IV.

Als das Jahr 1706 ins Land gekommen war, erinnerte sich Bach allmählig, daß nicht Lübeck, sondern Arnstadt seine Heimath sei. Vielleicht hätte es an ihm gelegen, sich in der alten Hansestadt eine neue zu gründen, denn es ist kaum anzunehmen, daß man ihn nicht gern zu Buxtehudes Nachfolger gemacht haben würde, wenn er sich zur Heirath mit dessen ältester Tochter entschlösse. Welche Richtung dann sein Geist genommen haben würde, und ob er sich in der Nähe der Hamburger Oper, in reichlichen Lebensverhältnissen und [308] von glänzenderen Kunstmitteln umgeben, seine volle Tiefe bewahrt hätte, steht dahin. Aber die vorgerückteren Jahre der Tochter werden ihn eben so sehr, wie Mattheson und Händel zurückgeschreckt haben, vielleicht war auch seine Neigung schon anderweitig gefesselt. So überließ er es einem andern und ältern Musiker, mit der Braut die Anwartschaft auf das Organistenamt zu St. Marien sich zu sichern: Johann Christian Schieferdecker, zuvor Cembalist im Hamburger Opernorchester, wurde Buxtehudes Nachfolger. Seine ihm mit der Stelle »begebene« oder »conservirte« Gattin, wie man es zu nennen pflegte, lebte aber nicht lange mehr, denn er nahm schon 1717 die dritte Frau und starb selber 1732. – Es mag in den ersten Tagen des Februar gewesen sein, daß Bach sich von dem greisen Meister verabschiedete, den er nicht wiedersehen sollte, da der Tod ihn am 9. Mai 1707 den Lebenden und der Kunst entzog. Auf der Rückwanderung kann er Lüneburg berührt und Böhm begrüßt, er kann auch zuvor in Hamburg einen Rasttag gemacht haben. Der 21. Februar fand ihn schon einige Tage wieder daheim in seiner thüringischen Einsamkeit.

Auf diesen Tag erhielt er vom Consistorium eine Vorladung. Man war in Amtsangelegenheiten keineswegs pedantisch, ja weniger exact, als wünschenswerth. Allein eine Urlaubsüberschreitung, die aus vier Wochen sechzehn machte, ging denn doch über das Maß der Nachsicht hinaus. Dazu kam, daß die geistliche Behörde mit Bachs Dienstleistungen keineswegs zufrieden war und Grund dazu hatte. Denn so gerechtfertigt wir es jetzt finden, daß Bach die freie Kunst seines Orgelspiels als Hauptsache und ihre Anwendung auf den Gottesdienst als Nebensache ansah, so wenig konnte seinen kirchlichen Vorgesetzten zugemuthet werden, einer noch ungeklärten Genialität zu Gefallen alle Rücksichten gegen die Gemeinde außer Acht zu setzen. Bach ließ seiner üppigen, in unzähligen Keimen aufsprossenden Productionskraft auch durch den Gemeindesang, vor dem er hätte in die zweite Linie zurücktreten müssen, keine Vorschriften machen. Er colorirte selbst während des Singens die Melodie in neuer, kühner und ausschweifender Weise, und gewiß haben ihn in dieser Unsitte, von der er sich später fast ganz freigemacht zu haben scheint, seine engen Beziehungen zu den nordländischen Orgelmeistern besonders bestärkt, obgleich sie allgemein [309] verbreitet war1. Er wird auch, obgleich dies nicht wörtlich überliefert ist, seinem auf harmonische Vertiefung gerichteten Streben unbekümmert nachgegeben haben, und man weiß ja, wie sehr auch die bekannteste Melodie durch ungewöhnliche Harmonisirung ihr Gesicht verändern kann. Er hatte es so getrieben, daß die Gemeinde oft nicht wußte, was sie hörte, und in Verwirrung gerieth2. Wir besitzen noch ein interessantes Orgelstück frühester Zeit, was auf seine damalige Spielart ein helles Licht wirft. Dies ist der Choral »Wer nur den lieben Gott läßt walten« mit Vor-, Zwischen- und Nachspielen, bei dem man auf den ersten Blick die praktische Bestimmung für den Gottesdienst erkennt und der in den ersten Arnstädter Jahren geschrieben sein muß, da er viele Spuren von Böhms Manier trägt und das Pedal sehr wenig verwendet. Praeludirt wird neun Takte lang mit Sechzehntelfigurationen, die meist in der rechten Hand liegen und auf den Harmoniengang des Chorals hindeuten. Dann folgt dieser selbst dreistimmig mit stark verbrämter Melodie, deren vorletzte Zeile beispielsweise dieses Aussehen hat:


4.

