Neuntes Kapitel.

Mendelssohn's kunst- und kulturgeschichtliche Bedeutung.

Es war in der ganzen Eigenart Mendelssohn's, wie in dem besonderen Gange ihrer frühesten Entfaltung begründet, dass er mit seiner gesamten Thätigkeit eine grössere Bedeutung für die allgemeine Entwickelung der Kultur, als für die besondere seiner eigenen Kunst errang. Für jene wird die Menge der vollendeten, allseitig mustergiltigen Kunstwerke fördernd, für diese dagegen weit mehr die Anregung, welche kommende Geschlechter aus der noch unfertigen, weniger vollendeten Kunstleistung schöpfen. Das monumentale Kunstwerk bezeichnet in der Regel den Abschluss einer bestimmten Epoche und verleitet meist nur zu unselbständigen Nachbildungen, während das unfertige, in welchem der schaffende Meister die leitenden Ideen nur anzudeuten, nicht auch vollständig zu gestalten verstand, zum Ausgang einer neuen Epoche wird, indem es den Genius der späteren Zeit anregt zu neuen Bestrebungen, den neuen Inhalt auch vollendet künstlerisch zu formen. Hierauf einzig und allein beruht die historische Entwickelung der Kunst. Dass die allgemeine Kultur dagegen nur durch das vollendete Kunstwerk gefördert wird, bedarf keines umständlichen Beweises. Nur dieses vermag das Denken, Dichten und Empfinden der Massen zu veredeln, während das unfertige, das seinen Inhalt nur andeutet oder doch nur bruchstückweise darlegt, die natürliche Geistesharmonie der Geniessenden leicht stört, wenn es nicht geradezu abstossend wirkt. Demgemäss wurde Mendelssohn's schöpferische Wirksamkeit für die gesamte Kulturentwickelung förderlich durch die Reihe von ewig giltigen Kunstwerken, welche er schuf; nicht in demselben Maasse auch für [333] die Weiterbildung der Kunst, da er nicht eigentlich einen neuen Ton anschlug, der zur Weiterverfolgung anregte. Die Unzahl seiner Nachahmer vermochte nur seinen Kunststil sich anzueignen, nicht auch denselben in bestimmter Richtung weiterzuführen.

