I.

[178] Johann Sebastian Bachs Geburtstag ist aller Wahrscheinlichkeit nach der 21. März 1685, urkundlich beglaubigt ist nur der 23. März als sein Tauftag. Pathen waren Sebastian Nagel, ein »Hausmann« zu Gotha, und Johann Georg Koch, ein Forstbeamter zu Eisenach1. Die ersten neun Jahre seines Lebens genoß der Knabe noch das Glück der mütterlichen Pflege und Obhut; am 3. Mai 1694 geleitete Ambrosius Bach seine Gattin zu Grabe. Daß derselbe schon nach kaum sieben Monaten (am 27. Nov.) ein neues Ehebündniß schloß mit Frau Barbara Margaretha Bartholomäi, der Wittwe eines arnstädtischen Diaconus, wollen wir nicht als Gleichgültigkeit gegen die Entschlafene auffassen. Eheliches Zusammenleben war für den gesunden Familiensinn der Bachs am schwersten zu entbehren, ihre urwüchsige Kraft wandte sich von den Todten rasch wieder den Lebenden zu, und für ein Haus voll unerwachsener Kinder mochte das ordnende Walten eines weiblichen Wesens doppelt wünschenswerth erscheinen. Aber Ambrosius sollte der neuen Häuslichkeit nicht mehr froh werden, er starb schon nach zwei Monaten und wurde am 31. Januar 1695 begraben. Die Familie löste sich nun auf. Johann Jakob Bach trat bei dem Amtsnachfolger seines Vaters als Kunstpfeifer in die Lehre2, von den andern Brüdern waren Johann Balthasar nachweislich [179] und Johann Jonas höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben, Johann Christoph aß seit mehren Jahren schon sein eignes Brod, und ihm wurde zu weiterer Erziehung der kaum zehnjährige Sebastian übergeben. Derselbe hat seine Vaterstadt seitdem zu einem längeren Aufenthalte nicht wieder gesehen. So weit es sich noch sagen läßt, eignete sich aber diese früheste Lebensperiode durchaus dazu, die schlummernden oder eben sich regenden Kräfte des Knaben zu wecken und zu nähren. Der Vater war, wenn wir die wenigen Einzelheiten und Andeutungen aus seinem eignen Leben mit dem Charakter seines gleichgearteten Zwillingsbruders auf dem Grunde der allgemeinen Bachschen Charakterzüge uns zusammendenken, ein sittlich tüchtiger, gewissenhafter und kunstgeübter, dabei innerlich selbständiger und unter seinen Mitbürgern wohlberufener Mann. Daß ein großes, in Oel gemaltes Portrait von ihm angefertigt wurde, zeigt, wie angesehen er in seinem Geschlechte war, und läßt muthmaßen, daß er in nicht eben dürftigen Verhältnissen lebte3. Auf diesem Bilde, welches ihn etwa als mittleren Vierziger darstellt, sehen wir ein Antlitz von kräftigen Zügen, in dessen Kinn und Nase man sofort den Sohn wiederfindet. Charakteristischer noch ist und für die Zeit etwas seltenes, daß man keins von jenen Staatsportraits vor sich hat mit Allongeperrücke und Sonntagsgesicht; es blickt ein frei schauender Mann heraus, im nachlässigen Hauskleide, das auf der Brust erscheinende Hemd wird am Halse nur lose mittelst eines durchgezogenen Bandes zusammengehalten, natürliches braunes Haar umgiebt den Kopf, und das Gesicht ziert gar ein Schnurrbart. Wer erwägt, wie viel die Fertigung eines Oelgemäldes für jene Stände zu bedeuten hat, wird aus dieser Emancipation von dem, was damals für fein und schicklich galt, die richtigen Schlüsse zu ziehen wissen. Ambrosius muß die großen musikalischen Gaben seines Sohnes früh bemerkt und ihre Ausbildung betrieben haben, zunächst, wie es die eigne Fertigkeit mit sich brachte, nach Seite des Violinspiels, so daß die reichlich bewiesene Liebe Sebastians für dieses Instrument in den frühesten Kindheitseindrücken ihre Wurzel haben dürfte. Mit seinen außerordentlichen orgelkünstlerischen und allgemein-musikalischen [180] Anlagen mußte dieser in Joh. Christoph Bach, dem größten Musiker, welchen das Bachsche Geschlecht bis dahin hervorgebracht hatte, einen Gegenstand seiner Bewunderung und gewiß auch schon mannigfacher Anregung finden, die sich in nicht allzulanger Zeit in nachahmenden Productionen zu äußern Verlangen trug. Im übrigen war auch sonst Eisenach wegen der dort allgemein herrschenden musikalischen Neigungen bekannt. Schon im 15. Jahrhundert zogen dreimal in der Woche ärmere Schüler, fromme Lieder singend und Almosen erbittend, durch die Stadt. Um 1600 wurde der currente Chor für Figuralgesang durch Jeremias Weinrich, den Rector der Eisenacher Schule, eingerichtet, und galt bald als der Stolz und die Freude der Bewohner von Stadt und Umgegend. Ursprünglich nur aus vier Schülern bestehend vergrößerte er sich bis auf vierzig und mehr und bestand so auch um 1700, aus welcher Zeit uns darüber berichtet wird4. Da wir wissen, daß Sebastian sich später als tüchtiger Sopranist hervorgethan hat, so ist wohl anzunehmen, daß er wenigstens in der letzten Zeit seines Eisenacher Aufenthalts an den Leistungen des Schülerchors sich betheiligte und singend mit durch die Straßen zog, wie ebendaselbst vor 200 Jahren Luther gethan.

Den ältesten Bruder hatte, als er in die Jünglingsjahre getreten war, Ambrosius Bach im Jahre 1686 nach Erfurt gegeben, wo er drei Jahre hindurch den Unterricht des befreundeten Johann Pachelbel genoß. Im letzten Jahre seiner Lehrzeit nahm er die Stelle eines Organisten an der Thomaskirche daselbst an, die aber an Orgel und Besoldung selbst bescheidenen Ansprüchen nicht genügte und bald wieder aufgegeben wurde. Nun wandte sich Johann Christoph nach Arnstadt, um zeitweilig den Dienst des greisen Heinrich Bach zu versehen, und seinem Pathen Herthum die Pflichten gegen den alten Schwiegervater zu erleichtern. Da der ebenfalls in Arnstadt lebende und gleichfalls Johann Christoph genannte Zwillingsbruder von Ambrosius Bach eine Tochter des Kirchners Eisentraut in Ohrdruf zur Gattin hatte, so läßt sich begreifen, warum grade dieser Ort es war, an dem der jüngere Johann Christoph im Jahre 1690 eine Anstellung [181] suchte und erhielt. Er wurde Organist der Stadtkirche. Im 16. Jahrhundert bis zum Anfang des 17. waren an diesem Orte schon Personen des Namens Bach ansässig gewesen, doch verbieten die wenigen spärlichen Notizen der Pfarr-Register über ihre Existenz irgend welche Vermuthung wegen eines Zusammenhanges mit anderen entwickelteren Zweigen des Geschlechtes aufzustellen. Darnach scheint bis auf Johann Christophs Hinkunft der Name dort verschwunden gewesen zu sein. Dieser wurde, wohl hinsichtlich seiner Jugend, mit dem mäßigen Jahresgehalte von 45 Gülden und einigen zu liefernden Naturalien in Dienst genommen. Er suchte allerdings bald um Zulage nach, da sie ihm aber verweigert wurde, hielt er es in seiner Stellung doch für zulässig, im October 1694 mit Jungfrau Dorothea von Hof eine Ehe zu schließen. Die frisch gegründete Häuslichkeit machte es ihm möglich, nach dem bald erfolgten Tode des Vaters den kleinen Sebastian zu sich ins Haus zu nehmen. Er soll sein erster Lehrer im Clavierspiel gewesen sein, und es wäre um deswillen interessant, von seiner eignen Leistungsfähigkeit ein ungefähres Bild sich machen zu können. Aber hierzu fehlt es fast ganz an Hülfsmitteln. Ein gutes Vorurtheil erweckt, daß er Pachelbels Schüler und zwar drei Jahre lang war. Eine im Jahre 1696 an ihn gelangte Berufung nach Gotha, die er durch Gehaltszulage bewogen ablehnte, läßt einen wenngleich unsicheren Schluß auf eine weiterhin bekannte Tüchtigkeit machen (oder vielleicht hatte ihn Pachelbel, der 1695 Gotha verließ, dorthin empfohlen), und aus einer Sammlung von Werken berühmter damaliger Orgelmeister, welche er sich angelegt hatte, kann man das Bestreben entnehmen, auf die Höhe seiner Zeit zu gelangen. Endlich mögen auch seine Söhne, welche sämmtlich Cantoren und Organisten in Ohrdruf und Umgegend wurden, für die wirklich musikalische Natur des Vaters ein Zeugniß ablegen5. Was sonst noch von ihm zu berichten ist, hat mit der Musik wenig oder garnichts zu thun. Es war damals wie jetzt gebräuchlich, Organisten und Cantoren auch als Elementarlehrer an den Schulen zu benutzen. [182] Johann Christoph hatte sich zuerst auf diesen Doppeldienst, welchen sein Vorgänger, Paul Beck, verrichtet hatte, nicht eingelassen, bequemte sich jedoch dazu im Jahre 1700 um des größeren Gehaltes willen, der ihm nunmehr 97 Gülden, 61/2 Malter Korn, 6 Klafter Scheitholz und 4 Schock Reisig eintrug. Aber zum Jugendinformator scheint er wenig geeignet gewesen zu sein, und trug die übernommene Last um so schwerer, da ihm die Ernährung seiner Familie Noth machte, seine Gesundheit schwankend wurde, und er sich sagen mußte, daß er zur Ausübung seines eigentlichen Organistenberufes Freudigkeit und Kraft verliere. Am 22. Febr. 1721 starb er; als Organist folgte ihm sein zweiter Sohn, die Lehrverpflichtungen für die fünfte Classe gingen auf einen Fremden über6.

An das genannte Orgelbuch knüpft sich eine für den starken Bildungstrieb Sebastians bedeutsame Erzählung. Die Spielstücke, welche der ältere Bruder vorlegte, waren bald technisch und geistig bewältigt und ausgeschöpft, ihn verlangte nach schwierigeren Aufgaben und höheren Flügen. Jenes Buch aber enthielt der Altersstolz Johann Christophs dem Knaben vor. Durch das weitläufige Gitter eines Schrankes konnte dieser den Gegenstand seiner Sehnsucht täglich liegen sehen; da schlich er sich bei nächtlicher Weile heran, langte durch die Gitteröffnungen und zog das zusammengerollte Heft heraus. Licht stand ihm nicht zur Verfügung, so mußte der Mondschein aushelfen, den köstlichen Schatz durch Abschrift zu gewinnen. Nach sechs Monaten war eine Arbeit vollendet, die nur der glühendste Kunsteifer hatte unter nehmen können. Aber der Bruder überraschte ihn bald bei der mühselig erworbenen Abschrift, und war [183] hartherzig genug sie ihm abzunehmen7. Die geniale Beharrlichkeit, mit der wir auch später Sebastian den ins Auge gefaßten Zielen werden nachstreben sehen, tritt an diesem Geschichtchen schon ebenso klar hervor, wie die Thatsache, daß er sehr bald von seinem ältern Bruder nichts mehr zu lernen hatte. Am wichtigsten für uns in dem ganzen Verhältnisse ist, daß er durch jenen schon als Knabe mit Pachelbels Schöpfungen und Kunstgeist bekannt werden mußte. Wie er als echter Ehrenmann nach funfzehn Jahren dem Bruder vergalt, werden wir seiner Zeit zu erwähnen haben.

