der neue charakteristische, inhaltgesättigte Ton, das dramatische Element seiner Koncert-Fantasien ließ plötzlich das leere Phrasenthum, welches damals den Virtuosenstücken anhing, und dem aus dem Weg zu gehen in Frankreich nur Chopin, in Deutschland nur Schumann, beziehungsweise auch Mendelssohn gelang, als unerträglich erscheinen. Es wurde unmöglich. So bahnte sich auch hier unter seiner Einwirkung eine Umgestaltung an, welche bis zu unserer Zeit immer breitere Dimensionen angenommen hat, um sich allmählich zu einem neuen musikalischen Styl zu verdichten.

Das Lied der Pariser Widersacher vom Anfang der dreißiger Jahre: »Er kann nicht komponiren!« setzte sich wohl allen seinen Kompositionen gegenüber fort, ja schwoll, die Runde in Europa machend, zum Chorus an. Allein so sehr die veraltete Kritik bemüht war, ihnen Werth, Bedeutung, ja das Leben selbst abzusprechen und sie zur oberflächlichen Virtuosenarbeit, die nur gewürzt sei mit genialen Einfällen, zu degradiren: ihre um- und neugestaltende Lebenskraft brach durch alle Poren hindurch in den musikalischen Lebenskörper hinein. Als der Zeitpunkt nahte, da Liszt als Virtuose sich von der Öffentlichkeit zurückzog – das Jahr 1848 mit seinem Sturm und seiner staatlichen Lebenswendung – und der gesammte Lebensgehalt sich aus ausgeprägteren und lebensfrischen Ingredenzien zu neuen Formen zusammensetzte, als die Gefühls- und Phantasiewelt aus dem romantischen Chaos von Wünschen, Aspirationen und Nebelgestalten zu gesunderen Anschauungen und Ideen sich festete und in der Kunst nach entsprechenden Ausdrucksformen rang, als nun auf musikalischem Gebiet, auf dem der Oper: Richard Wagner, auf dem der Symphonie: Hector Berlioz und später Franz Liszt der Symphoniker als Männer einer neuen Zeit sich bekundeten, indem historisch sich durch sie die große Wendung zu einer neuen Ära der gesammten Musik vollzog: da hatte diese neue Ära bereits im Koncertsaal der europäischen Nationen ihren Hinweis und ihre Verkündigung durch Franz Liszt den Virtuosen gefunden.

Im Hinblick auf die Werke seiner damaligen Zeitgenossen Chopin, Mendelssohn, Schumann, die ebenfalls berufen[288] waren die musikalische Neuzeit theils vorzubereiten, theils zu vertreten, mag im ersten Moment dieser Ausspruch ein Wagnis erscheinen. Doch fallen alle Zweifel gegenüber der Thatsache, daß die Kompositionen dieser Meister in den vierziger Jahren noch keineswegs verbreitet waren und sie der Einbürgerung und Anerkennung, welche sie heutigentags genießen – Mendelssohn ausgenommen – noch ferne standen, daß sie wohl als Kompositionen vorhanden waren, aber der allgemeinen Lebendigmachung noch entbehrten, daß in dieser Periode Chopin so ziemlich ausschließlich den polnisch-aristokratischen Kreisen in Paris, Schumann seinen Leipziger Freunden und Verehrern, und sogar Berlioz, trotz seiner Kunstreise durch Deutschland, den Pariser Zeitgenossen eine neue Sprache der Poesie und des Geistes redeten, daß folglich der Einfluß ihrer damaligen Werke noch ein überwiegend lokaler, auf einzelne Kreise sich beschränkender geblieben und Liszt der einzige war, welcher diese neue Sprache durch ganz Europa trug und sie theils durch Tongebilde anderer Meister, theils durch seine Improvisationen und eigenen Kompositionen unmittelbar aus dem Blitz seines Genies heraus mit überwältigender, hinreißender Macht geredet hat. Seine Reproduktionen und Vorträge verhielten sich zu jenen Werken, wie das lebendig gesprochene Wort zu dem gedruckten, wie das Bühnendrama zum Litteraturdrama.