Jene innere Harmonie, auf welcher das vollendete Kunstwerk beruht, zu erzeugen, das war das Hauptziel der Erziehung im elterlichen Hause Mendelssohn's. Der Grundsatz des Vaters: dass alles, was in der Welt etwas bedeuten wolle, auch etwas sein müsse, machte sich selbst in der Weise geltend, in welcher der Jünger der Kunst in die Musik eingeführt wurde. Diese erschien ihm früh nicht nur als ein Offenbarungsmittel des künstlerisch empfindenden Geistes, sondern zugleich als einer der bedeutendsten Factoren der Erziehung des Menschengeschlechts. Dem Vater war das Kunstwerk als specielle Kundgebung des Künstlers von untergeordneterer Bedeutung; nur in der Stellung, welche es innerhalb der Kulturentwickelung einnimmt, sah er den eigentlichen Werth desselben. Unbewusst unterwarf sich unser Meister früh der gleichen Anschauung und gewann damit einen, nicht nur von dem der verwandten Meister, Schubert und Schumann, sondern auch aller andern, wesentlich abweichenden Standpunkt. Sie erwählten die Kunst ausschliesslich nur um ihrer selbst willen; diese wurde ihnen nur deshalb Lebenselement, weil sie die entsprechenden Mittel gewährte, das was in der schöpferischen Phantasie entstand, äusserlich zu gestalten. Namentlich Schubert und Schumann lauschten nur auf das, was in ihrem Innern erklang, um es dann auszutönen, unbekümmert darum, ob es einen Wiederhall in der mannigfaltig und anders bewegten Welt finden würde. Für sie wurde die Musik ausschliesslich zur Sprache, in der sie die geheimsten und verborgensten Regungen ihres Innern uns zu enthüllen bemüht waren. Daher offenbarten sie auch eine Fülle von neuen Zügen des menschlichen Empfindens, die vorher noch verschleiert waren; aus dem überreichen Schachte des Herzens förderten sie Schätze zu Tage, die bisher kaum geahnt worden waren. Dabei musste manches mit zum Vorschein kommen, was als unächt erkannt wurde, und die strömende Fülle des so Dargebotenen beeinträchtigte nicht selten die künstlerische [334] Gestaltung. Mendelssohn's früheste Entwickelung nahm unter dem Einflüsse des Geistes, der das Vaterhaus durchdrang, schon eine andere Richtung, und die Unterweisung und das Beispiel seiner Lehrer halfen diese dann ganz fest bestimmen. Dem Vater war alle neuerungssüchtige Genialität zuwider, und dass ihr auch Zelter, der vornehmlich Mendelssohn's früheste Studien leitete, wenig günstig gestimmt war, wissen wir bereits. So wirkte alles gleichmässig darauf hin, der Entfaltung des genialen Knaben jene sichere Basis zu geben, die ihn vor allen Ausschreitungen bewahrte, durch welche aber auch eine mannigfaltigere Herausbildung seiner Innerlichkeit gehemmt wurde. Für ihn wurde die Formgestaltung das Hauptziel; nicht in demselben Maasse auch die Reichhaltigkeit des Inhalts. Wir erkannten in den ersten Werken die Freude am Formen und Bilden als einzigen Inhalt. Dadurch wurde seine Phantasie allerdings so geschult, dass sie nicht anders als formell gefügt zu schaffen vermochte, und damit gewann er zunächst jenen höheren Standpunkt in der Instrumentalmusik, der als ein Fortschritt über Schubert hinaus sich erweist. Diesem Meister fehlt in den Instrumentalwerken nicht selten das künstlerische Maass; seine Phantasie überwuchert dann die Grenzen der Form so, dass sie sich in ein end- und objectloses Schwelgen und Schwärmen verliert. Dass bei Mendelssohn ein ähnlicher Hang zu Ausschweifungen der Phantasie vorhanden war, ist unzweifelhaft, er ist nothwendig in der ganzen Richtung, der er folgte, begründet; allein Erziehung und Unterweisung beschränkten ihn früh und führten ihn zu jener maassvollen Begrenzung und künstlerischen Besonnenheit, mit der er die Bilder seiner Phantasie ausführte. Um dieser zugleich einen fassbaren Anhalt zu geben, lehnte er sich wieder an ganz bestimmte Vorgänge an. So schuf er jene Ouverturen, durch die er das duftige Märchen des britischen, wie jenes Gedicht des deutschen Dichters und einzelne Sagen musikalisch gestaltete: die Ouverturen zum »Sommernachtstraum«, zu »Meeresstille und glückliche Fahrt«, zur »schönen Melusine« und zur »Fingalshöhle«, die für alle Zeit Geltung und Bedeutung behaupten werden. Er hat damit einen bestimmten Zug der Entwickelung der modernen Musik, der bereits in [335] Schubert angeregt war, abgeschlossen. Bei diesem Meister ist die phantastische Traumwelt, aus welcher seine Instrumentalmusik hervorgeht, noch so von romantischem Duft erfüllt, dass die Formen und Gestalten derselben verschwinden; indem Mendelssohn diese Traumwelt erhellte und sie dadurch, dass er sie bevölkerte, in die höhere Erscheinungsform der wirklichen Welt setzte, machte er sie erst zum rechten Object für die künstlerische Darstellung. Durch die hohe Meisterschaft, mit welcher er diese Tonbilder ausführte, brachte er diesen besonderen Zug der Musikentwickelung unserer Zeit auch zum vollendeten Abschluss. Wir haben die hierauf bezüglichen Aeusserungen seines Vaters, wie seine eigenen, bereits angeführt. Er selbst fühlte sich durch den Einfluss, den er mit diesen Werken bei den jüngeren Künstlern gewann, fast geängstigt. Wie sehr er auch nach einem Opernstoff verlangt, so weist er doch beharrlich anfangs die der Märchen- und Zauberwelt angehörigen Stoffe zurück, und er entschliesst sich endlich zur Loreley widerwillig genug, weil er daran verzweifelt, einen andern ihm mehr zusagenden erwerben zu können. Mit jenen Instrumentalwerken hatte er eine der wunderbarsten Seiten der Phantasie des deutschen Volkes musikalisch geformt, und damit diesem, wie den verwandten Nationen, eine Reihe von Kunstwerken geschaffen, die nach Jahrhunderten noch zeugen werden von der Fülle und dem Reichthum der Phantasie der deutschen Nation, und die auf die kommenden Geschlechter veredelnd wirken werden, so lange diese überhaupt noch künstlerische Erhebung fordern. Ganz dasselbe gilt von Mendelssohn's »Liedern ohne Worte«. Wir versuchten bereits nachzuweisen, wie sie ganz direct aus der Richtung erwuchsen, welche unser Meister früh verfolgte, und dass dieser damit auch nichts positiv Neues schuf, sondern wiederum nur einen eigenthümlichen Zug der ganzen Entwickelung zum Abschluss brachte. Selbst jene »Lieder ohne Worte« der Schwester Fanny, die den seinigen noch am meisten verwandt sind, erscheinen den Originalen gegenüber unbedeutend. Er nur verstand es, die ganze Stufenleiter des menschlichen Empfindens in den knappsten Formen auszutönen, und er schuf damit nicht nachahmungsbedürftige [336] Muster, sondern er bereicherte damit wiederum den Kunstschatz der Nation durch kostbare Beiträge. Unter ganz gleichen Gesichtspunkten erschienen uns weiterhin auch seine Vokallieder hoch bedeutsam. Wir mussten dabei zugeben, dass ihr rein künstlerischer Werth nicht den der Lieder Schubert's, selbst nicht einzelner Lieder Schumann's erreicht. Indem er hier mehr die volksthümlichen, weniger die künstlerischen Formen pflegte, gewann er nur die tiefgreifendste Bedeutung für die Verbreitung, nicht auch eine gleiche für die Fortentwickelung des deutschen Liedes. Er hat mit keinem seiner Lieder einen neuen Zug des menschlichen Empfindens offenbart, wie das Schubert und Schumann gethan haben; aber er fand für das, was seine Zeit bewegte, was im Volke lebte, den rechten künstlerischen Ausdruck. Darum breiteten sich jene beiden Lieder: »Wer hat dich du schöner Wald« und »Es ist bestimmt in Gottes Rath«, nebst manchen seiner Lieder für gemischten Chor so blitzschnell aus, und setzten sich fest zum ewigen Besitz für seine Nation.

