V.

Das Ende.

Abnahme des Augenlichts des Meisters. Reiseprojekte. Reisen nach Paris und London. Erkältung. Noch einmal Weimar (Sondershausen). Reise nach Colpach, Bayreuth – seine letzte Station.


Der Gesundheitszustand des Meisters war, getragen von außerordentlicher Elasticität, zu allen Zeiten ein guter. Jetzt während der letzten Jahre stellten sich körperliche Leiden ein. Seine Füße schwollen hin und wieder, und er ahnte nicht, daß die Wassersucht ihr Zerstörungswerk begonnen hatte. Bei manchen anderen Beschwerden traf ihn das schwächer werdende Augenlicht am bittersten. Es erschwerte ihm Noten zu schreiben – und trotzdem schrieb er solche nach wie vor in den Vormittagsstunden, besorgte Korrekturen und »kritzelte« seine Briefe.

So kam das verhängnisvolle Jahr 1886 heran – sein 75stes Geburtsjahr, das sein Leben beschließen sollte.

Schon im Vorjahre waren Einladungen aus Paris, London, St. Petersburg, Warschau und anderen Städten, wo Liszt-Koncerte großen Styls in Vorbereitung standen, an ihn ergangen, desgleichen zur Tonkünstler-Versammlung zu Sondershausen. In London sollte das »Elisabeth«-Oratorium den Schwerpunkt bilden, in Paris die Graner Messe. Im Hinweis auf das Jahr 1866 jedoch schlug der Meister die Pariser Einladung ab und erst nach der Versicherung Saint-Saëns, daß man inzwischen gelernt habe »besser zu hören«, entschloß er sich zu ihrer Annahme. Die Londoner Einladung dagegen, die vornehmlich sein ehemaliger Jünger Walter Bache in Anregung gebracht hatte, kam seinen eigenen Wünschen halb und halb entgegen, um ihm, dem vieljährigen opfermuthigen[483] Vertreter seiner Werke1, die ihm gebührende Anerkennung zu zollen und hiermit, wie er sagte, seine »letzten« Dankesschulden zu tilgen. Jedes Ansinnen, sich thätig an den Koncerten zu betheiligen, wies er mit den Worten an W. Bache zurück: »daß Liszt nur als dankender Besucher, nicht als Fingerbetheiliger weder in London noch irgendwo erscheinen darf.« Die Reise sollte im März, April stattfinden. Petersburg wurde für später in Aussicht gestellt, auch ein Besuch der Festspiele zu Bayreuth auf nächstes Jahr verlegt.

Der greise Meister sah diesen Reisen nicht leichten Muthes entgegen. Schon seit geraumer Zeit breiteten sich mehr und mehr die rührenden Schatten der Melancholie über sein sonst heiteres Wesen; trübe Ahnungen kamen, gingen und kamen wieder – er seufzte und weinte oft. Schweren Herzens verließ er im Januar Rom ... die Fürstin sah er nicht wieder; schweren Herzens, ja feierlich und mit Thränen schied er im März von Budapest ... auch hierher kehrte er nicht zurück. –

Die Aufführung der Graner Messe mit solennem Hochamt in der Kirche zu St. Eustache am 25. März 1886, unter der Leitung von Ed. Colonne zählte zu den pomphaftesten, welche sie erlebt hat und – läßt man den Satz gelten, daß mehr als Worte Zahlen sprechen – zu den außerordentlichen, die sich schwerlich jemals wiederholen. Zum Besten der christlichen Schulen des 2ten Arrondissements führte sie (nebst einer zweiten Aufführung der Messe, welcher der Meister ebenfalls beiwohnte) denselben einen Reinertrag von über 40,000 Francs zu. Die Aufnahme in Paris, die dem Meister alle Ehren, wie sie von der Republik nur Fürstlichkeiten gezollt werden, erwies, wurde in London noch überholt. Jede persönliche Sorgfalt, gesundheitliche Schonung, zarteste Aufmerksamkeit, die ausgesuchteste Ehrerbietung, begleitete jeden seiner Schritte. Und wie der Engländer dashome-life wie keine andere Nation zu entwickeln verstanden hat, begrenzte man hier aus demselben Gefühl heraus jede Festlichkeit gleichsam nach den menschlichen Kräften des Greisenalters. Man vermied die Übermüdung.[484] Selbst die Aufmerksamkeiten des königl. Hauses, an seiner Spitze die Königin Victoria, schienen nach dieser Skala bemessen zu sein. Fühlte sich der Meister in Paris, dem Schauplatz seiner Jugend, wo die mannigfachsten künstlerischen und menschlichen Erfahrungen auf ihn eingestürmt, in erregter und gehobener Stimmung, wozu die Genugthuung, die jetzt seiner Fest-Messe ward, nicht zum geringsten beitrug, so befand er sich hier in einer geistigen und körperlichen Harmonie, die auf sein Wohlbefinden günstig zurückwirkte. Die Aufnahme seiner »Elisabeth« in St. James Hall am 5. April unter Mackenzie, und am 7. April unter H. Wylde, desgleichen unter Manns im Crystal-Palace, erfreute ihn ersichtlich, die denkwürdige Reception W. Bache's aber – in Grosvenor-Gallery am 8. April – ergriff ihn. Man sah und fühlte ihm ab, daß er schon in anderen Welten weilte – und doch hielt er den Anforderungen, welche Verehrung und Konvenienz ihm schufen, in ungeschwächter Güte, Stand.

