Zweiter Abschnitt.
Gluck's Jugendzeit und erste Bildung.

Die meisten Biographen unsers Tonsetzers sprechen, sonderbar genug, von einer höchst vernachlässigten Erziehung deselben. Fétis sagt sogar: »Son père dont on ignore la profession (?) étant allé se fixer en Bohême, y mourut bientôt après, lâissant son fils, encore en bas âge, dans un état voisin de la misère.« (!)1

Da jedoch Herr Fétis diese Stelle aus dem Artikel: »Allemagne« des zur »Encyclopédie Méthodique« gehörigen Werkes: »Musique. Publ. par M.M. Framery et Ginguené« gezogen hat, so trifft ihn lediglich der Vorwurf, dabei die historische Kritik vernachlässigt zu haben.

Kann auch Gluck's Erziehung nicht die glänzendste genannt werden, so war sie doch für die ersten Jahre seiner Jugend eben so zureichend, als sie es für Viele seyn muss, deren Verhältnisse keine bessere gestatten. Nicht alle ausgezeichneten Männer wurden in grossen Städten geboren; auch sie mussten in ihrem Knabenalter mit dem Unterrichte eines Landschullehrers,[17] der jedoch nicht selten einem städtischen vorzuziehen ist, sich begnügen, und ihre fernere Bildung einer Zukunft überlassen, welche, das Bildneramt übernehmend, nun erst bestimmt, ob aus dem Marmorblocke ein Apoll oder ein Satyr gemeisselt werden könne.

Da es im Königreiche Böhmen von jeher gute Stadt- und Landschulen gegeben hat, in denen man, wie noch heut' zu Tage, die Grundlage künftiger Bildung erhielt, und auch der kleine Christoph zur Erlernung aller ihm nothwendigen Gegenstände streng angehalten wurde; so konnte er in seinem zarten Alter sich auch nur jenen Grad der Bildung aneignen, den mancher hochverdiente Staatsmann und Künstler, der seinen Ursprung einem Dorfe oder Flecken verdankte, als Knabe sich anzueignen Gelegenheit fand.

Rücksichtlich der Musik ist es längst anerkannt, dass Böhmens Bewohner einen, ihrer Seele von der Natur eingepflanzten mächtigen Trieb zur Erlernung der göttlichen Kunst besitzen, der von einem guten, mehr praktischen als theoretischen, sowohl in den Stadt- als Landschulen ertheilten Unterrichte mehr und mehr entwickelt, und von mancherlei Umständen mächtig gefördert wird. Ueber diese Vorzüge haben Burney, Schubert, Reichardt, Junker, Böcklin, und andere Schriftsteller, besonders aber die »Leipziger allgemeine musikalische Zeitung«2 sich ausführlich und deutlich ausgesprochen.

Darum wird, meldet die letztere, Böhmen mit Recht das Vaterland deutscher Tonkunst genannt. Die grosse Menge vorzüglicher, von diesem Lande hervorgebrachter Künstler, so wie der ehemalige blühende Zustand der Musik daselbst, vermag diese Benennung vollkommen zu rechtfertigen. Sind es nicht böhmische Tonkünstler, die man in allen berühmten Orchestern Europas zerstreut findet? Und haben sich nicht viele derselben, theils als Instrumentalisten, theils als Tonsetzer den grössten Ruhm erworben? – In Böhmen selbst gab es, und gibt es noch[18] zum Theil so viele geschickte und vortreffliche Musiker aller Art, dass man selbst in kleineren Städten ein beträchtliches Orchester zusammenbringen kann, und reich instrumentirte Tonschöpfungen aufzuführen im Stande ist.3 In Prag zumal leben so viele gründliche Kenner und vorzügliche Tonmeister, dass es wohl schwerlich eine Stadt geben wird, wo sie verhältnissmässig zahlreicher anzutreffen wären. Ich nehme selbst Wien nicht aus, das überdiess seine Musiker zunächst aus Böhmen anwirbt, welches nicht nur die kaiserl. Hofkapelle und das Hofoperntheater sondern auch die zahlreichen Militärbanden des lnund Auslandes beweisen.