In Ohrdruf begann er zugleich den Grund zu einer wissenschaftlichen Allgemeinbildung zu legen. Das Lyceum daselbst, um das Jahr 1560 durch die Grafen von Gleichen gegründet, erfreute sich eines nicht unbedeutenden Rufes, war verhältnißmäßig reich dotirt, hatte tüchtige und wissenschaftliche Lehrer aufzuweisen und konnte aus der Prima zur Universität entlassen. Am Ausgange des 17. Jahrhunderts zählte es sechs Classen, die untersten drei bildeten zugleich die Volksschule, indem zu den lateinischen und griechischen Stunden diejenigen heimgeschickt wurden, welche eine gelehrte Bildung nicht anstrebten. Doch konnten auch in den obern Classen noch solche am Unterricht theilnehmen, welche von den alten Sprachen dispensirt waren. Es blieben dann freilich nicht viel Disciplinen übrig. Daß Sebastian zu letzteren nicht gehörte, beweist schon die ihm eigne, gleichviel wie große Kenntniß der lateinischen Sprache, die aus seinen Briefen und amtlichen Eingaben hervorgeht, und ist ohnedies nach den Traditionen der Bachschen Familie ziemlich selbstverständlich. Nach seinem Alter zu schließen, in welchem er das Haus des Bruders verließ, kann er jedoch in Ohrdruf nicht über die Secunda hinausgekommen sein, und auch was er hier lernte, ist nach dem Zuschnitt der damaligen Schulen einseitig genug. Theologie, Lateinisch [184] und Griechisch, letzteres nur auf Grundlage des Neuen Testaments, waren die fast einzigen Lehrstoffe, dazu kam etwas Rhetorik und Arithmetik. Von römischen Schriftstellern wurden auf dieser Stufe Cornelius Nepos gelesen und Cicero, nämlich dessen Briefe, das weitere that die Einprägung grammatischer Regeln in lateinischer Fassung, thaten metrische, Disputations-und Stil-Uebungen. Französisch, der damaligen Bildung doch so schwer entbehrlich, fehlte ganz, ebenso Geschichte8. Für die Musik aber waren von den 30 wöchentlichen Stunden in Prima und Secunda je fünf, in Tertia und Quarta je vier angesetzt, und der unter Leitung des Cantors stehende Sängerchor erscheint in jener Zeit als ein Institut von großer Wichtigkeit. Sein Wirkungskreis umfaßte außer dem sonn- und festtäglichen Kirchendienste die Aufführung von Motetten und Concerten bei Hochzeiten und Beerdigungen, und das für bestimmte Zeiten festgesetzte currente Singen von Thür zu Thür. Der Regelmäßigkeit des Schulunterrichts that diese Einrichtung freilich empfindlichen Eintrag, auch scheint es in Ohrdruf, im Gegensatz zu andern Orten Thüringens, Sitte gewesen zu sein, daß die Schüler bei Hochzeiten am Gelage Theil nahmen, nicht selten zur Störung ihres physischen und moralischen Gleichgewichts. Wie reichlich die Beschäftigung des Schülerchores war, läßt sich aus seinen Einnahmen ersehen, welche sich beispielsweise im Jahre 1720 während dreier Quartale auf 237 Thlr. 11 Gr. 6 Pf. beliefen9. Hier fand nun Sebastian für sein Talent neue Nahrung, und daß er sich zu einem der vorzüglichsten Sänger aufschwang, vielleicht zum Concertisten, der ein besonderes Stipendium empfing und auch bei der Einnahmevertheilung reichlicher bedacht wurde, wird alsbald gezeigt werden. Rector der Schule war von 1696 an Johann Christoph Kiesewetter, ein sehr gelehrter Mann, der 1712 in derselben Function an das Gymnasium zu Weimar [185] kam und dort seinen ehemaligen Schüler Sebastian Bach als Hoforganisten und Kammermusicus wiedertraf; das Conrectorat und Lehramt für Secunda bekleidete von 1695 bis 1728 Joh. Jeremias Böttiger10. Der religiöse Standpunkt der Schule war der streng orthodoxe: sämmtliche Lehrer, auch Johann Christoph Bach, unterzeichneten die Concordienformeln11. In diesen Verhältnissen wuchs Sebastian zum Jünglinge heran.

Als er das funfzehnte Jahr vollendet hatte, sollten die eignen Füße ihn ins Leben weiter tragen. Die Verhältnisse drängten dazu: seines Bruders allmählig sich vergrößernde Häuslichkeit wurde zu enge, auch fühlte er, daß an diesem Orte nichts mehr für ihn zu gewinnen wäre, und wußte in sich Kraft genug, ohne Hülfe andrer fort zu kommen. Wie dies anzufangen sei, zeigte ein glücklicher Zufall bald. Der am Lyceum seit 1698 angestellte Cantor Elias Herda, ein junger 24jähriger Musiker, wurde ohne Zweifel der Wegweiser. Dessen Vater, ein Hufschmidt in Leina bei Gotha, hatte, als der Sohn etwa in Bachs Alter am gothaischen Gymnasium seine Studien machte und daneben seine musikalischen Anlagen ausbildete, einmal eine Reise nach Lüneburg gethan, und dort von einem Landsmann gehört, daß in Niedersachsen die thüringischen Knaben ihrer musikalischen Anlagen und Fertigkeiten wegen beliebt seien, und daß der Cantor an der Kirche des Benedictinerklosters zu St. Michaelis in Lüneburg grade jetzt einen solchen suche, den er dafür mit dem nöthigen Lebens-Unterhalte versorgen wolle. Der Vater bemerkte darauf, daß er auch einen musikalischen Sohn etwa des Alters habe, und der Cantor, davon benachrichtigt, wußte es durch an gelegentliche Vorstellungen zu erreichen, daß der junge Herda sich nach Lüneburg begab. Hier bekam er sofort eine Freistelle im Convictorium und blieb sechs Jahre lang. Hernach studirte er zwei Jahre lang in Jena Theologie, und erhielt dann bald die Stelle, in welcher Bach, wenn auch vielleicht nur in der Musik, sein Schüler wurde12. Was nun weiter geschah, ist leicht zu errathen. Sebastian besaß eine schöne Sopran-Stimme13, zeichnete sich durch Eifer und Leistungen aus [186] und wurde dem jungen Cantor lieb. Als es sich um sein weiteres Fortkommen handelte, empfahl er ihn an die Schule des Michaelisklosters nach Lüneburg, wo er noch im frischen Andenken stand und der Name Bach bereits nach zweien der bedeutendsten Träger desselben bekannt war. Dort muß man grade einmal wieder zwei tüchtige Sänger nöthig gehabt haben, denn mit Sebastian zog sein Freund und Altersgenosse Georg Erdmann, gleichfalls ein musikbegabter thüringischer Jüngling, der auch in späteren Jahren, obwohl auf einen ganz andern Lebensweg geführt, diese Jugendfreundschaft nicht vergaß14.

Um Ostern 1700 machten sich beide auf die Wanderung, und traten im April in den Chor der Michaelisschule ein. Sie wurden ihrer Tüchtigkeit wegen gleich in die auserlesene Schaar der »Mettenschüler« aufgenommen, und auch hier sofort mit dem zweithöchsten Gehaltsatze der derzeitigen Discantisten bedacht15. Erdmann steht im Verzeichniß vor Bach, woraus wohl zu schließen ist, daß er einer höheren Classe angehörte. Man sieht wieder, wie beide kaum anders als auf vorhergegangene Anmeldung nach Lüneburg gezogen sein können, und nicht etwa ins Blaue hinein abenteuerten. Von Seiten des Michaelisklosters mußte der Grundstock des Chores, welcher eben die Mettensänger abgab, unterhalten werden. Dafür sah man sich auch nach ordentlichen Kräften um, und jedenfalls erstreckten sich die Anforderungen weiter, als nur auf eine gute Stimme und Geübtheit im figuralen Gesange, wenn man aus Mitteldeutschland Choristen herbeizog. Nur auf die Verwendbarkeit seiner Sopranstimme hin hätte der funfzehnjährige Sebastian seinen ersten Ausflug in die Welt garnicht wagen dürfen, wie denn auch berichtet wird, daß er sie in Lüneburg bald verlor und eine Zeit lang garnicht [187] singen konnte16. Aber ebenso reichlich war die Gelegenheit, einen tüchtigen Instrumentalisten zu verwenden; wenn der Cantor die Gesänge einstudirte, gab es auf dem Cembalo zu accompagniren, bei den Aufführungen mit concertirender Begleitung konnte man Violinisten gebrauchen, anderer Beschäftigungen nicht zu gedenken; weiß man doch von dem Chor der Johannisschule, daß er einen besondern Instrumentalisten-Chor stellen konnte, der zur Neujahrszeit spielend die Stadt durchzog und sich dadurch eine Erwerbsquelle öffnete. Die Thüringer waren auch von jeher mehr für diese Seite der Kunst, als für den Gesang begabt, und jedenfalls war es zum beträchtlichen Theile Sebastians Tüchtigkeit als Violinist, als Clavier- und Orgelspieler, die ihm die Aufnahme unter die Mettenschüler des Michaelisklosters verschaffte, wenn es nicht gar diese hauptsächlich gewesen ist. Ob er späterhin nach vollendeter Stimm-Mutation und da er drei Jahre in Lüneburg blieb, auch Chor-Präfect geworden ist, in welcher Eigenschaft er einen gewissen Theil der Dirigententhätigkeit zu übernehmen und zumal beim currenten Singen die Oberleitung hatte, ist nicht bekannt geworden, man darf es aber wohl vermuthen.

Für seine äußere Existenz war jedenfalls gesorgt. Wie dereinst Herda, so erhielt er ohne Zweifel sofort mit seinem Genossen Erdmann einen Platz am Klosterfreitische, dessen Genuß wohl sämmtlichen Mettenschülern, an Durchschnittszahl in jener Zeit etwa 15, gewährt zu werden pflegte. Der Gehalt wurde monatsweise ausgezahlt, und beträgt für die ersten beiden Monate von Bachs Thätigkeit, aus denen allein noch Verzeichnisse erhalten sind, je 12 ggr., der höchste Satz, zu dem er sich allmählig aufschwingen konnte, war ein Thaler. Wenn er auch zum Accompagniren auf dem Flügel herbeigezogen wurde, so trug ihm dies eine Jahres-Einnahme von zwölf Thalern. Die Hauptverdienstquelle floß jedoch dem gesammten Schülerchor, von dem die Mettensänger nur den Kern bildeten, und der damals zwischen zwanzig und dreißig Personen zählte, aus dem Umsingen durch die Straßen, den Brautmessen und Beerdigungsfeierlichkeiten. Im Jahre 1700 kamen 372 Mark ein, von denen der Cantor vorschriftsmäßig den sechsten Theil erhielt; der Präfect bekam [188] 56 Mark, die andern je nach ihrer Stellung im Chor ihren Antheil in absteigenden Verhältnissen. Da wie schon bemerkt auch die Johannisschule einen Chor hatte, der ganz in gleicher Weise thätig war, so läßt sich erkennen, wie rege der musikalische Sinn Lüneburgs damals gewesen sein muß. Zwischen beiden Chören bestand eine leicht erklärliche Rivalität, die gewiß ihre guten Früchte trug, aber auch zuweilen zu Conflicten führte, wenn in der Zeit des Umsingens – dies geschah nur im Winterhalbjahre – einmal beide Chöre auf einander stießen. Es waren deshalb längst für jeden Chor genau die Straßen bezeichnet, in welchen er tageweise zu singen hatte.

Die Verwendung des Michaelischores beim Gottesdienste war eine ziemlich ausgedehnte. Eine Metten-und Vesper-Ordnung vom Jahre 1656 weist sowohl den concerthaften Kirchencompositionen, als den Motetten und dem figural gehaltenen Kirchenliede, als der ein- und mehrstimmigen geistlichen Arie ihre bestimmten Stellen im Cultus an. An achtzehn bestimmten Festtagen des Kirchenjahres war vollständige Musik mit Instrumenten, außerdem aber noch ziemlich oft auf besondere Verordnung: im Jahre 1656 auf 1657 wurde dreißigmal, 1657 auf 1658 vierunddreißigmal vollständig musicirt. An den übrigen Sonn-und Festtagen wurde im Vormittags-Gottesdienste wenigstens eine Motette, im Nachmittags-Gottesdienste eine geistliche Arie mit Orgelbegleitung aufgeführt. Wie wenig überhaupt das Kloster mit seinen Mitteln geizte zur Erhaltung eines tüchtigen Chorinstituts und zur Herstellung einer reichen und würdigen Cultus-Musik, läßt sich daraus erkennen, daß beispielsweise im Jahre 1702 auf 1703 die für damals beträchtliche Summe von mehr als 507 Thalern hierzu verausgabt wurde. Die Schränke der Chorbibliothek füllte ein ungewöhnlich reicher Musikalienschatz, dessen Bestand im Jahre 1696 noch aus den im Archiv aufgefundenen Katalogen zu ersehen ist. Neben bedeutenden Sammelwerken von älteren Compositionen, wie dem Promptuarium musicum von Schadaeus und dem Florilegium Portense von Bodenschatz war das 17. Jahrhundert mit den hervorragendsten gedruckten Werken von allen damals bedeutsamen deutschen Meistern, Schütz, Scheidt, Hammerschmidt, Joh. Rud. Ahle, Briegel, Rosenmüller, Tob. Michael, Schop, Jeep, Crüger, Selle, Joh. Krieger und anderen vertreten. Der Cantor Friedr. Emanuel Praetorius[189] (1655–1694) hatte allein weit über hundert Bände angeschafft17. Dazu kam noch ein Schatz von 1102, wie es scheint nur handschriftlichen Kirchenstücken, unter denen auch Heinrich Bach und Joh. Christoph Bach, »Henrici Filius«, mit je einer Nummer vertreten waren. Weil damals Johann Jakob Löw, ein geborner Eisenacher, an der Nikolaikirche zu Lüneburg Organist war, so ist vielleicht durch ihn der norddeutschen Stadt die Bekanntschaft mit den beiden thüringischen Meistern vermittelt, jedenfalls ist es interessant zu wissen, daß Sebastians Familienname ihm hierher schon vorausgegangen war. Auch Joh. Pachelbels Name findet sich. Einige Compositionen des jung gestorbenen und nicht sehr bekannt gewordenen gothaischen Capellmeisters Georg Ludwig Agricola könnte wohl Herda mit sich herüber gebracht haben18.