Wie Liszt's Virtuosenepoche nach Seite ihres geistigen Gehaltes von weittragenden Folgen für den musikalischen Fortschritt wurde, so war sie auch nach Außen hin eine Erscheinung, deren Außerordentliches sich zu einem Glanzpunkt in der Geschichte der Künstler gestaltete. Ein Nimbus umgab sie, so einzig in seiner Art und abnorm, daß wir in den Biographien berühmter Männer vergeblich nach einem Seitenstück suchen. Tauchten auch in dem Leben bedeutender Künstler Momente auf, gesättigt von Ruhm, Ehren, geistigem und weltlichem Glanz, erzählt auch die Vergangenheit von gewaltigen Sängern, Malern und Bildhauern, die sich umschmeichelt sahen von den Vornehmen und Großen der Erde, deren Lob von Frauenmund und Männergeist erklang, die von Korporationen, Städten, ja Nationen jubelnd gefeiert wurden, so blieben solche Ruhmesakte doch nur mehr Momente, die vereinzelt und vorübergehend ihr Leben bald schmückten, bald erhellten. In dieser Lebensperiode Liszt's aber treten dieselben nicht vereinzelt, sondern als eine ununterbrochene Kette auf, die alle[289] Auszeichnungen und Huldigungen umschloß. Die Räder seines Wagens erscheinen von den Fittichen des Ruhmes getrieben, die Lippen der Poeten aller Länder verherrlichen ihn, Lorbeer und Blumen tragen Männer und Frauen ihm entgegen, Fürsten sind seine Freunde und in den Ruf der Begeisterung stimmen alle Schichten der Gesellschaft und der Bildung, hoch und niedrig, ein. Die Begeisterung für ihn als Künstler und Mensch, die ein tausendfaches Echo in allen Ländern Europas fand, verlieh diesem Glanz besonderen Zauber, und gerade dadurch, daß sie untrennbar den Künstler und Menschen umwob, stempelt sie diese Periode nicht allein biographisch zu einer denkwürdigen, sondern auch als ein Beispiel seltenster Vereinigung dieser im Leben eines Menschen meistens getrennt auftretenden Faktoren. Der große Künstler und der große Mensch sind wie aus einem Guß. Seine Eigenschaften als letzterer trugen dasselbe leuchtende Kolorit, wie seine künstlerischen. Nirgends war ihnen Kleines, noch weniger Kleinliches untermischt und, so romantische Reflexe sein persönliches Leben dieser Periode wirft, so unzählig viele Anekdoten und Novellen über ihn cirkulirten: keine, die den Zug des Kleinlichen an sich trüge! Seine menschlichen Eigenschaften zeigen im Schiller der Excentricität so viel Schönheit, Adel und Größe, daß selbst die Leidenschaften seines Temperamentes, welche in dieser Epoche ungebunden ihr freies Spiel trieben, der Beurtheilung ein anderes Licht abverlangen. Sie gaben ihnen ein solches Gepräge des Reizenden, Poetischen und Vornehmen, daß es den Anschein gewann, als seien sie mehr dem Erglühen der Phantasie, als dem nackten Impuls der Sinne entsprungen. Ja, so seltsam es klingt, jene strahlten in einem Glanz, der dem des Virtuosen gleichsam Konkurrenz machte und über alle Länder hin ebenso gerühmt, wie berühmt war, so daß vor noch nicht allzulanger Zeit eine höchstgestellte Persönlichkeit in ihrem engeren Hofkreis die Frage aufwerfen konnte: »Wer ist größer, Liszt der Mensch oder Liszt der Künstler?« –