Aber auch seine höheren, seine ausschliesslich künstlerischen Bestrebungen wurden von dem gleichen Zuge beherrscht. Wir fanden ihn unablässig bemüht, mit dem neuen Geiste die älteren Formen zu erfüllen und zu erneuern, aber mit fast durchgehends geringerem Erfolge, als jener mitlebende und mitstrebende Meister, als Robert Schumann, weil ihm unter den Einflüssen der Schule und Erziehung die Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit und die Gewalt der Empfindung verloren gegangen waren. In seinen Sonatensätzen überwiegt entweder die überkommene Form, in fast schablonenhafter Ausführung, oder der Inhalt, der dann die Form aufgiebt; eine wirkliche Durchdringung beider gelang Mendelssohn vollkommen eigentlich nur im D-moll-Trio, in dem Concert für die Violine und in den beiden Klavier-Concerten. In den übrigen Werken dieser Gattung erreichte er nicht einmal immer jene Erneuerung der Form im Sinne des speciellen Bedürfnisses unserer Zeit, die er erfolgreich auf dem Gebiete der Kirchenmusik und des Oratoriums anstrebte. Auch die tiefe Religiosität, die einen Grundzug seines Charakters bildete, war ein Erbtheil vom elterlichen Hause. Aber wie diese keine Spur [337] von kirchlicher Färbung zeigte, so unterscheidet sich auch seine Kirchenmusik wenig von seiner weltlichen. Diese stand ihm an sich so hoch wie jene; er war nur darauf bedacht, beide künstlerisch zu gestalten und so, dass sie den beabsichtigten Eindruck hinterliessen. Wir haben ausführlich nachzuweisen versucht, wie Mendelssohn von seinen religiösen Stoffen sich meist ganz so anregen liess, wie von seinen weltlichen, und dass die Behandlungsweise beider oft äusserst wenig geschieden ist. Damit kam er den Bedürfnissen unserer Zeit in der edelsten Weise entgegen; allein eine weitergehende Bedeutung konnte er damit kaum erreichen. Indem er die Bach'sche Innigkeit der Empfindung mit dem Haendel'schen Glanz der Darstellung verband, wirkte er durchgreifend auf die Gemüther unserer Zeit, aber eigentlich ohne höheren Gewinn für die Entwickelung der Kunst. Die Verbindung beider Anschauungen führte ihn auch zu jener Erneuerung des Oratoriums, die gleichfalls von höherem kultur- als kunstgeschichtlichen Werth ist. Indem er seine Stoffe in den engen Rahmen seiner eigenen Individualität hineinzog, um sie dieser anzupassen, fand er den rechten Ton, sie der Anschauung seiner Zeit näher zu legen; denn diese hatte eigentlich für die Grossartigkeit der Anschauung eines Bach, Haendel oder Gluck nur noch stumme Bewunderung, – mitfühlen und durchleben, das vermochte sie weit besser bei der Darstellung Mendelssohn's. Wir können daher die Oratorien »Elias« und »Paulus« und die verwandten Tonstücke als Kunstwerke von monumentaler Bedeutung nur in sofern bezeichnen, als sie späteren Geschlechtern und Zeiten Kunde geben werden von der Art, wie unsere Zeit derartige Stoffe anschaute, wie von unserem religiösen Empfinden.