Es bot sich also für Sebastian Bach Gelegenheit genug, auf dem Gebiete kirchlicher Vocalmusik Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Aber sein ganzer Lebensgang zeigt zu deutlich, wie er von der Instrumentalmusik seine Entwicklung begann, als daß wir nicht annehmen sollten, er habe diese Seite der Kunst vorläufig als Nebensache betrachtet gegenüber seiner Ausbildung als Spieler und Instrumentalcomponist. Hierin nach einem Lehrer für ihn zu suchen, wäre verschwendete Mühe. Was bei jedem Genie die einzige Aufgabe des Lehrers sein kann, die spielenden und ziellos sich aufschwingenden Kräfte der frühesten Jugend mit ruhiger Hand eine Weile zusammenzuhalten, bis sie sich selbst fühlen gelernt haben, das ersetzte bei Sebastian die Herkunft und die Richtung des ganzen Geschlechts. Sie gab ihm ungefähr das, was dem ebenbürtigen Genius Mozarts durch den disciplinirenden Geist seines wackern Vaters zu Theil wurde. Der junge Baum wuchs so fast von selbst nach der Richtung auf, in welcher er sich am ungehindertsten ausbreiten konnte, und wie eine Pflanze sich instinctmäßig der Sonne zuwendet, so neigte er sich dorthin, woher er fühlte, daß ihm Licht und Förderung strömen könnte. Wenn die beste Quelle, welche wir [190] über Sebastians Leben besitzen, uns berichtet, daß er die Composition größtentheils nur durch das Betrachten der Werke der damaligen berühmten und gründlichen Componisten und durch eignes Nachsinnen erlernt habe, so dürfen wir nicht nur von der vollständigen Richtigkeit dieser Bemerkung überzeugt sein, sondern sie auch auf seine virtuose Ausbildung übertragen. Sein eminentes technisches Talent hatte, nachdem er einmal die Anfangsstufen überschritten hatte, nur nöthig die Leistungen bedeutender Künstler prüfend zu betrachten, um für sich daraus zu gewinnen, was er gebrauchen konnte. Der rastlose Fleiß des Genies, der, viel mehr eine Naturgewalt, als das Ergebniß sittlich-bewußter Forderung, unwiderstehlich vorwärts drängt, ließ ihn zur Lösung selbstgestellter Aufgaben sogar des Nachts nicht ruhen. Einzig von Bedeutung für seine Entwicklung ist es daher, die Persönlichkeiten und Kunstrichtungen zu erkennen, die möglicherweise oder nachweislich bestimmend auf ihn eingewirkt haben. Was in dieser Hinsicht Cantor und Organist der Michaeliskirche vermochten – ersterer hieß Augustus Braun, letzterer Christoph Morhardt19 – ist nicht einmal mehr vermuthungsweise zu sagen. Von Braun enthielt die Chorbibliothek 24 Kirchenstücke mit und ohne Instrumentalbegleitung; diese sind verloren, auch ließ sich über keinen von beiden ein zeitgenössisches Urtheil finden. Wie die Orgel der Michaeliskirche beschaffen war, ist gleichfalls nicht anzugeben. Besonders wird sie nicht gewesen sein, denn im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurde eine neue erbaut20. Der Organist Löw genoß allerdings den Ruf eines vielerfahrenen und gründlich geschulten Künstlers: er hatte sich in Italien und Wien gebildet, war auch ein Freund Heinr. Schützens, der ihn 1655 als Capell-Director nach Wolfenbüttel brachte21. Diesem Landsmanne wird sich Bach nicht fern gehalten haben, besonders wenn derselbe, wie wir vermutheten, zu Heinrich und Chri stoph Bach in Beziehungen gestanden hat, obwohl er ein [191] Greis war22, und schwerlich für die Regungen eines jungen Genies noch Verständniß hatte. Aber ich kenne keine Note seiner Composition, und kann mich über die ganz allgemeine Vermuthung einer künstlerischen Anregung nicht hinauswagen. Von deutlich erkennbarem und beträchtlichem Einflusse ist jedoch ein vierter Künstler gewesen, der Organist an der Johanniskirche, Georg Böhm; gleichfalls ein Landsmann Sebastians. Als seine Heimath wird Goldbach bei Gotha, als sein Geburtsjahr 1661 angegeben23; er war seit dem September 1698 im Amte und starb hier hochbetagt24; vorher hatte er sich in Hamburg aufgehalten. Dieser Mann mußte schon deshalb für Bach eine besondere Anziehungskraft haben, weil sein Bildungsgang als Orgelkünstler ein dem von Bach eben betretenen verwandter gewesen war. Böhm hatte das, was er als Thüringer im Orgelspiel lernen und leisten konnte, durch Anschluß an die norddeutschen Meister zu heben und zu erweitern versucht. Die kahle Nachricht von seinem Aufenthalte in Hamburg würde freilich zur Begründung dieses Ausspruches nicht hinreichen, wenn nicht dessen Wahrheit aus seinen Compositionen so klar hervorginge. Der Lüneburger Organist nimmt zwischen der mitteldeutschen Orgelkunst und der norddeutschen, wie sich beide um die Wende des Jahrhunderts gestaltet hatten, ungefähr dieselbe Mittelstellung ein, wie sein Aufenthaltsort zwischen den thüringischen Städten und Hamburg, Lübeck, Husum, Flensburg u.s.w., jenen Hauptplätzen der nordischen Meister, mitten inne liegt. Mehr als auf andre Theile Deutschlands hatte grade auf den Norden die Richtung des Niederländers Sweelinck durchgreifend eingewirkt, und ein Sproß desselben Landes, Johann Adam Reinken, geb. zu Deventer am 27. April 1623, gestorben als Organist an der Katharinenkirche zu Hamburg am 24. Nov. 172225, hatte durch bedeutendes Talent und ungewöhnlich langes Leben [192] diese Richtung nachdrücklichst verbreiten helfen. Ihr Kennzeichen ist technische Gewandtheit, geistreiche Anmuth und ein Gefallen an feinen Klangwirkungen. Gegenüber der plastischen Ruhe und sonnigen Heiterkeit des südlichen Orgelstils herrscht hier nicht selten formelles Zerfließen – kein Componist hat längere Choralbearbeitungen geschaffen, als Reinken, Lübeck und Buxtehude – und phantastische Romantik, und dieser Gegensatz bleibt auch gegenüber dem mitteldeutschen Stile zum guten Theil bestehen, als dieser die Erbschaft des Südens angetreten hatte. Die Gefahr, in geistreichen Aeußerlichkeiten ihre Kraft zu verschwenden, lag dieser Schule nahe, aber ihre Eigenthümlichkeiten konnten zu einem kostbaren Schmucke werden, wenn ein tiefsinniger Künstler sich ihrer bemächtigte. Ein solcher war Böhm; und ein großes musikalisches Talent war er ebenfalls. Wäre seine Lebenszeit so gefallen, daß ihm die durchgreifende Umgestaltung hätte zu gute kommen können, welche Pachelbels Erscheinen in Thüringen hervorrief, so würden seine Leistungen vielleicht alle die seiner Zeitgenossen überragen. So aber war zu einer Verschmelzung der verschiedenen Kunstrichtungen, zu einem centralen Zusammenfassen aller in der Orgelkunst wirksam gewesenen Kräfte erst derjenige berufen, der wißbegierig und strebkräftig nunmehr dem gereiften Meister sich anschloß. Derselbe scheint überhaupt zu dem Chore der Michaelisschule in einem freundschaftlichen Verhältnisse gestanden zu haben, wie wir denn wissen, daß einmal im Anfange des Jahres 1705 der Präfect des Michaelischores mit einigen Mitgliedern des Johannischores bei ihm gewesen, »und daselbst von der Musik viele Raisonnements gehabt« hatte26. Oder war etwa diese Verbindung erst durch Sebastian Bach hergestellt, dem muthmaßlichen Präfecten bis 1703?

Böhm hatte von Reinken gelernt, und es lag in Sebastians ursprünglicher Natur, selbst an den Quellen zu schöpfen. Hamburg war nicht allzuweit entfernt, auch ist es wahrscheinlich, daß grade um diese Zeit sein Vetter, Johann Ernst Bach, der Sohn seines Vaterbruders, des Arnstädter Johann Christoph Bach, sich seiner künstlerischen Ausbildung halber in Hamburg aufgehalten hat27. Eine [193] Ferienwanderung dorthin konnte sich also schon aus verwandtschaftlichen Rücksichten empfehlen, und da es galt, Reinken spielen zu hören und vielleicht persönlich kennen zu lernen, mußte sie sich Sebastian alsbald als Nothwendigkeit darstellen. Trifft die Vermuthung zu, daß der um zwei Jahre ältere Vetter ihm in Hamburg zuerst die Wege gewiesen habe, so deutet die Freigebigkeit, mit der er in Arnstadt dem nothleidenden Johann Ernst einen Theil seines Gehaltes abtrat, und zu einer Zeit, wo er selbst besonders des Geldes bedurfte, auf einen seinem Charakter eignen Zug. Er besaß sowohl den dankbaren Sinn, der erwiesene Hülfe nicht leichtsinnig vergaß, als den Stolz der selbständigen Persönlichkeit, der ihre Verpflichtungen abzutragen ein befreiender Genuß ist. Ganz so benahm er sich auch seinem ältern Bruder gegenüber. Nachdem die Bekanntschaft von Hamburg einmal gemacht war, wiederholten sich dann wohl solche Ausflüge, die natürlich immer zu Fuß unternommen wurden und mit den allerbescheidensten Subsistenzansprüchen; an einfachste Lebensweise war er ja von Haus aus gewöhnt28.