Ueberdiess waren im ganzen achtzehnten Jahrhunderte die grössten Schätzer und Unterstützer der Musik grösstentheils böhmische und einige ungarische Kavaliere, welche Kapellen unterhielten und ihre Künstler reichlich belohnten.

Zu den nächsten Ursachen des Blühenden Zustandes der Tonkunst und der Bildung so vieler Künstler in Böhmen gehört nebst der natürlichen Anlage wohl die Pracht des katholischen Gottesdienstes, welchem die Tonkunst alle ihre Reize leihen muss; ferner die, zu diesem schönen Zwecke von unsern musikliebenden Vorfahren an allen Kirchen gemachten Chorstiftungen. Schon während des 15. und 16. Jahrhunderts entstanden in den meisten Städten dieses Landes die bekannten Litteraten-Brüderschaften. Die edle Absicht dieser Verbindungen und das Wesen ihrer Verfassung war eben wieder die Verherrlichung des Gottesdienstes durch Gesang, dann Verbreitung der Andacht und Weckung der christlichen Liebe.4

Schon Kaiser Rudolph der II., dessen Regierung in der[19] Litteratur- und Kunstgeschichte Böhmens den schönsten Zeitabschnitt bildet, hielt eine wohlbesetzte, aus Italienern und Böhmen bestehende Kapelle. Die bei weitem bessere Periode für die Musik beginnt jedoch erst unter Ferdinand dem II. und dem III., in den reicheren Städten, Klöstern und Jesuiten-Collegien: denn in jedem Kloster, in jeder grösseren Pfarrkirche befanden sich entweder gestiftete Fonds zur Unterhaltung der Chormusik, oder reiche Abteien unterhielten sie selbst, mit freigebiger Hand und lobenswerthem Wetteifer aus reiner Liebe zur Sache.

So wurde eine grosse Menge von Jünglingen, und darunter manches vorzügliche Talent in unserer Kunst ausgebildet. Viele wählten die Musik zu ihrem Berufsgeschäfte und blieben Tonkünstler, die übrigen setzten ihre wissenschaftlichen Bestrebungen fort und wurden Staatsdiener, Geistliche, Wirthschaftsbeamte, Handwerker u.s.w. und bewahrten dabei Liebe, Sinn und Geschmack an der Musik durch ihr ganzes Leben. Diess war besonders bei den Klostergeistlichen der Fall, unter denen die Geschichte der Tonkunst in Böhmen allerdings grosse Männer zu nennen weiss.

Nebst diesen, für die Tonkunst in Böhmen günstigen Umständen, gibt es noch manche andere, die man in dem bereits eben angeführten Aufsatze der Leipziger musikalischen Zeitung nachlesen wolle.

Einen solchen Unterricht nun empfing auch der junge Gluck zu Böhmisch-Kamnitz und Eisenberg, und gewiss einen weit gründlicheren, als andere Bürger- und Bauernknaben der genannten Orte, indem es überall die Sitte will, dass die Landschullehrer den Kindern der Ortsbeamten ausser der gewöhnlichen Schulzeit für einen billigen Ehrensold noch Wiederholungsstunden ertheilen.

Obschon nun Gluck's Vater, nach rauher Jägerweise, sein überaus lebhaftes, feuriges Söhnlein oft sehr hart, selbst tyrannisch behandelte, wenn dieser den ungeduldigen, an ihn gestellten Forderungen nicht schnell genug entsprechen konnte; so verlor der Knabe dennoch nicht die Liebe zu dem, was ihm[20] einmal zu erlernen auferlegt worden war. Gluck erzählte dieses in vertraulichen Stunden seinen Freunden und Verwandten oft selbst, und gerieth dabei stets in die munterste Laune. Ja, er berichtete noch, dass er und sein Bruder Anton den in den Forst reitenden Vater im strengsten Winter, um der Abhärtung willen, nicht selten barfüssig begleiten, und verschiedene Jagd- und Messgeräthe nachtragen mussten.