Die Musik zum »Sommernachtstraum« hingegen, wie die zur antiken Tragödie, zur »Antigone« und zum »Oedipus in Kolonos« hat auch an sich höhere Bedeutung, obwohl sie aus derselben Anschauung heraustreibt; denn diese ist für die Behandlung derartiger Stoffe die einzig berechtigte. Aus gleichem Grunde wird auch des Meisters »Walpurgisnacht« mit jenem Werke der frühesten Jugend, dem »Octett«, den charakteristischen Ouverturen und [338] der »Sommernachtstraum-Musik« alle anderen überdauern, weil bei ihr die besonderen Anforderungen, welche das Gedicht stellte, mit der Eigenart Mendelssohn's vollständig zusammentrafen.

Es dürfte ausser Mendelssohn wol kaum ein Meister zu nennen sein, dessen Individualität so treu und ohne Rest in seinen Werken zur Erscheinung käme. Alles, was ihn anregt zum Bilden und Schaffen, zieht er in sich hinein, um es dort vollständig seinem Innern anzupassen; er scheidet aus, was diesem nicht zusagt, und ersetzt, was jenem mangelt, und so musste jede seiner Schöpfungen der ganze, treue Abdruck seiner Innerlichkeit werden. Hierauf beruht denn auch jene grosse Familienähnlichkeit, die sich jedem einzelnen dieser Werke aufprägt, und die grösser ist, als bei allen andern Meistern, ja selbst wie wir sahen, bis zu gewissen feststehenden Formeln sich verengt. Mendelssohn's Innerlichkeit war nicht aussergewöhnlich reich und tief angelegt, aber ganz ungewöhnlich durchbildet, harmonisch abgerundet und geklärt. Wir haben der ernsten wissenschaftlichen Studien, die er im elterlichen Hause mit den übrigen Geschwistern betrieb, schon Erwähnung gethan; auch während der Jahre seiner angestrengtesten Thätigkeit innerhalb seines eigentlichen Berufes vernachlässigte er sie durchaus nicht. Wir wissen, dass er noch fleissig griechische Klassiker las, namentlich aber die modernen Sprachen trieb. Er übersetzte Byron's Gedichte und verbesserte die Uebersetzung der Haendel'schen Oratorien; auch von Uebersetzungen der Sonette des Boccaccio, welcher dieser an den Geist Dante's richtet, haben wir Kunde erhalten1. Mendelssohn war dazu durch seinen Oheim Joseph, der sich noch in seinen letzten Lebensjahren mit dem Studium der alten italienischen Literatur beschäftigte, veranlagst worden. »Ich hatte früher« schreibt er an diesen, »einen Versuch gemacht, die bewussten Sonette zu übersetzen, aber eine solche Menge Haare darin gefunden, dass ich mit dem ersten nicht einmal zu Stande kam und von einer Uebersetzung in Prosa konnte natürlich nicht [339] die Rede sein, da Du sie in einer halben Stunde hättest machen, und zehnmal besser machen können, als ich. So hatte ich eine ordentliche Scheu, die Papiere wieder vorzunehmen, bis ich in den vorigen Wochen, wo ich so entsetzlich viel öffentlich zu spielen, zu dirigieren und zu probieren hatte, dass ich zu Hause keine Musik machen konnte und mochte, mich wieder daran begab, und mir vornahm, ich wollte ein Sonett machen lernen, und wär's auch noch so schwer. So habe ich denn wirklich am Ende gesehen, dass es keine Hexerei ist, und dass auch darin, wie in den anderen Dingen, die eigentliche Schwierigkeit nicht in dem Machen, was man mit der Zeit lernen könnte, sondern im Gutmachen liegt, das eben nicht zu üben und nicht zu lernen ist.« Wir theilen drei noch am meisten ohne Commentar verständliche Sonette am Schlusse mit.