Reinkens Compositionen sind jetzt sehr spärlich und selten geworden. Das Einzige, was er veröffentlichte, ist ein Suitenwerk für zwei Violinen, Viola und Continuo, Hortus musicus genannt, was hier nicht weiter in Frage kommt29. Von seinen Orgel- und Clavierwerken waren nur noch fünf Stücke im ganzen aufzubringen, von diesen aber ist es wahrscheinlich, daß sie in grader Linie aus Sebastian Bachs Musikalienschranke stammen, und somit auf das bündigste die Wahrheit der Bemerkung im Nekrolog darthuen, daß Bach sich neben einigen andern auch Reinken zum Muster genommen habe. Eine Choralbearbeitung von »Es ist gewißlich an der Zeit. (Was kann uns kommen an für Noth)«, für zwei Claviere und Pedal, G dur 1., zählt nicht weniger als 232 Takte. Jede einzelne Choralzeile [194] wird motettenartig reichlich durchgearbeitet, bald einfach, bald mit reichen Verzierungen ausgeschmückt; die freien Zwischenspiele aber sind nur kärglich. Die Composition hat viel Fluß; Taktwechsel, sonst von diesen Meistern bei solchen Aufgaben gern angewendet, sind hier verschmäht, in meisterlicher und klanglich reizender Weise kreuzen sich die beiden Claviere30. Auf 335 Takte gar hat es der Orgelchoral »An Wasserflüssen Babylon« gebracht (F dur 1.), welcher durch Bachs spätere Lebensgeschichte zu einer gewissen Berühmtheit gekommen ist, dieselbe aber auch an sich vollständig verdient. Die Anlage ist gleich, auch der Charakter; gern wird der einzelnen Zeile ein bestimmtes Thema zur Contrapunctirung gegenüber gestellt, jedoch ohne daß hieraus ein Princip für die Behandlung aller Zeilen erwüchse. Mehr kam es den nordländischen Orgelkünstlern auf Entfaltung großen Combinations – und Figurenreichthums in möglichst weitem Rahmen an, und darauf gründet sich die ihren Orgelchorälen eigne Gestalt31. Sehr bemerkenswerth ist ferner eine Toccata, G dur 1.. Für das große selbständige Orgelstück hatten sich die Meister jener Gegenden ebenfalls eine Specialform herausgebildet: sie begannen mit einem gangreichen, glänzenden Praeludium, brachten nach dessen Abschlusse eine Fuge, schoben dann wieder ein gangartiges Intermezzo ein, und benutzten endlich das erste, aber nunmehr rhythmisch und melodisch umgebildete Thema zu einer neuen Fuge, die das Ganze abschloß, und zuweilen noch etwas brillantes Laufwerk als Anhang erhielt. Reinkens Toccate ist genau in dieser Form gehalten, und von besonderem Interesse noch deshalb, weil wir auch von Bach eine streng nach diesem Muster gebildete Arbeit besitzen, die später mit gleichgearteten Werken Buxtehudes noch näher betrachtet werden soll. Daß alle jene Meister in Erfindung von Fugenthemen gewöhnlich nicht sehr glücklich waren, mag aber schon hier gesagt sein. Ihre Gedanken treten allerdings äußerlich freier heraus, als die der südländischen Fugisten, sind aber nicht melodisch, nicht sprechend, nicht wohlgestaltet genug. Der [195] Grund ist ohne Frage der, daß diese Componistenschule sich nur einseitig und nicht tief eindringend mit dem Choral beschäftigte, so erschloß sich ihr nicht das volle Wesen echter Melodik, und statt charakteristischer Kerngestalten bietet sie oft nur virtuoses Wuchergewächs. Wie sich höchster virtuoser Glanz mit herrlichstem melodischen Schwunge vereinigen lasse, wußte man damals noch nicht; Sebastian Bach war berufen es zu zeigen. Im übrigen gilt von der Reinkenschen Toccate alles was oben im allgemeinen gesagt wurde: sie ist nirgends großartig, aber voll Anmuth und Behendigkeit, besonders in ihrer zweiten Hälfte. Ein gleiches muß man den beiden erhaltenen Variationenwerken des Meisters zugestehen, die den früher erwähnten Veränderungen Joh. Christoph Bachs an Beweglichkeit und figurativem Reichthum überlegen sind, an Geist ihnen gleich kommen und ein sehr beträchtliches Maß technischer Geläufigkeit voraussetzen32. Dem einen ist eine scherzhafte Arie zu Grunde gelegt: »Schweiget mir vom Weibernehmen« (altrimenti chiamata: La Meyerin, wie in der Handschrift dabei steht), es zählt achtzehn Partiten33; das andre Mal sind über ein »Ballet« zehn Variationen gesetzt. Dies erinnert uns daran, daß um jene Zeit in Hamburg das deutsche Opernwesen in Blüthe stand, und daß der leichtlebige Reinken mit zu denen gehört hatte, welche im Jahre 1678 jenes Unternehmen in Gang brachten34. Was aber um wenige Zeit nachher für Händel der geeignetste Platz zur Entfaltung seiner grundverschiedenen Anlagen werden sollte, daran ging zuverlässig Bach unberührt vorüber. Händel war von 1703 bis 1706 in Hamburg, Bach im Jahre 1703 vielleicht zum letzten Besuche dort; beide großen Geister sind hier so nahe an einander hergestreift, wie in ihrer ganzen weitern Entwicklung nicht wieder. Auch Reinkens [196] ganze Persönlichkeit konnte Bach nicht anmuthen, wenn überhaupt derselbe bei einem so großen Altersunterschied hätte anders zu ihm stehen können, als ein jünglingshafter Bewunderer. Doch darüber später mehr, wenn wir Bach nach zwanzig Jahren auf der Höhe seiner Künstlerschaft zum letzten Male mit dem fast hundertjährigen Reinken werden zusammentreffen sehen. Uebrigens war dieser es nicht allein, von dem er in Hamburg lernen konnte; seit 1702 wirkte als Organist an der Nikolai-Kirche Vincentius Lübeck (geb. 1654), vorher in Stade, welcher der Reinkenschen Richtung ebenfalls angehörte, und ein vorzüglicher Meister seines Fachs war. Wenn die Quelle, welche uns die oben genannte Reinkensche Choralbearbeitung spendete, auch solche von Lübeck enthält (»Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«, für zwei Claviere und Pedal, Emoll, 275 Takte; »Nun laßt uns Gott dem Herren«, gleichfalls für zwei Claviere und Pedal; ferner ein großes Praeludium mit Fuge, Dmoll, 174 Takte, besonders im Praeludium mit Entfaltung großartiger Virtuosität)35, so darf uns das ein Wink sein, Bach habe auch diese Gelegenheit, seine Kenntnisse und Fertigkeiten zu vergrößern, nicht vorübergehen lassen.

Der Bericht des Nekrologs, daß Bach außer den hauptsächlichsten norddeutschen Orgelkünstlern sich einige hervorragende französische Orgelcomponisten zum Muster genommen habe36, wird es entschuldigen, wenn wir anstatt sofort zu Böhm nach Lüneburg zurückzukehren, unserm rüstig wandernden Sebastian erst noch zu einer andern Kunststätte folgen, die er gleichfalls von Lüneburg aus wiederholt aufsuchte. Am herzoglichen Hofe zu Celle blühte schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die instrumentale Tanzmusik der Franzosen, und es wurde Gewicht darauf gelegt, daß die Mitglieder der Capelle möglichst vollzählig für diese Art der Musik zu verwenden wären37. Nicht minder setzte sich ohne Zweifel die französische [197] Claviermusik dort fest, die damals noch vor der deutschen viele Vorzüge hatte und in ihrer Eleganz und Zierlichkeit stets musterhaft gewesen ist. Einer von den wenigen bedeutenden Musikern, die in den vierziger und funfziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Deutschland geboren wurden, stammte aus Celle: Nikolaus Adam Strungk (geb. 1640), hervorragend als Componist, Violin- und Orgelmeister, der am dortigen Hofe im Jahre 1661 mit 220 Thalern Gehalt angestellt war, 1678–1683 in Hamburg Opern dirigirte und componirte, dann verschiedene Capellmeisterstellen, zuletzt in Dresden, bekleidete und 1700 in Leipzig starb38. Besäßen wir noch eine genaue Kenntniß von den musikkundigen Persönlichkeiten Celles zwischen den Jahren 1700 und 1703, so würde es sich wohl herausstellen, daß Bach irgendwelche persönlichen Beziehungen dorthin hatte, welche ihm einen vorübergehenden Aufenthalt zu einem nutzenbringenden machen konnten. Denn wenn erzählt wird, daß er durch öftere Anhörung der damals berühmten Cellenser Capelle Gelegenheit gehabt habe, sich mit dem französischen Geschmacke vertraut zu machen39, so ist dies nur dann möglich gewesen, wenn ihm durch einen Bekannten der Zutritt zu den Uebungen der Capelle gebahnt wurde, da dieselbe ja öffentlich nicht spielte. Der einzige Name aber, welcher vorgebracht werden kann, ist derjenige des damaligen Stadtorganisten, Arnold Melchior Brunckhorsts, von dessen musikalischen Leistungen und Beziehungen zur Kunstwelt nichts in Erfahrung zu bringen war. Die Annahme liegt nahe, daß es die erste Gelegenheit für Bach war, französische Musik gründlicher kennen zu lernen, und daß sich seine[198] Wißbegierde vorzugsweise auf die Claviermusik erstreckt haben wird, ist sowohl in seiner damaligen Richtung, wie in der Beschaffenheit der französischen Orchestermusik jener Zeit begründet. Auf diese Anregung wird also zum großen Theile das Interesse zurückzuführen sein, welches er den französischen Claviercomponisten thatsächlich entgegengebracht hat. Eine Suite in A dur von N. Grigny, welcher um 1700 Organist an der Kathedralkirche zu Reims war, und eine gleiche Composition in F moll von Dieupart schrieb er sich eigenhändig ab40. In Sammelwerken, welche sich späterhin Bachs Schüler zusammentrugen, finden sich neben zahlreichen Werken ihres Meisters die Arbeiten eines Marchand, Nivers, Anglebert, Dieupart, Clairembault und Anderer als Beweis, daß Bach sie auf solche Sachen hinwies. Auch mit den Compositionen des bedeutendsten unter jenen Künstlern, François Couperins, ist er wohl vertraut gewesen41. Nicht zu übersehen ist aber, daß auch Böhm sich von dem Einflusse der Franzosen mehr als oberflächlich berührt zeigt, wie besonders aus dessen Vorliebe für reichliche Verzierungen und Umkräuselungen eines melodischen Ganges hervorgeht. Mag er nun auch nicht grade Bachs Neigung zur Bekanntschaft mit der französischen Musik erweckt haben, so hat er sie doch jedenfalls bestärkt. Eine directe Einwirkung jenes fremdländischen Stils auf Bachs Compositionsweise läßt sich nicht mehr nachweisen, vielleicht nur weil die betreffenden Compositionen nicht erhalten blieben, denn die sogenannten »französischen« Suiten, Werke aus Bachs reifer Meisterzeit, tragen, in diesem Sinne verstanden, ihren Namen mit Unrecht. Vielleicht aber, und dies ist das wahrscheinlichere, war die Verschmelzung, [199] welche das deutsche Wesen mit dem französischen Stile überhaupt eingehen konnte, in Böhms Künstlerpersönlichkeit im wesentlichen schon vollzogen, so daß Bach die französischen Elemente vorzugsweise nur durch dessen Vermittlung in sich aufgenommen haben wird.

Um nunmehr Bachs Verhältniß zu Böhm im Besonderen würdigen zu können, ist es nothwendig, dessen Kunstthätigkeit und Stil an einzelnen Compositionen klar zu machen. Was ich von diesen allmählig gesammelt habe, besteht, abgesehen von einer vierstimmigen Arie (»Jesu, theure Gnadensonne«, ein Neujahrsgesang, zuverlässig für den currenten Chor der Johannisschule geschrieben), in drei Claviersuiten, einer Ouverture (und Suite), einem Praeludium mit Fuge, beide gleichfalls für Clavier, und achtzehn Choralarbeiten, von denen eine große Anzahl Partitenwerke sind. Es genügt dies, sich von seiner Schreibweise ein leidliches Bild zu machen, wie sehr auch zu bedauern ist, daß von einem so besondern und vortrefflichen Componisten nicht mehr erhalten wurde. Seine Stärke liegt mehr auf der Seite des claviermäßigen als des Orgelstils, was nach dem bedeutenden Einflusse, den nicht nur die norddeutschen Meister, sondern auch die französischen Componisten auf ihn gewannen, unschwer zu begreifen ist. Dies gilt nun auch von seinen Choralbehandlungen, mag er sie auch alle, oder wenigstens größtentheils für die Orgel gleichfalls bestimmt und auf ihr vorgetragen haben. Die Gränzen beider Instrumente erschienen auch den Componisten am Ausgang des 17. Jahrhunderts noch ziemlich flüssig. Bei der untrennbaren Wechselwirkung, in welcher Form und Inhalt eines Kunstwerks stehen, wird dadurch Böhms Chorälen eine ungleich geringere Idealität zugemessen, eine viel niedrigere Flughöhe, als denen Pachelbels. Dieser Meister stellte sich die Aufgabe, den Choral und dessen volle Bedeutung für den protestantischen Cultus in seiner Beziehung zum subjectiven Empfinden des Einzelnen künstlerisch darzustellen; Böhms Streben ist, aus dem Chorale und auf dessen Grunde anmuthige, wechselvolle Tongestalten zu entwickeln, an welche höchstens das allgemeine Grundgefühl des Chorals appercipirt werden soll. Daß er Pachelbels Weise sehr wohl gekannt und auch für sich genutzt hat, geht aus seinen Werken ziemlich klar hervor, aber in dessen Bahnen lenkte er nicht ein, dazu war er ein zu [200] eigenthümlicher Geist. Die Melodie »Vater unser im Himmelreich« beginnt er einmal ganz so zu bearbeiten, wie man es von Pachelbel gewohnt ist: die erste Zeile wird fugirt, und tritt dann abschließend und bedeutsam vollständig im Pedal auf, freilich nicht mit verdoppelten Notenwerthen, aber doch genügend hervorgehoben. Aber schon bei der zweiten Zeile kommt der eigentliche Böhm zu Tage: sie erscheint als Thema für die Fugirung nicht in ihrem einfachen Gange:


1.

sondern durch Einknickung, verbindende Sechzehntel, punktirte Bewegung und Verzierungen umgebildet:


1.