Während dieser Periode schwoll der ihn umrauschende Jubel zur denkbarsten, eben so oft zu poetischem, als zu frenetischem Taumel werdenden Höhe an. Der »Liszt-Kultus« ward zum feststehenden Wort. Er erregte Anstoß und beschäftigte die Witzlinge. Man hat den hinreißenden Zauber des Künstlers in seiner Wirkung auf Andere dämonisch und elektrisch genannt und ihn namentlich den[290] Frauen gegenüber mit einem, jeder edlen Auslegung und jeder Mißdeutung offenen Misterioso umgeben – ein Stück lebendiger »Wahrheit und Dichtung«, deren Fäden so eng verschlungen sind, daß es den entwirrenden Geistern der Zukunft eine schwerere Arbeit bieten wird, als die unter diesem Titel von Dichterhand geschriebene Selbstbiographie. Leichter dürfte es sein, demselben die Erklärung zu geben, die vor Allem darin zu suchen ist, daß die gesammte geistige Organisation des schöpferischen Genies eine andere ist als die des Durchschnittsmenschen und des Talentes und daß in Folge dessen auch der Ausdruck seines Wesens ein anderer sein muß, als bei diesem: höher gestimmt und leichter erregt und darum dem Irren und der irrigen Beurtheilung auch leichter ausgesetzt. Sein unendlicher Vorzug wird ihm oft zum Nachtheil.

Aber in diesem »höher gestimmt und leichter erregt«, in diesem Grundton des künstlerisch-schaffenden Genies, liegt im allgemeinen für die Auffassung und Beurtheilung desselben die Klippe. Denn dieser Zustand ist bei ihm nicht, wie bei dem Talent so häufig zu bemerken, ein stoß- und stückweiser, welcher dazwischen kommt und noch öfter sich verleugnet und während der Pausen den Künstler mit seinem Denken, Fühlen, Handeln auf das breite von dem Alltagsmenschen betretene Geleis stellt, sondern einer, dessen poetische zur Aktivität aufgelegte Stimmung bleibend ist, sein gesammtes Thun und Lassen, das künstlerische und das persönliche, durchdringt und sporadisch bis zu jener Höhe anschwillt, die ihn zwingt sich im Schaffen Luft zu machen. Diese Hochfluth trägt sich in sein Alltagsleben. Sie ist an kein musikalisches Instrument, an keinen Arbeitstisch, an keine Staffelei gebunden.

Das Genie gleicht in vielen Dingen dem Meer mit seiner Ebbe und Fluth, dem Bilde ewiger Bewegung. Bei der Fluth, die das Meer zur Äußerung seiner Gewalten zwingt, wie bei der Ebbe, in der es sich gleichsam zur Ruhe in sich zusammenzieht, bleibt das Meer doch Meer, nämlich machtvoll und thätig in seinen Tiefen. Das künstlerisch-schaffende Genie ist wohl frei von dessen minutiöser Rhythmik, aber mag es in der fluthenden Kraft seiner Thaten stehen, mag es der Ebbe des Meeres gleich den Schein der Ruhe in Anspruch nehmen: es bleibt Genie, bleibt bei Ebbe und Fluth poetisch und thätig gestimmt. Das ist seine Individualität. Diese Stimmung trägt sich hinein in die[291] Kunst und in das Leben, in seine Anschauung, in seine Empfindung und in all sein Thun, mag es passiv oder aktiv sein – sie trägt sich auch hinein in seine persönlichen Beziehungen.

Von hier aus, aus dem Wesen des Genies selbst, kommt die Räthsellösung seines oft so befremdenden persönlichen Lebens. Dasselbe Etwas, welches das Genie ermächtigt an dem Offenbarungswerk des »ewigen Geistes« mitzuarbeiten, dem wir die Kunst in allen ihren Arten, in tausend und tausend Kunstwerken zu danken haben: dieses Etwas giebt seinen persönlichen Bewegungen das Besondere, das Verständliche und Unverständliche, auch das, was man seine »Schatten« nennt. Es giebt uns die Erklärung von so manchem, was in diesen Geistern uns anzieht und abstößt, was ihrem Wesen auch im Verkehr mit dem Leben ein so anderes Gepräge giebt, daß sie wie Fremdlinge unter uns wandeln, deren Devisen nicht Allen offenkundig ist. Die Heraldik des Geistes ist in der Kunst, wie im Leben ein Studium, dessen Betrieb sich mehr dem Einzelnen als der Masse öffnet.