Da die Natur den jungen Christoph mit einem kräftigen Geist und vorherrschenden Triebe zur Musik begabt hatte, so ward es ihm leicht, die Schwierigkeiten der Kunst zu überwinden, und in derselben nicht allein die erfreulichsten Fortschritte zu machen, sondern, auch den höchsten Genuss zu finden. So kam es denn auch, dass er bald ziemlich gut vom Blatte singen lernte, ja, dass er später auch die Violine und das Violoncell besonders fertig und geschmackvoll zu spielen verstand.

Als Gluck für die Gymnasialstudien herangereift war, schickte der Vater, damals Forstmeister auf der fürstl. Lobkowitz'schen Herrschaft Eisenberg, ihn nach dem unfern gelegenen Städtchen Kommotau, wo der junge Christoph zwischen den Jahren 1726 und 1732 jenen Studien oblag. Hatte der Knabe bei der grossen Neigung zur Musik den Grund zum Gesang und Violinspiele schon früher gelegt, so bot sich nun in dem dortigen Jesuiten-Seminar noch mehr Gelegenheit, in beiden Kunstfertigkeiten vorwärts zu schreiten, und dieselben auf dem Musikchor der Kirche zum heiligen Ignaz thätig auszuüben. Hier war es auch, wo er einigen Unterricht im Clavier- und Orgelspiel empfing.

Von Kommotau begab sich Gluck nach der Hauptstadt Böhmens, um dort sowohl der Tonkunst noch ferner zu huldigen, als auch die höheren philosophischen Lehrgegenstände zu hören, und seine wissenschaftlichen Kenntnisse nach Möglichkeit zu erweitern.

Da jedoch die Unterstützungsbeiträge seines Vaters, der jetzt eine zahlreiche Familie5 zu versorgen hatte, immer spärlicher[21] wurden, sah sich Gluck bald in der trüben Lage, seinen Unterhalt in der Tonkunst allein zu suchen, und sich ausschliesslich auf dieselbe zu verlegen. Er ertheilte Unterricht im Gesang und auf dem Violoncell, und sang und spielte in verschiedenen Kirchen der Hauptstadt, besonders in der Teinkirche unter der Leitung des berühmten Czernohorsky;6 ferner in den Klosterkirchen zur heiligen Agnes und der sogenannten Wasser-Polaken7 auf der Altstadt, wofür er, wie es noch heut' zu Tage geschieht, eine monatliche Bestallung erhielt. In der Ferienzeit zog er Anfangs von Dorf zu Dorf, und von einem Flecken zum andern, unterhielt die Bewohner mit Spiel und Gesang, und erntete für seine Leistungen in den Dörfern oft nichts als Eier, die er an anderen Orten gegen Brod vertauschte.

Später besuchte er die grösseren Städte des Landes, gab Conzerte auf dem Violoncell und vermehrte dadurch sein Einkommen um ein Namhaftes, ohne dass bei dieser Lebensweise in ihm auch nur die leiseste Ahnung einer ruhmvollen Zukunft emporgedämmert wäre.

Aber auch unter dem höheren und niederen, der Tonkunst von jeher hold gewesenen Adel Böhmens erwarb sich Gluck viele Gönner, welche ihn, wie er nicht oft genug betheuern konnte, grossmüthig unterstützten, namentlich die hochherzige Fürstenfamilie von Lobkowitz, welcher viele seiner Ahnen im edlen Waid- und Forstwerke bereits ihre Dienste gewidmet hatten. Daher kam es auch, dass er überall und immer, so lange er lebte, Böhmen sein eigentliches Vaterland, und die Böhmen seine Landsleute und Wohlthäter nannte.[22]

Im Jahre 1736 führte die Liebe zur Kunst ihn nach der Haupt- und Residenzstadt Oesterreichs, wo er in dem bereits genannten fürstlichen Hause freundliche Aufnahme, Unterhalt und selbst die Gelegenheit fand, die ersten Grundsätze des Tonsatzes gründlicher kennen zu lernen.