Im Verlauf gewinnt nun diese Spielfreude immer mehr die Oberhand und führt von der anfänglichen Anlage immer weiter ab; die Choralzeilen, welche als Endzweck und Krone einer jeden einzelnen Durcharbeitung erscheinen sollten, werden immer mehr zurückgedrängt, und schlendern zuletzt ziemlich unbetheiligt im Pedal nebenher, ja bei der vorletzten Zeile wird der Choral selbst von der allgemeinen Bewegung erfaßt, und muß sich gefallen lassen, um sechs Tonschritte erweitert zu werden. So entsteht ein buntes, phantastisch unruhiges Bild, das eigentlich weder als Orgelstück noch als Choralbearbeitung volle Berechtigung hat, aber doch durch seinen Geist und sein eignes, echt musikalisches Leben, die Gewandtheit und Eleganz der Stimmverschlingung entschieden anzieht. Ein andres Mal ergreift Böhm die Melodie »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, stellt der ersten Zeile ein schön gesungenes Contrasubject gegenüber, und verarbeitet beide zu einer ganz meisterlichen Doppelfuge. Man denkt nun, entweder hat es hierbei sein Bewenden, oder es wird nach Pachelbels Weise der vollständige Choral in glänzender Durchführung das Werk krönen. Keins von beiden geschieht. An die Fuge schließt sich in ganz einfacher Gestaltung die zweite Zeile an, dann wird von Anfang an repetirt, als ob es die schmucklose Melodie wäre, und der Rest derselben ebenfalls einfach durchgeführt. [201] Eine Statue, die an Kopf und Armen herausgemeißelt, übrigens aber im Blocke sitzen geblieben ist! In der Aufstellung eines Gegenthemas zur Choralzeile reicht aber Böhm Buxtehude die Hand, und steht mit dieser Bearbeitung also recht zwischen beiden Meistern; über ihnen, kann man aus genannten Gründen nicht sagen. Buxtehude, an tiefer Erfassung des Chorals und an ruhiger Schönheit Pachelbel weit nachstehend, überragt diesen jedoch an geistreicher Combination und einer oft berückenden Harmonik. Es liegt ein Böhmsches Choralstück über »Christ lag in Todesbanden« vor, welches so vollständig Buxtehudescher Factur ist, daß man behaupten möchte, es sei wirklich letzterem zuzuschreiben, wenn nicht die Versatilität des Böhmschen Geistes dagegen in die Wagschale fiele42. Das Wesen dieser Factur beruht in der schon mehr genannten motettenartigen Durcharbeitung der einzelnen Choralzeilen, wobei aber Buxtehude Taktwechsel, rhythmische Umbildungen des Themas und selbständige Contrasubjecte besonders liebt. Mehr wird an seiner Stelle darüber zu sagen sein. Die merkwürdigste Mischung von eignen und fremden Bestandtheilen findet sich in Böhms Behandlung von »Nun bitten wir den heilgen Geist«, in der sowohl Pachelbels als Buxtehudes als Böhms eigne Manier neben einander auftreten. Diese Manier, in der er nun auch ganze Orgelchoräle geschrieben hat und sein eignes Wesen am freisten entfalten zu können glaubte, besteht aber darin, daß jede einzelne Zeile nicht polyphon durchgeführt, sondern durch Zerlegung in ihre einzelnen melodischen Hauptmomente, und durch Wiederholung, Versetzung, Umspielung, mannigfache Verknüpfung derselben thematisch erschöpft wird. Hier konnte ein feiner Kopf seine ganze Erfindsamkeit zeigen im Verändern und Umbilden eines musikalischen Gedankens, in behender Umspielung und anmuthvoller Auszierung, er war auch nicht, wie bei der Variation, an die harmonischen und rhythmischen Verhältnisse des Themas gebunden, sondern er schuf ganz neue Maße [202] und Perioden, bildete gradezu ganz eigne Tonstücke und hatte überdies auch Gelegenheit zu contrapunctischen Vertiefungen. Es dürfte das erste Mal sein, daß in der Instrumentalmusik die thematisch-motivische Entwicklung des melodischen Stoffs, die in der Beethovenschen Kunstperiode eine so große Rolle spielt, als gestaltendes Princip für größere Tongebilde auftritt; in der Motette waren allerdings, wie früher gezeigt worden ist, schon ähnliche Umgestaltungen mit dem Choral vorgenommen worden, die aber gemäß der Verschiedenheit des Materials doch ein ganz andres Aussehen gewinnen mußten. Wie man von Pachelbelschen und Buxtehudeschen Choral-Typen reden kann, darf man auch einen Böhmschen Typus aufstellen. Böhm muß, wenn auch nicht als Erfinder des Princips (denn die Kunst, aus dem einen musikalischen Gedanken einen zweiten zu erzeugen, übte schon der Italiäner Frescobaldi), so doch als derjenige gelten, der es zuerst auf den Choral anwendete, er hat in Wahrheit eine neue Kunstform geschaffen, und diese That, deren nur ein wirkliches Talent fähig ist, sichert ihm seinen Platz in der Kunstgeschichte. Er hat aber auch diese Form mit reicher und feinsinniger Erfindungskraft zu handhaben gewußt. So macht er in seinen sechs Partiten über »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« in der ersten derselben aus der Anfangszeile folgendes Gebilde:


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1.

[203] in der dritten gestaltet sich der Eingang so:


1.

1.

die folgende Zeile erscheint colorirt, die Gänge schwingen sich von / bis 1. hinauf und hinab, höchst graziös, aber in losgebundener Spielfreudigkeit; die dritte Zeile ist dann wieder der ersten parallel gestaltet, wenn auch mit ganz verschiedener Erweiterung, und die vierte rollt in lebhafter, nur einmal in der Mitte zum Stehen kommender Coloratur dem Ende zu. Die Harmonie bleibt durchweg einfach wie zur ersten Zeile. Und noch eine andre Manier verbindet Böhm so häufig mit dieser Behandlungsweise, daß man darin einen Ausdruck seiner besondern Eigenthümlichkeit erkennen und sie die seinige nennen kann. Er bildet eine gangartige, etwa zwei- bis dreitaktige Tonreihe, mit der er, gewöhnlich im Basse, das Stück einleitet, die er dann ganz oder stückweise zwischen den Zeilen thunlichst oft wiederholt, auch als Contrapunct zu denselben gebraucht und am Schluß noch einmal solo ablaufen läßt. Ein solcherBasso [204] quasi ostinato aus einer andern Bearbeitung von »Vater unser im Himmelreich« möge, hier das Verfahren erläuternd und spätere Behauptungen begründend, mitgetheilt werden:


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auf ihn folgen die drei ersten Töne der Melodie, nach Böhms Weise mit Zierrathen verbrämt, dann tritt der Bass wiederum allein auf, und nun erst beginnt die vollständige Durchführung, in die sich, wo es angeht, motivische Stückchen von ihm einschieben; unter dem ausgehaltenen Endtone der Melodie spaziert er nochmals einher und macht gleichsam die Thüre zu. Man wird bei diesem Verfahren zuweilen so lebhaft an gewisse Tutti-Sätze der italiänischen Instrumental-Concerte erinnert, daß es zweifelhaft ist, ob nicht eine bewußte Nachahmung stattgefunden habe. Einmal liegt der Tongang auch in den Oberstimmen, die Melodie »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« ist in den Tenor gesetzt und wird, motivisch ausgesponnen, auf dem Oberwerk von der linken Hand allein vorgetragen, eine Arbeit, die nur von einem höchst geistreichen Kopfe erfunden werden konnte! Was er bei dieser Richtung in der Choralvariation geleistet hat, kann man sich leicht vorstellen; in der That ist hier seine Phantasie unerschöpflich in stets neuen Umkleidungen der Melodie. Er hat sich ihr auch mit Vorliebe zugewendet; freilich sinkt da der Choral auf die Stufe jedes beliebigen weltlichen Liedes herab. Wie er immer mehr ans Cembalo als an die Orgel dachte, zeigt auch die Vollgriffigkeit, mit der er jene einfachen Choräle harmonisirt, die seine Partiten einzuleiten pflegen, so daß die Stimmführung ganz unkenntlich wird und nur fünf-, sechs-, siebenstimmige Accorde sich aneinander reihen. Viel mehr nun noch, als für die Choralbehandlung, konnte Böhm sich für die freie Claviermusik die Leistungen der Franzosen zu Nutze machen. Wirklich hat er sich ihre ganze Zierlichkeit angeeignet, ohne in die französische Schnörkelsucht und Coquetterie zu verfallen; manchmal streift er allerdings an diesen Fehlern her. Andrerseits[205] überragt er wieder jene Claviermeister um Haupteslänge an harmonischem Reichthum und ausdrucksvollen Gedanken. Seine Suiten (Es dur, C moll, A moll, D dur) sind ohne Besinnen die besten, welche mir aus der Periode vor Sebastian Bach bekannt sind. Einer derselben (D dur) geht eine Ouverture vorauf in französischer Form, und wäre die Ueberlieferung gegründet, daß Pachelbel dieselbe zuerst aufs Clavier übertragen, so hätte man Böhm hierin als seinen Nachfolger anzusehen. Aber fast sollte man bei der viel geringern Beziehung, in der Pachelbel zu den Franzosen stand, das Umgekehrte vermuthen. Sicher ist, daß das Clavier viel mehr Böhms, die Orgel Pachelbels Provinz war, und wenn letzterer den ersteren im Choral weit hinter sich zurückläßt, so hat wohl kaum der Nürnberger Meister je ein Stück geschrieben, was dem G moll-Praeludium nebst Fuge des Lüneburgers sich vergleichen könnte. Wir haben die Erwähnung dieser Composition bis ans Ende verschoben, weil hier Böhms Originalität am reinsten und überzeugendsten hervortritt. Zuerst eine Form des Ganzen, die von allem, was wir kennen, völlig abweichend aber doch mit voller künstlerischer Berechtigung nur aus dem musikalischen Inhalt selbst hervorwächst: ein Praeludium im 3/2 Takt mit auf- und abwandelnden arpeggirten Accorden, nach kurzem Uebergangs-Adagio eine weit ausgesponnene Fuge, endlich wiederum ein harfenartig lispelnder ganz freier Schlußsatz, dessen Sechzehntelbewegung am Ende zum Adagio sich beruhigt. Dann eine Stimmung, so tief, so eigen melancholisch, ein Träumen und Schwelgen in herb-süßen Harmonien, zu dem nur ein deutsches Gemüth fähig ist, und doch wieder eine Grazie, zumal in der Fuge, wie sie damals fast allein die Franzosen besaßen. In diesem wunderschönen Stücke, das hinreichen würde, seinen Componisten unter die bedeutendsten schaffenden Talente der Zeit zu setzen, keimt und knospt etwas, das durch Sebastian Bach und einzig durch ihn zur berauschend duftenden Blüthe sich öffnen sollte: jene fast nur harmonisch bewegten, selig und doch so wehmüthig auf- und niederwallenden Praeludien des wohltemperirten Claviers (C dur des ersten, Cis dur des zweiten Theils) und ähnliches haben in dem Anfangs- und Endstücke der Böhmschen Composition ihren Vorläufer, und, wenn auch nicht ihren einzigen, so doch meines Wissens ihren einzig ebenbürtigen. Bedeutsam ist es, daß der Weg, auf dem dieselbe [206] nebst den vier Suiten bis zur Gegenwart gelangt ist, direct auf das Haus Sebastian Bachs zurückführt43. Diese Suiten aber bilden zu den Bachschen, in welchen die leicht wiegenden französischen Bildchen zu Gestalten von ungeahnter Schönheit veredelt wurden, in gleicher Weise die Vorstufe. Manche Züge von sprechender Aehnlichkeit verrathen, wie hoch der große Meister sie schätzte, weniger vielleicht, weil sie ihm für die eignen Leistungen einen unentbehrlichen Stützpunkt geboten hätten, als weil er dem Landsmanne sich nach Wesen und Bildungsgang nahe verwandt fühlte. Als er die berührten Werke schuf, war er über die Anlehnung an andre lange hinaus, desto mehr aber muß er sich in bildungsbedürftigen Jugendjahren zu Böhm hingezogen gefühlt haben. Im späteren Lebensalter Bachs tritt die innre Gleichartigkeit beider auf dem Gebiete hervor, wo Böhm sein Höchstes leisten sollte, als Jüngling ahmte er ihn in einer Gattung nach, in welcher sein religiöser Tiefsinn den reifen Mann ganz andre Formen finden ließ, im Orgelchoral.