Dass weiterhin für Mendelssohn's künstlerische Richtung auch seine eifrige Beschäftigung mit Zeichnen und Malen hochbedeutsam wurde, bedarf kaum eines weitern Hinweises. Sie schärfte immer mehr seinen Formensinn, da jede Ausschreitung in den bildenden Künsten sofort fühlbar wird, indem sie das ursprüngliche Bild trübt und karrikiert. Weil er ferner sich fortwährend auch im Zusammenhange mit der Welt der Wirklichkeit, mit dem Leben erhielt, vermochte er diesem auch sein Kunstwerk, obwohl es zumeist aus andern Regionen stammt, zu nähern. Wir wissen, dass er die Künste des Leibes: Schwimmen und Reiten fleissig übte, und dass er mehrere Jahre hindurch leidenschaftlich tanzte. Namentlich am Rheine betheiligte er sich gern an öffentlichen Vergnügungen, selbst wenn dieselben, wie die »Kirmess«, nicht in den engsten Grenzen formeller Wolanständigkeit verliefen. Auch in fröhlicher Gesellschaft bewegte sich Mendelssohn gern. Die heitere Seite des Lebens war ihm ja viel früher bekannt geworden, als die trübe, und sie blieb immer die Grundstimmung seines Charakters, wenn auch später manches sich ereignete, was sie trübte. Manche seiner künstlerischen Kundgebungen sind ganz direct durch diesen Verkehr erzeugt. Auch von dieser Einwirkung führen die ersten Spuren in's Vaterhaus. Neben dem heiligen Ernst, von welchem dieses beseelt wurde, war der harmlose [340] Scherz auch in ihm nicht verbannt, sondern gern gesehen und gepflegt.

Der Prediger J. Schubring in Dessau, der langjährige Freund Mendelssohn's, der ihm auch bei der Zusammenstellung seiner Oratorientexte mit Rath und That zur Hand ging, giebt in seinen »Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy«2 eine interessante Schilderung von dem Leben im Vaterhause Mendelssohn's aus den Jahren 1825–1830, während deren er dort verkehrte. »Gern nahm der Vater«, heisst es darin, »auch an den Scherzen der Jugend Theil und hatte sein Wohlgefallen daran. Ich sehe noch, seinen verwunderten Aufblick, als einmal nach vollendetem Mittagsbrot der jüngste Sohn den, von Bruder Felix an diesem Morgen aufgeschriebenen und dann heimlich eingehändigten vierstimmigen Kanon anstimmte: ›Gesegnete Mahlzeit, prost Mahlzeit, wohl bekomm's!‹ Die kindliche Lust, den Vater zu überraschen, trat mit Singetönen so plötzlich in das voraufgehende Gespräch hinein, und der Vater blickte den kleinen Wagehals so seltsam an, dass ein allgemeines Gelächter den ersten Versuch unterbrach. Erst bei der Wiederholung konnte der Satz glücklich durchgeführt werden.« Auch in den spätem Jahren seines Lebens führte Mendelssohn gern ähnliche Scherze aus: so setzte er seine eigene Verlobungsgeschichte während einer fröhlichen Gesellschaft höchst ergötzlich in Musik. Einzelne seiner Lieder, namentlich die für gemischten Chor, sind ganz, unmittelbar durch das Bedürfniss gewisser gesellschaftlicher Kreise entstanden. Aber auch an den grossen, weltgeschichtlichen Ereignissen nahm er regen Antheil. Weder die Juli-Revolution, noch die Kämpfe und die politischen Ereignisse im eignen Vaterlande gingen spurlos an ihm vorüber. Wie richtig er auch diese Verhältnisse auffasste, beweist er unter an denn durch sein Interesse für die »Vier Fragen« von Jakoby oder durch seinen Widerwillen gegen das »Rheinlied« von Becker, das seit 1840 mehrere Jahre so grosses Aufsehen erregte, und das zu componieren auch Mendelssohn aufgefordert wurde. Für die eigenthümliche Stellung, welche Mendelssohn zur Kunst gewann, waren diese engen Beziehungen [341] zum Leben von folgenreicher Bedeutung. Sie nur vermochten ihm die Erkenntniss dessen zu vermitteln, was das Kunstwerk haben muss, wenn es einen bestimmten Platz im Leben der Nation gewinnen soll. Durch sie erkannte er die künstlerischen Bedürfnisse der Gegenwart, denen er dann in edelster Weise entgegenzukommen bemüht war. – Erziehung und Unterweisung bildeten ihn zu einem vortrefflichen Künstler, das Leben erst gab ihm die Bedingungen zur edelsten Volksthümlichkeit.