Sein Besuch Londons wurde thatsächlich zu einem Ereignis, dem alle Schichten der Gesellschaft sich zuwandten, die untersten nicht ausgeschlossen. Einen Mann zu sehen, der Millionen über Millionen hätte häufen können und für sich zu Gunsten der Bedürftigen das Gold verschmähte, war für sie das Wunder, das in diesem Moment selbst über die glänzenden Reden Gladstone's im Parlament den Sieg davon trug. Und einem Ereignis gleich gestaltete sich der Enthusiasmus, gestalteten sich die Ovationen,2 die in- und außerhalb des Koncertsaals ihn umdrängten.

Wohl und heiter verließ er am 20. April England, um nochmals einer Einladung nach Paris, wo M. Vianesi am 8. Mai die »Elisabeth« im Trocadero aufführte, zu folgen. Die dazwischen liegenden Ostertage verbrachte er mit der ihm befreundeten, hoch angesehenen Familie Lynen in Antwerpen, deren Gastfreundschaft er schon mehrmals angenommen hatte. In London auf das vornehmste bewirthet, war er der Gast Henry Littleton's, Chef[485] der Verlagsfirma Novello, Ewer & Co. und jetzt, wo er abermals Paris besuchte, wohnte er bei seinem gefeierten Kompatrioten Munkacsy.3 Hier aber zog er sich eine Erkältung zu; dazu beging er einen Fehler gegen die diätetischen Verordnungen seines deutschen Arztes. Er war mehrere Tage an Zimmer und Bett gefesselt. Am 17. Mai kam er in Weimar an und konnte nur, gestützt auf seinen Diener und mit Hülfe einiger seiner Schüler den für ihn bereit stehenden Wagen besteigen, so angeschwollen waren seine Füße.

Unterm 18. Mai schrieb er über die pariser Störung an eine Schülerin, Lina Schmalhausen, die in Rom und Pest zeitweise seine Vorleserin und von ihm bevorzugt war:


»Ein dummes Vergessen meines Paletots hat mir eine so starke Verkältung zugezogen, daß ich die 4 letzten Tage meines pariser Aufenthaltes im Bette zubrachte. Gestern Abend hier angekommen, werde ich noch ein paar Tage das Bett hüten müssen.

»Ich kann nur mühsam einige Worte schreiben.«


Der Meister hatte sich noch nicht erholt, als ihn der Besuch seiner Tochter, Frau Wagner, überraschte, die in ihn drang, der Vermählung ihrer ältesten Tochter am 3. Juli beizuwohnen, desgleichen bei den Bayreuther Festspielen vom 20. Juli bis 23. August zu präsidiren. Letzteres hatte er, wie schon gesagt, nicht in Absicht. Seiner Tochter konnte er den Wunsch nicht versagen und – so gewährte er.

Sein Befinden aber war nicht gut, das Augenlicht nahm ab, und mit kaum leserlicher Schrift schrieb er unterm 29. Mai an Mme. Tardieu in Brüssel:


»Ma vue se perd, chère amie, et je n'écris plus qu' avec peine.«


und einige Tage vordem an die oben genannte Schülerin:


»Meine Augenschwäche verschlimmert sich: ich kann jetzt nicht mehr lesen, und schreibe nur mit Anstrengung selbst meine überflüssigen Noten, wovon ich doch eine ziemliche Anzahl von Seiten vor meinem Ab leben fertig bringen möchte ...«


Noch vor der Tonkünstler-Versammlung (3.–5. Juni in Sondershausen) reiste er zu einer ärztlichen Konsultation nach Halle. Professor Volkmann fand es an der Zeit, ihn über seinen Zustand aufzuklären. Vor Wassersucht empfand er stets ein Grauen –[486] die jetzige Nachricht erschütterte ihn. Prof. Volkmann verlangte eine andere Lebensweise, mehr Ruhe, keine Reisen, eine Kur in Kissingen, danach eine Augenoperation.

Von den bereits projektirten Reisen, zu denen eine noch nicht erwähnte nach Colpach in Luxemburg zu Munkacsy zählte, ließ er sich nicht abbringen. »Daran läßt sich nichts ändern – ich habe es versprochen«, erklärte er fest und bestimmt. So ward Kissingen bis Ende August hinausgeschoben.

Nun wohnte er der Sondershäuser Versammlung bei, reiste zur Vermählungsfeier seiner Enkelin nach Bayreuth, dann nach Schloß Colpach und dann zu den Festspielen.