Hier erwarteten ihn Kunstgenüsse jeder Gattung; die Schöpfungen eines Antonio Caldara, Joh. Jos. Fux, der Gebrüder Francesco und Ignazio Conti, Giuseppe Porsile8 und Anderer erfüllten sein Herz mit Bewunderung und Entzücken, und zugleich mit heisser Begierde, einst eben so Grosses zu leisten, wie diese Sonnen am Himmel des kunstliebenden Kaisers Karl des Sechsten.

Der lombardische Fürst von Melzi, der Gluck im fürstl. Lobkowitz'schen Palaste singen und spielen gehört, und hohes Wohlgefallen an ihm gefunden hatte, ernannte ihn zu seinem Kammer-Musikus, nahm ihn mit nach Mailand, wo derselbe seinen Schützling dem damals sehr beliebten und berühmten Kapellmeister, Organisten und Tonsetzer Giovan Battista Sammartini, von dessen Lebensumständen uns nur wenig bekannt ist, zur weiteren musikalischen Ausbildung übergab.

1

Siehe dessen: »Biographie universelle des Musiciens.« Artikel Gluck.

2

Siehe Jahrgang 1800, Sp. 488–494.

3

Der Herausgeber dieser Blätter war im Jahre 1801 zu Böhmisch-Leippa der mitwirkende Zeuge einer vortrefflichen Aufführung von Haydn's Schöpfung, woran sich gegen 200 Musiker betheiligt hatten.

4

Nähere Auskunft über den Ursprung und die Verfassung dieser Gesellschaften findet man in dem 10. Hefte der schätzbaren »Materialien zur Statistik Böhmens,« herausgegeben von G.R. Riegger, wo man auch die Mitglieder der Kapelle Kaiser Rudolph's II. verzeichnet findet.

5

Die Geschlechtstafel weist sieben Glieder aus.

6

Czernohorsky, Bohuslaus, Minorit und berühmter Tonsetzer und Orgelspieler, von Nimburg in Böhmen gebürtig, war mehrere Jahre hindurch Regens Chori bei St. Anna in Padua, dann in der Teinkirchè und bei St. Jakob in Prag. Sein Geburtsjahr ist unbekannt. Er starb um das Jahr 1740 auf einer zweiten Reise nach Italien. Seine vorzüglichsten Schüler waren: Joseph Seger, Czéslaus Klackel, Franz Tuma, Johann Zach, und der berühmte Violinspieler Joseph Tartini.

7

Der Kreuzherren mit dem rothen Herzen.

8

Antonio Caldara, k.k. Hof-Vice-Kapellmeister, Einer der genialsten Tonsetzer für Kirche und Theater in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, starb in Wien am 28. Dezember 1736 im 66. Jahre seines Alters.

Auch die Florentiner Francesco und Ignazio Conti sind als ausgezeichnete Tonsetzer bekannt. Der Erstere war der berühmteste Theorbist seiner Zeit, und zugleich kaiserl. Kammer-Compositor. Er starb zu Wien am 20. Juli 1732 erst 51 Jahre alt. Der Zweite, k.k. Hofcompositor, ging ebendaselbst am 22. März 1759 im 60. Lebensjahre mit Tode ab. – Johann Joseph Fux, seit dem J. 1715 k.k. Hofkapellmeister, wurde im Jahre 1660 in Ober-Steiermark geboren. Dieser berühmte Tonsetzer für Kirche, Kammer und dramatische Musik, und Verfasser des noch heut' zu Tage geschätzten »Gradus ad Parnassum,« schied zu Wien am 14. Februar 1741 aus dem Leben, und erreichte das hohe Alter von 81 Jahren. – Giuseppe Porsile, k.k. Hof-Musicus, und vorzüglicher Opernkomponist verstarb ebenfalls in Wien am 29. Mai 1750 im 78. Lebensjahre.

Die zahlreichen Werke der hier genannten Tonsetzer werden in der k.k. Hofbibliothek, und zum Theile auch in der Bibliothek des Wiener-Musikvereins aufbewahrt.

Quelle:
Schmid, Anton: Christoph Willibald Ritter von Gluck. Dessen Leben und tonkünstlerisches Wirken. Leipzig: Friedrich Fleischer, 1854., S. 17-23.
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