Dazu wirkte natürlich auch seine praktische Thätigkeit als Virtuose, Dirigent und Lehrer ausserordentlich fördernd mit.

Selbst als Virtuose nahm Mendelssohn eine der hervorragendsten Stellungen ein, obgleich er nie als solcher zu gelten bestrebt war. Mit einer ausserordentlichen Fertigkeit verband er jene grosse Mannigfaltigkeit des Anschlages, die ihn namentlich befähigte, die einzelnen Tonstücke der verschiedensten Zeiten und Schulen treu ihrem eigenthümlichen Charakter gemäss auszuführen. Diese seltene Kunst hatte er sich bereits als Jüngling angeeignet; mit ihr führte er Goethe durch die verschiedenen Epochen der Kunstentwickelung. Alle, die ihn zu hören das Glück hatten, wissen die Feinheit, mit welcher er im Vortrage die verschiedenen Meister charakterisierte, nicht genug zu rühmen. Wenn er Bach spielte, erschien er als ein anderer, als wenn er Beethoven oder Eigenes spielte. Sonaten von Bach, oder Beethoven's Kreutzer-Sonate von ihm zu hören, waren Kunstgenüsse, die nicht leicht überboten werden dürften. Selbst in jener Zeit noch, als bereits die ungeheuerlichste Technik und die riesigsten Kraftproben die Welt in Erstaunen setzten, errang er mit dem Vortrage der Concerte von Beethoven, des in G-dur, das er selbst sein »cheval de bataille« nennt, wie des in Es-dur stürmischen Beifall. Auch diese Fähigkeit verwandte Mendelssohn nur zur Erreichung jenes Zieles, das er sich überhaupt gesetzt: der Veredelung des Menschengeschlechts durch Verbreitung der besten Meisterwerke der verschiedenen Jahrhunderte. In öffentlichen und Privat-Aufführungen verband er sich mit den besten Künstlern zu musterhaften Aufführungen von Kammermusik aller Art.

[342] Unübertroffen aber ist er unstreitig als Dirigent geblieben. Schon bei den Aufführungen im Elternhause führte er in den spätem Jahren den Taktstock, nach dem er vorher seinen Platz am Flügel oder bei der Bratsche gehabt hatte. Nicht ohne Einfluss scheint auch die Anwesenheit C.M. von Weber's in Berlin gewesen zu sein. Als dieser im December 1825 hier seine »Euryanthe« einstudierte, wohnte Mendelssohn häufig den Proben bei und erzählte, nach Schubring's Bericht, »mit Staunen, was der Mann aus diesem fremden Orchester zu machen verstehe«. Wir charakterisierten die Weise seiner Direction und die ungeheuren Erfolge, welche er damit erreichte, schon hinlänglich, und haben nichts weiter hinzuzusetzen.

Auch darauf, welch' durchgreifenden Einfluss Mendelssohn als Lehrer gewann, konnten wir bereits hinweisen. Einen systematisch fortschreitenden Unterricht zu ertheilen, entsprach weder seinen Anlagen, noch seinen Neigungen, und so hatte er sich einige der vorgeschritteneren Schüler des Conservatoriums ausgewählt, die er zweimal wöchentlich um sich versammelte, um mit ihnen ihre Arbeiten zu besprechen. Emil Naumann3, der gleich im ersten Jahre dieser Thätigkeit Mendelssohn's zu diesen Schülern gehörte, giebt in wenigen Worten ein anziehendes Bild hiervon, das wir hier folgen lassen4: »Er sass in unserer Mitte an einem einfachen Tische, und ging die Compositionen, die wir von einer Lection zur anderen lieferten, gewissermassen publice mit uns durch, indem Lob oder Tadel, Fehler oder Vorzüge nicht mit dem Einzelnen, sondern unter Theilnahme der Schüler verhandelt und discutirt wurden. Hatte einer von uns eine Passage für ein Instrument geschrieben, die dem Charakter und der Spielweise desselben nicht entsprach, so fragte er z.B. den Bratschisten unter uns, ob er die betreffende Stelle gern ausführen würde, und wenn dieser [343] es verneinte, so hatte er die Gründe hierfür auseinander zu setzen. Auf diese Weise lernte Einer vom Anderen.