Es sind unter seinen Werken einige Choral-Partiten, die sich als frühe Versuche einem jeden einigermaßen Sachkundigen sofort verrathen. Man hat angenommen, sie seien in Arnstadt entstanden; mir ist es nicht im geringsten zweifelhaft, daß sie in Lüneburg, zum wenigsten unter Böhms unmittelbarem Einflusse componirt wurden. Zu Grunde liegt der einen Reihe die Melodie »Christ, der du bist der helle Tag«, der andern »O Gott, du frommer Gott«44. Hier ist in [207] der That eine Uebereinstimmung des Stiles vorhanden, die trotz der vielen nachweisbaren Einflüsse von andern Seiten in Bachs ganzer Entwicklung nicht wieder kommt. Man könnte, ohne eine Note von Böhm zu kennen, aus diesen Variationen den Choralstil desselben völlig kennen lernen, wenn nicht hier und da durch die Maske Sebastians glänzendes Auge hindurch blitzte, und bisweilen auch eine gewisse Unbehülflichkeit im Tragen derselben zu Tage käme. So dick und fast plump hat doch Böhm die Choral-Melodien nie harmonisirt, wie an einzelnen Stellen sein Nachahmer, der z.B. in der Anfangs-Zeile des ersteren Chorals die erste und fünfte Note, welche beide auf den leichtesten Takttheil fallen, mit einer massigen, sechstonigen Harmonie belastet, während dazwischen nur viertonige stehen. Dies und manches ähnliche wirkt unter allen Umständen schlecht und ist geschmacklos, mag man es sich auch auf dem Cembalo gespielt vorstellen. Aber im allgemeinen muß man staunen über die wunderbare Assimilationskraft, die sich in fremden und dem eignen Geiste innerlich widerstrebenden Formen mit einer Leichtigkeit bewegt, als seien sie selbstgeschaffene. Eine solche Erscheinung an einer Persönlichkeit, deren Individuelles später im denkbar größten Gegensatze zu seiner Zeit stand und wie in Fels gehauen uns anblickt, konnte nur in den frühesten Jugendjahren möglich sein. Wir haben aber durch sie einen Maßstab für die Weise, wie Bach sich bildete und alles bedeutsame, was ihm auf seinem Wege begegnete, ganz mit sich verschmolz. Diese Thätigkeit läßt sich an ihm nachweisen bis mindestens in die Mitte seiner zwanziger Jahre. Durch die voraufgeschickte Beschreibung der Böhmschen Behandlungsart ist der Leser in Stand gesetzt, selbst zu vergleichen. Sofort in der zweiten Partite der beiden Reihen wird er die treffendsten Parallelen finden für jene motivischen Ausspinnungen, als deren Erfinder Böhm anzusehen ist. Eine höchst bemerkenswerthe Thematik kommt bei den vier ersten Noten der vierten Zeile des ersten Chorals zu Tage


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welche durch sieben Takte in Beethovenscher Weise durchgeführt werden, und ähnlich auch in den andern Variationen. Wie ferner Böhm oft den Choral ganz schlicht beginnt, bald aber anfängt, ihn bunt zu umspielen, und dabei gern auf gewisse Grundfigurationen zurückkommt, wie er ihn dann nach [208] Manier der Claviervariation einmal ganz in laufendes Passagenwerk auflöst, wie er diese Zeile in der Oberstimme, jene in der Unterstimme durchzuführen und verschiedene Behandlungs-Principe zu mischen liebt, wie er nach Vorgang der nordischen Meister Taktwechsel einführt und durch Abwechslung der Manuale mit Klangwirkungen spielt, alles dies findet sich hier bei Bach, um seiner äußern Erscheinung nach in dessen reifern Werken fast bis auf die letzte Spur wieder zu verschwinden. Aber in welcher Weise diese Einflüsse innerlich wirksam blieben, kann ein Fall beweisen. Mit den übrigen Eigenthümlichkeiten Böhms hat sich Bach auch den oben gekennzeichneten Basso ostinato angeeignet; man sehe den Beginn der zweiten Partita über »O Gott, du frommer Gott«:


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worauf denn, beiläufig gesagt, genau wie in dem angeführten Chorale Böhms, nur erst die vier Anfangsnoten der Melodie ertönen, dann der Bass sich wiederholt und damit erst die volle Zeile eintritt. In keinem seiner spätern Meisterwerke stößt man wieder auf ein solches Gebilde. Aber man betrachte die großartige Arbeit über »Wir glauben all an einen Gott«, welche nahezu vierzig Jahre später im dritten Theile der Clavierübung erschien45, wo ein frei erfundener und mit der Melodie innerlich gar nicht zusammenhängender Bass sechsmal im Verlauf des Stückes nach den gehörigen Pausen wiederkehrt! Hier ist die höchste Entfaltung und Verklärung jener Kunstweise! Für die Stetigkeit in Bachs Entwicklung muß dies ein hochwerthes Zeugniß genannt werden. Er betrat keinen Pfad, den er späterhin als falsch erkennen und durch Umkehr hätte verlassen müssen. Nie streckte der junge Baum eine seiner Wurzeln in taubes Geröll oder auf harten Fels. Die Kräfte, welche er von allen Seiten einsog, durchdrangen ihn belebend, so lange als er schuf. Wie gesagt, ist jedoch nicht alles in diesen Partiten auf bloße Nachahmung zurückzuführen. Mehr als einmal fühlt sich der Spielende von jenem eigentlich [209] Bachschen Geiste berührt, dessen Intensität und Farbe niemandem wieder unkenntlich wird, der sie einmal wirklich empfunden hat. Solche Stellen lassen sich leichter durch den unmittelbaren Eindruck nachweisen, aber mit Worten nur umständlich kennzeichnen; doch sei, um nicht ganz im Allgemeinen zu bleiben, auf die letzte Partita der ersten Reihe aufmerksam gemacht, und die achte der zweiten mit ihrem geistvoll durchgeführten chromatischen Motive. Ueberhaupt, trotz aller Anlehnung an ein fremdes Vorbild, sind diese Choralvariationen das Zeugniß eines ganz außerordentlichen Talents. Stücke eines sechzehn- bis siebenzehnjährigen Jünglings, und wie viel natürliche Schönheit, Freiheit der Stimmenverschlingung, ja selbst Meisterschaft! Keine Spur von schwankendem, tastendem Anfängerthum; mit instinctiver Sicherheit wandelt er seinen Weg, und wenn hier und da eine Einzelheit befremdet, das Ganze zeigt den geborenen Künstler.

Das Claviermäßige, was die Partiten an sich haben, läßt das Fehlen eines obligaten Pedales, ja des Pedales überhaupt nicht merkwürdig erscheinen. Zur letzten Partite von »Christ, der du bist der helle Tag« findet sich allerdings eine Pedalstimme zum beliebigen Gebrauche verzeichnet, welche aber die Schönheit des Stücks beeinträchtigt, wenigstens wenn man es so auf der Orgel spielen wollte. Das Pedal eines Cembalo hatte weniger Klangdauer und würde hier die nachschlagenden Sechzehntel der linken Hand nicht so sehr verdecken. In der That findet es sich in einer Reihe von Bachschen Compositionen, daß in vereinzelter Weise das Pedal zur Hülfe herbeigezogen wird, während sie im ganzen nur manualiter auszuführen sind. Dies Verfahren deutet überall auf eine frühe Entstehungszeit, denn auf der Höhe seiner Entwicklung gestattete sich Bach keine solche Inconsequenz mehr. Doch werden wir weiterhin feinere Unterschiede dieses Merkmals feststellen können. Hier soll es nur dazu dienen, noch eine andere Arbeit Bachs heranzuziehen, die ebenfalls durch und durch von Böhmscher Anlage ist und zu gleicher Zeit mit den Partiten entstanden sein wird. Es ist der Orgelchoral »Christ lag in Todesbanden«, für zwei Manuale gesetzt46. Wieder fängt die linke Hand allein mit einem der oft erwähnten [210] Bassgänge an, die Melodie wird dann auf dem Haupt-Manuale mit kräftigern Registern gespielt, in den ersten vier Zeilen fast überreich verziert und motivisch weiter gesponnen. Zu den ersten beiden Zeilen bietet der einleitende Bassgang den Stoff für Zwischenspiele und Contrapuncte, für die folgenden zwei wird die Harmonie frei und das jedesmalige Zwischenspiel nach Pachelbels Weise gebildet, die Sache macht sich dann immer ungebundener und phantastischer, ganz wie Böhm es liebt, zeitweilig springt die Sechzehntel-Bewegung in Achtel-Triolen um, dann wird auf beiden Manualen motivisch hin-und hergespielt, man weiß nicht mehr, ob der Satz zwei-, drei- oder vierstimmig ist, die letzte Zeile endlich tritt, dreimal in verschiedenen Lagen ertönend, wieder in ruhigen Choral-Noten auf. Der relative Werth dieser, 77 Takte zählenden Composition ist erheblich geringer, als derjenige der Partiten, wo schon die Variationenform ein ganz ungebundenes Ausschweifen verbot, das doch mit dem Wesen des Chorals in allzustarkem Widerspruch steht, mögen auch Böhm und Bach selbst darin noch so viel Geist gezeigt haben. Größer ist ihr rein technisches Interesse, sowohl wegen der darin herrschenden ungewöhnlichen Gewandtheit und Leichtigkeit, als wegen des Maßes von Spielfertigkeit, das sie voraussetzt. Das Pedal tritt nur in den sieben letzten Takten auf, zuerst die letzte Melodiezeile bringend, dann einige Grundnoten haltend; es liegt auf der Hand, daß damit eine besondere Schlußwirkung erzielt werden soll. Uebrigens läßt sich aus einer Note ziemlich sicher erkennen, daß die Composition für Cembalo und nicht für wirkliche Orgel gedacht ist. Im Endtakte schlägt auf dem letzten Viertel die rechte Hand über die linke und erfaßt das große E, obwohl das Pedal denselben Ton durch den ganzen Takt aushält. Auf der Orgel wäre dies ein ganz zweckloses Bemühen, der Ton des Cembalo-Pedals aber war beim letzten Viertel schon verklungen und es empfahl sich, den Schlußaccord noch einmal recht gründlich zu stützen, was so durch die rechte Hand geschieht. Gemeiniglich wird man sonst Orgelpunkte auf diesem Instrumente durch häufiges Wiederanschlagen des Tones herzustellen gesucht, und sich überhaupt mit einer bescheidnen Andeutung der Intention begnügt haben, da es doch nur ein Nothbehelf anstatt des Orgelpedals sein sollte. Müssen doch auch wir bei Behandlung des Pianoforte so vieles hinzudenken, was ganz [211] außerhalb seines Darstellungsvermögens liegt! Die gezogene Folgerung aber paßt wieder für Lüneburg als Entstehungsort der Choralbearbeitung; hier hatte Bach noch keine Orgel zu eigner unbehinderter Verfügung, und wenn er seine Productionen ohne Umstände und vollständig selbst hören und ausführen wollte, so mußte er für Cembalo oder Clavichord componiren.