Von hier aus ist im Leben Liszt's manche der nur an einem Strohhalm Wahrheit hängenden Dichtungen zu erklären, die ihn in der Phantasie vieler sowohl zu einem Musengott als zu einem Märchenprinzen oder auch zu einem beglückenden Heros der vornehmen Frauen-Kemenate machte. Der Einfluß und berückende Zauber seines Wesens verwirrte das Urtheil, indem sie die Phantasie in dieses hineindrängten. Je mehr sich Liszt's Individualität zu ihrer ganzen Eigenartigkeit entwickelte, um so größer und zwingender wurde dieser Einfluß, dabei um so vielseitiger ihre Wirkung und um so mehrdeutiger die ihr werdende Beurtheilung. Gab sich ein Theil dem Künstler naiv, warm, ohne Rückhalt hin, so suchte ein anderer ihn zu definiren – jeder nach eigener Art. Der Geistvolle fand den Ursitz seiner Besonderheit in dem hohen funkelnden Esprit, mit dem der Künstler begabt war, der Edle in der Noblesse seines Charakters, der Poetische in der leichten Erregbarkeit seiner Phantasie, der Weltmann in seiner Weltgewandtheit, der Kaufmann in seiner Freigebigkeit, der Materielle in den Sinnen – wer hatte Recht? Keiner und Alle.

Doch stand unter seinem Zauber nicht nur der eine Theil der Gesellschaft, die Frauen. Die Männer standen, wie sie, unter dem Eindruck desselben und empfanden, wie sie, die hinreißende Gewalt seines Wesens. Künstler, Schriftsteller und Dichter haben[292] dieser Thatsache unzählige Male Ausdruck gegeben – biographische Dokumente von Werth und Gewicht.

Während der von männlicher Seite dem Virtuosen gewidmete Kultus sich durch Festivitäten, Fackelzüge, Serenaden, Hochs mit obligatem Tusch Luft machte, wanden die Frauen Blumenkronen und reichten ihm Rosen mit und ohne Stachel. Von ihnen wurden ihm Huldigungen, wie sie nur das zur Phantasterei geneigte Frauenherz erfinden kann, dabei auch solche, wie sie nur den edelsten und reinsten Frauengemüthern zu entspringen im Stande sind. Doch welcher Art auch solche sein mögen: der Mann empfängt sie mit Stolz und die zuschauende Welt belächelt und bespöttelt sie. In ihnen, nach beiden Richtungen hin einer der Alltagsprosa abgewandten Poesie entsprungen, floß eine Hauptquelle der Märchen, welche die Fama geschäftig ausstreute und eine neuigkeitsgierige Menge freudig aufgriff, theils um die Wunderwirkungen des Virtuosen durch andere Wunderthaten zu illustriren, theils froh, die an sich unbequem empfundene Wirkung abschütteln und auf Rechnung einer ansteckenden Nervenüberreizung seitens der Frauen setzen zu können. Wie dem auch sei: »Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas.« Dieses einem Kaisermund entrissene Wort bitterster Ironie läßt sich auch auf den Kultus anwenden, mag er dem Heiligen oder dem Profanen, der Kunst oder ihren Trägern gelten. Je frischer und unmittelbarer er aus der Phantasie und dem Gefühl hervortreibt, je mehr er die Massen ergreift und große Dimensionen annimmt, um so sicherer schleppt er im Großen wie im Kleinen Karikaturen in seinem Gefolge mit.