Obwohl im Ganzen Ernst und künstlerische Strenge in diesen Stunden vorwalteten, so konnte der liebenswürdige Meister mitunter doch auch höchst launig und heiter werden. So brachte ich ihm einmal ein Adagio eines Streichquartettes, über das er anfänglich unverholen sein Gefallen aussprach. Plötzlich jedoch hält er im Lesen inne, und ruft mir zu: ›Aber was haben Sie denn da gemacht, das kann ich ja bei Herrn Wittmann (so hiess einer der trefflichsten Leipziger Cellisten) gar nicht verantworten. Der legt beim Beginn Ihrer dreissig Takte Pause sein Cello ganz ruhig nieder, geht in Auerbachs Keller, speist Austern, und wenn er wiederkommt, sind die dreissig Takte noch lange nicht zu Ende.‹ – So kleidete er seinen Tadel, dass mir in einem Quartettsatz die Vierstimmigkeit abhanden gekommen und sich in ein Terzett aufgelöst hatte, in einen Scherz, der uns alle lachen machte und mir doch für immer ein entschiedener Wink blieb.« – Ueberhaupt wirkte Mendelssohn auch hier mehr durch Anregung, als durch directe Unterweisung, und dabei beschränkte er sich durchaus nicht auf die eigentlichen Unterrichtsstunden; er hatte es gern, wenn seine Schüler zu ihm kamen; wenn er dann Zeit hatte und, was meist der Fall, gut aufgelegt war, so liess er sich von ihnen vormusicieren, und spielte ihnen oft stundenlang selbst vor, und namentlich hierdurch wirkte er so nachhaltig auf sie ein.

Dabei war er Allen ein liebreicher Freund, der ihnen mit Rath und That beistand, wo er nur konnte. Vielleicht gerade in der unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit seines Wesens, mit welcher er sie gefangen nahm, liegt der Hauptgrund dafür, dass sie meist sklavisch an ihm festhielten, ihn höchstens zu copieren versuchten. Der helle Glanz seiner Erscheinung mit den grossen Erfolgen war allerdings auch zu verlockend; so bildete sich jene Schule, die in seinem Geiste zu schaffen meinte, indem sie nur seine Manier, höchstens das, was besonders glänzend an ihm war, nachzuahmen versuchte, und sie verschuldete es zum [344] grössten Theile, dass man seine hohen Verdienste zu unterschätzen begann. Denn wenn auch seine künstlerische Bedeutung mehr zeitlich begrenzt erscheint, indem selbst die vollendeten Werke von monumentalem Werthe nur Kunde geben von dem Musikempfinden ihrer Zeit, so muss er doch damit auch fördernd für die Entwickelung unserer Kunst werden. Wer von den nachstrebenden Künstlern einen Platz im Herzen seiner Nation erringen will – und wer möchte das nicht? – der wird durch Mendelssohn am sichersten dazu geführt werden. Freilich darf er ihn dann nicht copieren wollen; wie dieser Meister muss er sich das gesamte Material seiner Kunst aneignen, zu unbeschränkter Herrschaft; wie er muss er sich fort und fort auf der wachsenden Höhe der Bildung seiner Zeit erhalten, und wenn er dann wie Mendelssohn den lebendigen Zusammenhang mit dem Leben festhält, wird er in gleicher Weise künstlerisch zu gestalten vermögen, was dort gestaltungswürdig ist, in Kunstwerken, die für alle Zeiten ihre Geltung behalten.

Fußnoten

1 Durch einen Aufsatz im »Magazin für die Literatur des Auslande« 1866 Nr. 4. (Siehe Anhang).


2 In dem Unterhaltungsblatte: »Daheim«. Jahrgang 1866. Nr. 26.


3 Der bekannte und hochverdiente Schriftsteller und Componist, der nach einem schaffensreichen Leben am 23. Juni 1888 in Dresden starb.


4 Nachklänge. Leipzig, List & Francke, 1872. Seite 26.

Quelle:
Reissmann, August: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Leben und seine Werke. Leipzig: List & Francke, 1893..
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