Seine geistige Regsamkeit blieb in all der Zeit ungeschwächt. Noten konnte er nicht mehr schreiben, – in Paris, im Mai, hatte er noch einige rhythmische Veränderungen seines »Stanislaus« notiren können: das ging nun nicht mehr. Seine Korrespondenz dagegen wurde in ihrem ganzen Umfange bis zum letzten Moment erledigt. Bezüglich ihrer bemerkte der Meister von Bayreuth aus am 3. Juli gegen Sophie Menter:


»Zwei gefällige Sekretaire helfen mir durch Vorlesen und Briefschreiben unter meinem Diktat.«


Diese beiden waren seine Schüler B. Stavenhagen und August Göllerich. Der erstere hatte die Ehre ihn nach Paris, London, auch nach Colpach zu begleiten, der letztere war ihm 1885/86 als Schüler nach Rom, Budapest, Weimar, Bayreuth gefolgt und hatte dabei des sich allmählich von selbst ergebenden Ehrenamtes mit unermüdlicher Hingabe gewartet. Schwärmerisch hing er an seinem Meister und achtete keiner Zeit, selbst nicht des Schlafes, ihm zu dienen. – –

Der Meister aber hatte sich und seinen Kräften zu viel zugemuthet. Einige Zeilen an obige Schülerin, datirt 23. Juli, – wohl die letzten, die er eigenhändig geschrieben – lauten:


»Meine elenden Augen versagen mir ihre Dienste, und ein elender gewaltiger Husten leistet mir seit mehr als 8 Tagen seine widerwärtige Gesellschaft.« –


In diesem Zustand war er am 21. Juli in Bayreuth eingetroffen. Hier bezog er wieder das Parterrelokal bei der Oberförsterin Frau Fröhlig – neben »Wahnfried« – wo er noch zu R. Wagner's Zeiten, so oft er bei den Festspielen anwesend war,[487] domicilirt hatte. Anderntags wohnte er der Eröffnungsvorstellung der Festspiele mit »Parsifal« bis zum Schlusse bei. Desgleichen der ersten Aufführung des »Tristan« am 25. Juli. Er war hierbei, treu seiner Lebensgewohnheit, die unter allen Umständen die Pflicht für die Kunst in erste Linie gestellt, nicht der Warnung des Arztes gefolgt, der ihm eine Lungenentzündung vorausgesagt hatte. Wohl nahm er einen Platz in der hinteren Reihe der Loge, wo er unbemerkt ruhen konnte, auch zeigte er sich nicht in den Zwischenpausen, wie sonst.

Das aber konnte die Katastrophe nicht abhalten, die nach wenigen Tagen eintrat. Zimmer und Bett konnte er nicht mehr verlassen – die Kräfte versiegten zusehends; an Stelle des Bewußtseins trat Delirium.

Gegen die Mitternachtsstunde vom 31. Juli auf 1. August schied sein großer Geist, dessen kühner Flug der Tonkunst unseres Jahrhunderts neue Wege gezeigt, und der Idealität neue Stationen errichtet hat – schied der große Mensch, der Glanz bestrahlt ein Martyrium barg, ohne mit seinen Wunden sich zu schmücken, und ohne von dem Ziele abzuweichen, dessen Motto er dem Hauptwerk seines Lebens vorangestellt:


»Wahrheit in Liebe wirkend, lasset uns in allem wachsen an dem, der das Haupt ist, Christus.«


Nur eine kurze Spanne Zeit ... und auch die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein war nicht mehr. Sie siechte ihm nach und folgte ihm am 9. März 1887 ins Jenseits. Der Gedenkstein ihres Grabes auf dem kleinen deutschen Friedhof des Vatikans trägt die Inschrift:


»Jenseits ist meine Hoffnung«.


Franz Liszt's sterbliche Hülle liegt auf dem allgemeinen Friedhof zu Bayreuth, dem Städtchen, wo er verstarb. Ein bescheidenes Mausoleum bezeichnet den Ort seiner letzten Ruhe.

Fußnoten

1 Die musik. Liszt-Feste zu London 1886 bilden musik-historisch den Kulminationspunkt der Liszt-Bestrebungen seitens Walter Bache's, der seinen Meister nur kurz überdauerte. Er starb am 26. März 1888. Neben ihm ist C. Ainslie Barry zu nennen, dessen vorzügliche Programm-Analysen zwischen jenen Bestrebungen und dem Publikum vermittelten.


2 Unter diesen sei nur seines Empfangs in der Royal Academy of Music gedacht, die den Tag seines Besuches in ihren Annalen mit einem Liszt-Stipendium für junge Komponisten und Musikstudirende für immer einschrieb – ein Akt thatkräftiger Begeisterung, der als leuchtendes Beispiel gegenüber ziellosem Enthusiasmus insbesondere zu nennen ist. Bache und Barry waren auch hierbei die Thätigsten.


3 Vordem logirte er im Hôtel de Calais.


Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880 (Bd.1), 1887 (Bd. 2,1), 1894 (Bd. 2,2), S. 489.
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