Man wird es wohl begreiflich finden, daß er zwischen Orgel und Cembalo als Vermittlern seiner musikalischen Gedanken noch keinen sonderlichen Unterschied machte. Nun haben ja allerdings beide Instrumente manches gemeinsame, aber wo es sich um die Darstellung langsamer gebundener Tonreihen handelt, bleibt das Cembalo zurück; wiederum bei mehrmaligem Wiederholen ein und desselben Accordes wird dem strömenden und keine Unterbrechung duldenden Orgelcharakter Gewalt angethan. Das letztere wenigstens hat Bach nicht immer berücksichtigt, und hierin war Böhm kein gutes Vorbild. Denn mochte man damals auch keineswegs scrupulös sein in Unterscheidung der verschiedenen Stilarten, eine gewisse Gränze gab es doch, über die aber Böhm sorglos hinwegschritt. Es giebt noch eine dritte Bearbeitung des Chorals »Vater unser im Himmelreich« von seiner Hand, die man ohne weiteres für ein Clavierstück halten müßte, wenn nicht ausdrücklich dabeistände: »Rückpositiv. Oberwerk piano. Pedal forte.« Die melodieführende Stimme ist mit Verzierungen überladen, die Begleitung schlägt meistens denselben Accord mehre Male hinter einander an, ist nur sehr selten gebunden, und ergeht sich vorzugsweise gern in dieser rhythmischen Figur: 1.; das Pedal fängt probeweise folgendermaßen an: 1.. Hierzu hat Bach ein Seitenstück geliefert, was seiner ganzen Haltung nach nur dem Einflusse Böhms sein Dasein verdanken kann, und zu merkwürdig ist, als daß wir nicht wenigstens den Anfang hier einrücken sollten.


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1.

[212] So stilwidrig dies ist, so läßt sich dennoch eine bedeutende harmonische Kraft und tiefsinniges Eingehen auf den Inhalt des Liedes (man beachte zumal Takt 6) nicht verkennen, und in dieser Weise ist das ganze Stück gehalten, wenn es auch an einigen harmonischen Härten nicht fehlt47.

Daß zu so nahen inneren Beziehungen zwischen dem gereiften und dem aufstrebenden Künstler sich auch freundschaftliche äußere gesellten, ist wohl ziemlich selbstverständlich. Dadurch ist denn auch die Vermuthung gerechtfertigt, daß Böhm dem Bach die Benutzung der Johannis-Orgel nicht vorenthielt, und möglicherweise hat er auf ihr seine jungen Kräfte häufiger geübt, als in der Michaeliskirche. Leider scheint sie noch schlechter gewesen zu sein, als jene, da schon im Jahre 1705 an ihre Stelle eine neue trat48. So begann bereits in Lüneburg das Mißgeschick, welches den größten deutschen Orgelmeister durch sein Leben verfolgt hat, sich gewöhnlich mit kleinen oder schlechten Orgeln behelfen zu müssen und niemals ein recht ausgezeichnetes Werk dauernd zur Verfügung zu haben. Hiermit ist denn über den musikalischen Kern von Bachs dreijährigem Aufenthalte in Lüneburg gesagt, was möglich war. Ohne irgend eine absichtliche Vernachlässigung seinerseits vorauszusetzen, werden doch seine wissenschaftlichen Studien gegen die Musik mehr [213] und mehr zurückgetreten sein. Diese war es schon damals, welcher er seine Existenzmittel verdankte, und wie oft die Anforderungen an die Chorschüler mit den Pflichten derselben als Gymnasialschüler in Widerstreit geriethen, ist schon erwähnt und wird durch andre Beispiele jener Zeit bestätigt. Dazu kamen die Verwendungen, wel che ein musikkundiger Jüngling sonst noch finden konnte, ja oft nothgedrungen über sich ergehen lassen mußte. Die Lehrgegenstände der Michaelisschule waren von denen des Ohrdrufer Lyceums nicht verschieden. In Prima, wohin wir uns Sebastian allmählig vorgerückt denken können, war natürlich der Kreis von lateinischen Schriftstellern, die gelesen wurden, etwas erweitert: es finden sich ausgewählte Oden von Horaz, Vergils Aeneide, Terenz, Curtius und Cicero mit Reden, Briefen und philosophischen Schriften erwähnt. Außer den zugehörigen mündlichen und schriftlichen lateinischen Uebungen gab es aber auch hier nur noch Griechisch nach dem Neuen Testament, Religion, Logik und Arithmetik, wenigstens im Jahre 1695, und es ist keineswegs anzunehmen, daß es von 1700 bis 1703 anders war49. Wollten sich die Schüler in andern Gegenständen Kenntnisse verschaffen, so konnten sie bei den Lehrern der Anstalt Privatunterricht erhalten, natürlich gegen Honorar; wer sich aber dort seinen Lebensunterhalt selbst erwerben mußte, mag wohl für solche Zwecke nicht viel verwendbar gehabt haben. Man darf indessen annehmen, daß Bach, als er Lüneburg verließ, wenigstens einen zweijährigen Cursus in Prima vollendet hatte; denn er war 18 Jahre alt, und man bezog damals die Universität durchschnittlich früher als jetzt. Dafür daß er seinerseits dies nicht that, wie doch Händel, Telemann, Stölzel und so manche seiner leiblichen Vettern, liegen zwingende äußere Gründe vor; nicht so sehr innere. Denn die musikalischen Studien vertrugen sich mit irgend einer gelehrten Disciplin auf Hochschulen dazumal viel leichter, als bei den gesteigerten Ansprüchen unserer Tage. Es hatte sich sogar als eine Art von gutem Gebrauche festgestellt, daß der angehende Musiker, wenn er eben höher hinausstrebte, auch den akademischen Hörsälen nicht ganz fremd geblieben sein durfte, sonst hätte der weißenfelsische Concertmeister Johann Bähr nicht in vollem Ernst die Frage erörtern können, ob ein Componist [214] nothwendigerweise studirt haben müsse50. Aber Sebastian war einmal arm und ihm blieb keine Wahl, wenn auch, was wir nicht wissen, das Verlangen seinen wissenschaftlichen Gesichtskreis zu erweitern, noch so groß sein mochte.

Jedoch ehe wir ihn scheiden und vorwärts streben sehen, sei noch ein rascher Blick nach rückwärts erlaubt. Da in Bachs Familie bis zum Jahre 1703 ein so hochbedeutender Künstler lebte, wie Johann Christoph Bach in Eisenach, kann es auffallen, daß bei Sebastian kein bestimmter Einfluß desselben nachgewiesen wird. Eine schwache Spur davon scheint allerdings vorhanden zu sein und sollte auch nicht unberücksichtigt bleiben; nur die Unsicherheit der Sache gebot ein Verschieben an diese Stelle. Es existiren drei kleine Choralfugen unter Sebastian Bachs Namen über die Melodien »Nun ruhen alle Wälder«, »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« und »Herr Jesu Christ, meins Lebens Licht«51. Sie tragen genau den Charakter der oben besprochenen fugirten Choralvorspiele von Johann Christoph Bach, sowie der diesen gleich gestalteten Johann Pachelbels. Besonders läßt das zweite, dessen Melodie der Eisenacher Meister auch bearbeitete, eine eingehende Vergleichung zu; es ist etwas fließender als jenes und um drei Takte länger, sonst von merkwürdigster Aehnlichkeit, z.B. in den Einsätzen des Anfangs und dem später eintretenden Dominant-Orgelpunkt. Stammen also diese Stückchen wirklich von Sebastian, so ist die Folgerung fast zwingend, daß sie in Anlehnung an dessen Oheim, vielleicht auch schon an Pachelbel geschrieben sind. Daraus folgt weiter, daß es Knabenarbeiten sein müssen, die vor die Lüneburger Zeit fallen, womit auch ihre gänzliche Unbedeutendheit zusammenstimmt. Es ließe sich somit der eigne Schaffenstrieb bis in die frühesten Jahre verfolgen, und dieses Resultat wäre[215] wenigstens ebenso interessant, als der Nachweis einer Beeinflussung durch Johann Christoph, die sich bei der Lage der Dinge ziemlich von selbst versteht, aber für eine so jugendliche Lebenszeit kaum als bedeutungsvoll gelten kann, wenn sie auf einem Gebiete erscheint, dem die Hauptkraft des älteren Meisters abgewandt blieb. Wichtig würde es sein, wenn wir Chorcompositionen Sebastians besäßen, die sich auf seine Anregung zurückfuhren ließen. Dies ist aber nicht mehr der Fall, und ob sie überhaupt existirt haben, bei der verschiedenen Richtung, die der Neffe einschlug, ziemlich zweifelhaft. Eine zweite Ergänzung zu dem durchlaufenen Lebensabschnitte soll die Erwähnung einer Clavierfuge in E moll bilden, welche auch den Namen einer Jugend- oder Knaben-Arbeit im eminentesten Sinne verdient52. Da schon aus dem Jahre 1704 einige Fugen Sebastians vorliegen, so ist die Abschätzung nicht allzu schwer. Dieses Stück verräth seine Entstehungszeit sowohl durch die auffällige Steifheit aller seiner Themen als durch die Aengstlichkeit, mit welcher derselbe Contrapunct dem Hauptgedanken sich an die Fersen heftet, durch das consequente Beharren in der Grundtonart bei nicht weniger als vierzehn Einsätzen des Themas, durch fast gänzliches Fehlen aller verbindenden Zwischensätze, als endlich durch eine auffallende Unspielbarkeit, indem die Form sich der Claviertechnik noch nicht fügen wollte. Von allen Fugen Bachs, welche ich kenne, ist diese die unreifste und kann kaum anders als schon in Ohrdruf componirt sein. Als er Lüneburg verließ, war er wenigstens auch in dieser Kunstgattung längst über eine so niedrige Stufe hinausgeschritten.

Fußnoten

1 Pfarr-Register der Stadt Eisenach. – Es mag hier daran erinnert werden, daß erst von 1701 an in dem evangelischen Deutschland der gregorianische Kalender eingeführt wurde, und alle vor diesen Termin fallenden Daten, wenn man sie mit der jetzigen Zählung in Einklang bringen will, um 10 Tage vorrücken. Das eigentlich Richtige ist deshalb, Sebastian Bachs Geburtstag auf den 31. März zu setzen. – Nach einer aus einem Nebenzweige der Familie stammenden Tradition soll das Haus am Frauenplan A. 303 des Meisters Geburtsstätte sein, und es ist daselbst von Seiten der Stadt unlängst eine Gedenktafel angebracht.


2 Nach der Genealogie.


3 Das Bild war später im Besitz von Philipp Emanuel Bach, und befindet sich jetzt auf der königl. Bibliothek zu Berlin, im ersten Zimmer der musikalischen Abtheilung.


4 Christiani Francisci Paullini Annales Isenacenses. Francofurti ad Moenum. Anno M.DC.XCVIII. pag. 237. Derselbe sagt an gleicher Stelle etwas weiter oben: Claruit semper urbs nostra Musicâ. Et quid estIsenacum κατ᾽ ἀναγρ. quàm en musica: vel: Isenacum, canimus.


5 Diese Söhne waren, soweit sie erwachsen wurden: Tobias Friedrich (geb. 1695), von 1721 Cantor zu Uttstädt; Johann Bernhard (1700), Organist zu Ohrdruf; Johann Christoph (1702), Cantor in Ohrdruf; Johann Heinrich (1707), Cantor zu Oehringen; Johann Andreas (1713), von 1744 Organist zu Ohrdruf. Nachkommen des dritten Sohnes leben noch jetzt daselbst.


6 Melchior Kromayer, Superintendent zu Ohrdruf, hatte im Jahre 1685 ein Kirchenbuch angelegt für die Lebensbeschreibungen und Besoldungsverhältnisse aller Geistlichen, Lehrer und Kirchendiener in der Stadt und der Umgegend. Dieses Buch, was unter anderm auch die eigenhändigen Biographien Johann Christoph Bachs und seiner Söhne Tobias Friedrich, Johann Bernhard, Joh. Christoph und Joh. Andreas enthält, wurde von dem Stadtsecretär Herrn Staudigel in Ohrdruf kürzlich wieder aufgefunden und mir in zuvorkommender Weise nutzbar gemacht. Brückner (Kirchen- und Schulenstaat, Th. III, St. 10, S. 95, 96 u.a.a. St.) hat es gleichfalls benutzt, wobei es jedoch nicht ohne Irrthümer abgegangen ist. Die Mittheilungen aus den Acten des Kirchen- und Schulamtes, sowie die Nachweise der Pfarr-Register verdanke ich der gütigen Vermittlung des Herrn Superintendenten Dr. Schulze in Ohrdruf.