Eine weniger kraftvolle und gesunde Natur, als die Liszt's, würde bei solchem Leben untergegangen sein in Eitelkeit und Erschlaffung: seine Natur trat aus dem Übermaß der Huldigungen und des Genießens nur kräftiger, einfacher und, wir möchten sagen, gereinigter hervor. Die tausendfachen Auszeichnungen berückten ihn nicht, seine Kunstideale erblaßten nicht unter ihnen und seine Liebe zur Kunst blieb trotz ihrer eine hehre Flamme. Und so widersprechend dieser Ausspruch angesichts häufiger Anschuldigung der Eitelkeit sein mag, so bleibt es doch eine Wahrheit: sein Ich spielte bei ihnen keine große Rolle. Nicht, daß er gleichgültig gegen sie gewesen wäre; er würde im Gegentheil eine Gleichgültigkeit als eine Beleidigung empfunden haben. Das: »Auch ich bin ein König« – ist jedem Genie eingeboren. Dieses Selbstbewußtsein[293] hat nichts mit der kleinlichen Eitelkeit der Geister geringer Ordnung zu thun. Voll freudiger Anerkennung, oft auch voll Überschätzung der Leistungen anderer, stets geneigt sie zu vertreten ohne Berücksichtigung seiner eigenen Leistungen, zeigte er sich frei von der Schwäche kleiner Naturen, die sich verkriecht oder verdrängen läßt. Selbstlos behauptete er seine Eigenart. Die Auszeichnungen echauffirten ihn nicht. Das Außergewöhnliche war Liszt's Natur. Außergewöhnliche Äußerungen der Stimmung konnten ihn darum nur als natürlich berühren. Erfüllt von dem Glauben an die höhere Mission der Kunst und des Künstlers, fühlte er in der Begeisterung der Menge nur die Flammen, die er selbst in sich trug. Er bewahrte, umrauscht von ihr, die größte Ungezwungenheit, auch bei keineswegs angenehmen Situationen, in welche der zuweilen phantastische und ausschweifende Kultus mit seiner Person ihn versetzte. Seine liebenswürdige Bescheidenheit und Einfachheit kontrastirten oft schroff genug mit den Übertreibungen selbst. Sie vermehrten den Zauber, den er übte, um kein geringes.

So rechtfertigte und adelte sein Wesen den Kultus trotz der ihm anhängenden Übertreibung, auch trotz der ihn verfolgenden Lästerer, die fast ein halbes Jahrhundert hindurch nicht müde wurden ihn herunter zu setzen. Welche Bedeutung aber konnten schließlich solche Nebendinge gewinnen neben der ächten Begeisterung, die der große Künstler und große Mensch hervorgerufen hat? Das Überströmende gehört zur Natur der Begeisterung. Ein unmittelbarer Ausdruck innerer Entzündung für das Edle und Große, kennt sie kein kleines Maß. Mit souveränem Bestimmungsrecht setzt sie ihr eigenes. Und sicher ist: es bleibt zu allen Zeiten etwas Großes und Hinreißendes um eine Begeisterung, welche die Masse ergreift, mag sie einen edlen Wahn, eine liebenswürdige Thorheit, eine Persönlichkeit oder auch eine Sache von weittragender Bedeutung krönen. In ihrem Kern und in letzter Instanz gilt sie doch immer der Sache; denn die Persönlichkeit ist ihr Träger. Der Werth der Sache bestimmt den Werth der Begeisterung. Er weist ihr ihren Platz an, sei es im öffentlichen oder im Privatleben, sei es in der Zeit-, Kultur-, National- oder in der Weltgeschichte überhaupt.

Die Begeisterung für Liszt den Menschen war der freudige Widerhall, welchen Idealität und geistige Schönheit, so lange diese selbst nicht erstorben sind, immer in der Menschenbrust erwecken[294] werden, die für den Künstler die europäische Anerkennung seines musikalischen Genies, der glanzvolle Akt der Einsetzung des musikalischen Ideals modernen Geistes im Gegensatz zu den künstlerischen Typen der Überlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts.

Das Wanderbild des Virtuosen erweitert sich hiermit zu einem Kulturbild, welches eine Phase der geistigen Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht hat.

Fußnoten

1 I. Bd., XXVI. Kapitel.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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