7 Mizler, musikalische Bibliothek, IV, 1, S. 161. Irrthümlich wird hinzugefügt, daß Sebastian das Heft erst nach dem bald erfolgten Tode des Bruders zurück erhalten habe, und dieser Tod sei für ihn die Veranlassung gewesen, sich nach Lüneburg zu wenden. Forkel, a.a.O., S. 4 und 5 erzählt dasselbe. Wenn aber Sebastians Söhne und Schüler den Tod Joh. Christophs um etwa 20 Jahre zu früh ansetzten, so ist das wohl ein Beweis, daß man ihm eine große Bedeutsamkeit für Sebastians Entwicklung nicht beilegte; sonst hätte man sich wohl mehr um seine hauptsächlichsten Lebensereignisse gekümmert.


8 Rudloff, Geschichte des Lyceums zu Ohrdruf. Arnstadt, 1845. Derselbe theilt S. 20 ff. einen Lectionsplan mit, nach dem ich mich hier gerichtet habe; er ist freilich schon 1660 aufgestellt, allein es wurden im Laufe des Jahrhunderts höchstens die Anforderungen in den einzelnen Fächern etwas gesteigert, größere Mannigfaltigkeit der Disciplinen trat erst im Beginn des 18. Jahrhunderts ein. Geschichtsunterricht findet sich in Ohrdruf seit 1716 (Rudloff, S. 14), Französisch seit 1740 (ebend. S. 17).


9 Rudloff, a.a.O., S. 25.


10 Brückner, a.a.O., S. 83 und 86.


11 Concordia e Joh. Muelleri manuscripto edita. Lips. et Jenae, 1705. p. 59.


12 Brückner, S. 88.


13 Mizler, a.a.O.


14 Aus welchem Orte Erdmann gebürtig, habe ich nicht entdecken können. Wenn die Pfarr-Register vollständig sind, so war er in Ohrdruf selbst nicht geboren. Aus den im kaiserlich russischen Archiv zu Moskau über ihn vorhandenen Acten geht nur hervor, daß er aus Sachsen-Gotha stammte. Unauffindbar war auch der Charakter seiner Eltern.


15 Einige Nachrichten über die musikalischen Verhältnisse der Michaelisschule hat auf meine Veranlassung Prof. W. Junghans in Lüneburg aus den Acten des Klosterarchivs mit dankenswerther Sorgfalt zusammengesucht und dann nebst andern Mittheilungen über die Pflege der Musik in Lüneburg selber veröffentlicht im Oster-Programm des dortigen Johanneums von 1870.


16 Mizler, a.a.O.


17 Junghans, a.a.O., S. 26–28, hat den vollständigen Katalog mitgetheilt.


18 Auch zu dieser zweiten Sammlung hat Junghans den Katalog, wenn auch in abgekürzter Fassung, abdrucken lassen, S. 28 und 29. Die gesammte Chorbibliothek des Michaelisklosters ist jetzt verloren gegangen.


19 Junghans, S. 35 f. und S. 39.


20 Niedt, Handleitung, Th. II, S. 191.


21 S. den interessanten Brief Schützens an die Herzogin Sophia Elisabeth in dieser Angelegenheit, den Fr. Chrysander mittheilt, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft I, S. 162 (Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1863). Vergl. ebendas. S. 166 und 167.


22 Geboren 1628, wie Junghans S. 39 berechnet.


23 Walther, Musik. Lexicon, S. 98. Die Pfarr-Register zu Goldbach wissen nichts davon, wurden aber auch nicht immer sorgfältig geführt. Das Geburtsjahr hat Junghans (S. 39) nach einer eignen Angabe Böhms in einem Schreiben an den lüneburgischen Rath herausgerechnet.


24 Junghans, S. 38, scheint 1734 als sein Todesjahr zu bezeichnen; Mattheson dagegen im 1739 erschienenen »Vollkommenen Capellmeister«, S. 479, spricht von ihm, als ob er noch lebte.


25 Mattheson, Critica musica, Bd. I, S. 255 und 256.


26 Junghans, S. 40, nach einem Protokolle vom 13. Febr. 1705.


27 Johann Ernst war 1683 geboren, und es ist angemessen, daß wir uns solche auf eigne Kosten unternommene Ausflüge, die der Bildung gewissermaßen den letzten Schliff geben sollten, nicht vor dem vollendeten 17. oder 18. Lebensjahre gethan denken.


28 Die von J. Ch. W. Kühnau (Die blinden Tonkünstler. Berlin, 1810. S. 5 und 6) erzählte Anekdote, wie Sebastian auf dem Rückwege von Hamburg mit leerem Magen und noch geleerterer Tasche vor einem Wirthshause sitzt und plötzlich durch zwei aus dem Fenster geworfene Häringsköpfe, in denen eben so viele dänische Ducaten versteckt sind, überrascht wird, entbehrt jeder weiteren Beglaubigung, und ist auch für Sebastian in keiner Weise charakteristisch.


29 Mattheson, a.a.O. Walther, S. 517.


30 Befindlich in einem aus dem Nachlasse von Joh. Ludw. Krebs, Sebastian Bachs vorzüglichstem Schüler, stammenden Buche, welches, nachdem es durch die Hände zweier Altenburger Organisten gegangen ist, sich jetzt im Besitze von Herrn Musiklehrer F.A. Roitzsch in Leipzig befindet.


31 Diese Composition bewahrt die Bibliothek des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin handschriftlich.


32 Sie sind nebst der Toccate in einem Buche erhalten, welches Andreas Bach aus Ohrdruf, Sebastians Neffe, besaß und jedenfalls von seinem Bruder überkommen hatte, der in Weimar eine Zeit lang in Sebastians Hause lebte, worüber an geeigneter Stelle mehr. Neuerdings gehörte es C.F. Becker, der es mit seiner ganzen Bibliothek der Leipziger Stadtbibliothek vermachte.


33 Die »Meyerin« muß ein allgemeiner bekanntes Lied gewesen sein; auch Froberger machte darüber eine Reihe von eleganten Variationen, sie stehen in einer Sammlung von Toccaten, Fantasien, Canzonen u.s.w., die der Componist am 29. Sept. 1649 in Wien dem Kaiser Ferdinand III. dedicirte.


34 Mattheson, Der musikalische Patriot (Hamburg, 1728), S. 177.


35 Diese beiden letztgenannten Stücke stehen in einem andern, Krebs einstmals zugehörigen Orgelbuche, welches ebenfalls Herr Roitzsch besitzt.


36 Musikalische Bibliothek, a.a.O., S. 162. Hier wird es freilich mit Bezug auf Bachs Studien in Arnstadt gesagt, wo er sich jedoch von den Vorräthen nährte, die er während der Lüneburger Zeit eingeheimst hatte.


37 Ein im Provinzial-Archiv zu Hannover befindlicher Anschlag vom Jahre 1663: »Was zu einer bestelten rechten Capell gehörig«, den ich der Mittheilung des Herrn Archivrath Grotefend daselbst verdanke, lautet: »1. Ein Director Musices. 2. Ein Altist. 3. Ein Tenorist. 4. Ein Bassist [Gesammt-Bemerkung zu 2–4:] welche zugleich in frantzös. Musick eine Viol. gebrauchen könnten. 5. Zwo sowohl in rechter als in Französ. Musik bestelte Violisten, so bereits hie seyn. 6. Ein Viola da Gambist, welcher auch schon hie ist. 7. Ein Organist, der ebenmäßig alhie ist. 8. EinTrombonist oder Fagottist, so zugleich eine Stimme singet und in Französ. und rechter Music ein Violin gebraucht. 9. Ein Cornetist, der in Französ. Music ein Violin gebraucht. 10. Zwo Capelknaben. 11. EinCalcante. Summa 13 Personen.« Aus der Zeit des letzten Herzogs Georg Wilhelm bis 1705, wo die Linie ausstarb, fehlen leider alle Nachrichten.


38 Seine Thätigkeit als Orgelcomponist scheint bis jetzt ganz unbekannt gewesen zu sein. Ich besitze von ihm eine ausgeführte und gelungene Bearbeitung des Chorals: »Ich dank dir schon durch deinen Sohn«.


39 Musikal. Bibliothek, a.a.O. Daß die dort aufgestellte Behauptung, der französische Stil sei damals in der Gegend etwas neues gewesen, in dieser Allgemeinheit unrichtig ist, ergiebt sich aus dem obigen.


40 Das Autograph besaß früher Aloys Fuchs in Wien; wo es augenblicklich ist, darüber habe ich bis jetzt nur eine Vermuthung. Eine nach dem Autograph gefertigte Copie mit Aufschrift von Fuchs' eigner Hand hat die königl. Bibliothek zu Berlin. Beide Suiten enthalten übereinstimmend folgende Stücke: Ouverture, Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte, Menuet, Gigue. Angehängt ist ein Verzeichniß von 29 verschiedenen Ornamenten nebst der Anweisung zu ihrer Ausführung. So lange das Autograph nicht wieder zum Vorschein gekommen ist, läßt sich nichts darüber sagen, ob es etwa in der Zeit von Bachs Lüneburger Aufenthalt oder später geschrieben sein mag.


41 Forkel, S. 15 (der ersten Aufl.). Dieser verdient hier um so mehr Glauben, als er sicherlich über diesen Gegenstand bestimmte und eingehende Nachrichten von Phil. Em. Bach erhalten haben wird.


42 An sich wäre eine solche Verwechslung leicht möglich, da die Namen der Orgelmeister über ihren Compositionen sehr viel nur durch die Anfangsbuchstaben angedeutet wurden, und für D.B. (Dietrich Buxtehude) leicht G.B. (Georg Böhm) geschrieben werden konnte. Von Pachelbels Choral »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« (Commer, Nr. 134) liegt mir eine alte Handschrift vor, die ihn mit G.B. signirt. Ich halte ihn aber dem ersteren für zugehörig.


43 Sie stehen in dem schon genannten Manuscripte Andreas Bachs.


44 Erschienen in der Gesammtausgabe Bachscher Instrumental-Werke bei C.F. Peters, Ser. V, Cah. 5, Abth. II, Nr. 1 und 2 (ich citire stets nach dem 1867 erschienenen thematischen Kataloge). Eine dritte Partiten-Gruppe über den Choral »Herr Christ, der ein'ge Gottssohn«, findet sich mit vielen andern Bachschen Chorälen in einem einstmals Joh. Ludw. Krebs zugehörigen Sammelbande, der jetzt im Besitz von Herrn F.A. Roitzsch in Leipzig ist, und ward noch nicht veröffentlicht. Bachs Name ist auch nicht ausdrücklich angegeben; trotzdem halte ich ihn für den Autor dieser sieben Partiten, die mit den andern etwa zu gleicher Zeit entstanden sein müssen. Daß jene von Bach in Arnstadt componirt seien, ist eine willkürliche Annahme Forkels (S. 60 der ersten Auflage), der sie zufällig in einer alten Abschrift besaß. Ein Autograph derselben ist bis jetzt nicht zu Tage gekommen. (Dagegen taucht, schon während des Druckes dieses Bandes, in der Schweiz das vermeintliche Autograph eines Partitenwerks auf über »Ach, was soll ich Sünder machen«. Ich hoffe, im zweiten Bande nachträglich darüber berichten zu können.)


45 B.-G. III, S. 212. – P.S. V, Cah. 7, Nr. 60.


46 P.S. V, Cah. 6, Nr. 15.


47 Diese noch unveröffentlichte Composition steht in dem schon genannten Krebs'schen Orgelbuche, welches auch den Reinkenschen Choral »Es ist gewißlich an der Zeit« enthält.


48 Gerber, N.L. I, unter dem Worte Dropa.


49 Junghans, a.a.O., S. 40 und 41.


50 »Ob ein Componist necessario müsse studirt haben.« Johann Beerens Musicalische Discurse. Nürnberg, 1719 [19 Jahre nach dem Tode des Verfassers]. Cap. XLI. Der Verfasser (er schreibt sich Bähr, Beehr, Beer) besaß selbst eine tüchtige Gelehrtenbildung, und entscheidet auch, daß es zwar nicht durchaus nöthig, aber doch besser für den Componisten sei, studirt zu haben.


51 Herausgegeben von Fr. Commer: Musica sacra I, 1–3. Dieser erhielt sie im Jahre 1839 von dem Berliner A.W. Bach, welcher sie nach einer Bachschen Handschrift aus der Sammlung des Grafen von Voss-Buch copirt haben wollte. Diese ganze Sammlung gelangte später an die königl. Bibliothek; die betreffenden Choralvorspiele sind aber nicht mehr darunter zu finden.


52 P.S. I, Cah. 9, Nr. 14.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873, S. 178-216.
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