Die Zwischenspiele sind durchaus nicht regelmäßig zwischen jeder Zeile eingefügt, was doch nothwendig, wenn sie einmal gemacht werden; sie erscheinen zwischen der ersten und zweiten, zwischen der zweiten und dritten nicht, wiederum zwischen der dritten und vierten, dann in größerer Ausdehnung vor Beginn des Abgesanges, [310] fehlen aber wieder vor der letzten. Es ist sehr wohl möglich, ja wahrscheinlich, daß Bach diejenigen Zeilen, die sich wie Vordersatz und Nachsatz zu einander verhalten, nicht trennen wollte: dies ist poetisch fein gedacht, aber ganz unpraktisch gegenüber der Gemeinde, die darin nur Willkürlichkeit sehen mußte3. Sodann war er auch im freien Spiel vor den einzelnen Gesängen über das billige Maß zu weit hinausgeschritten; als ihn aber der Superintendent Olearius ersucht hatte, sich etwas einzuschränken, hatte er sich nun so kurz gefaßt, daß die Absichtlichkeit allgemein auffiel. Ein Zug von leicht gereizter Empfindlichkeit und von Eigensinn tritt hier zum ersten und nicht zum letzten Male in seinem Charakter hervor; er war ein Familienerbtheil, und wenn wir ihn bei Ambrosius Bach nicht direct nachweisen konnten, so erinnert sich doch der Leser an die Eheangelegenheit seines gleichgearteten Bruders. Endlich hatte er sich auch mit seinem Sängerchore gänzlich verfeindet und folglich nicht im geringsten mehr um ihn bekümmert. Einmal war ihm der Chor zu schlecht und er zu sehr mit der eignen Ausbildung beschäftigt, als daß er Lust gehabt hätte, sich um die Fortschritte desselben zu bemühen; er übersah nur dabei, daß es in der Natur der Sache lag, wenn ihm nicht die besten Kräfte des Ortes zugewiesen wurden, da seine Anleitung ja nur eine Vorschule für den Hauptchor der Oberkirche bilden sollte; er übersah in seiner jugendlichen Hitze, daß er trotz seiner eminenten Gaben doch endlich seine Pflicht zu erfüllen hatte, und er übersah das ausgesprochene Wohlwollen, mit dem man ihn aufgenommen, und das große Vertrauen, was man in ihn gesetzt hatte. In der That ist selbst bei dem endlich nothwendig gewordenen Einschreiten das Consistorium doch von aller Engherzigkeit und Härte vollständig frei zu sprechen, und es hat sich auch nachher noch über Erwarten milde und geduldig erwiesen. Andrerseits war freilich auch für einen jungen, kaum zwanzigjährigen [311] Künstler das Auskommen mit den Schülern, die zum Theil nur wenig jünger sein konnten, als er, ziemlich schwierig. Die treffliche Zucht, welche der energische und wackre Rector Treiber anfänglich in der Schule herzustellen gewußt hatte, war geschwunden, seitdem Johann Gottfried Olearius zum Superintendenten und Schulinspector berufen war, dem die Interessen der Schule wenig am Herzen lagen. Nun wurde allmählig zuerst Treibers Autorität durch willkürliche, von seinen Feinden veranlaßte Eingriffe in seine Rechte untergraben, sein Einfluß geschwächt und gebrochen, dadurch der Unordnung im Schulwesen und endlich der gänzlichen Verwilderung das Thor geöffnet. In einer Eingabe des Stadtraths an das Consistorium vom 16. April 1706 wird über den unbändigen, freien und ungehorsamen Sinn der Schüler geklagt. »Vor ihren Lehrern«, heißt es dort, »haben sie keine Scheu, raufen sich in ihrer Gegenwart und begegnen ihnen in der anstößigsten Weise. Sie tragen den Degen nicht nur auf der Straße, sondern auch in der Schule, spielen unter dem Gottesdienste und während der Unterrichtsstunden Ball, und laufen wohl gar an ungeziemende Orte«4. Wenn aber reife und würdige Männer sich bei der zuchtlosen Jugend keinen Respect verschaffen konnten, wie sollte es einem unerfahrenen, reizbaren Jünglinge gelingen?

Das Protokoll des vom gräflichen Consistorium mit und über Bach angestellten Verhöres gehört zu den interessantesten Documenten seines Lebensganges. Es möge daher genau in der Fassung folgen, in der es uns erhalten ist. Was etwa veraltete Ausdrucksweise und Orthographie dem Lesenden an Unbequemlichkeit verursacht, wird die Lebendigkeit der gewonnenen Anschauung wieder aufwiegen; denn in den äußern Formen spiegelt sich das Wesen der Zeit5.


[312] »Actum d. 21. Febr. 706.

Wird der Organist in der Neuen Kirche Bach vernommen, wo er unlängst so lange geweßen, vnd bey wem er deßen verlaub genommen?


Ille

Er sey Zu Lübeck geweßen vmb daselbst ein vnd anderes in seiner Kunst Zu begreiffen, habe aber zu vorher von dem Herrn Superintend Verlaubnüß gebethen.


Dominus Superintendens

Er habe nur auf 4 wochen solche gebethen, sey aber wohl 4 mahl so lange außen blieben.


Ille

Hoffe das orgelschlagen würde unterdeß von deme, welchen er hierzu bestellet6, dergestalt seyn versehen worden, daß deßwegen keine Klage geführet werden könne.


Nos

Halthen Ihm vor daß er bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thöne mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret worden. Er habe ins Künfftige wann er ja einen tonum peregrinum7 mit einbringen wolle, selbigen auch außzuhalten, vnd nicht zu geschwinde auf etwas andres zu fallen, oder wie er bißher im brauch gehabt, gar einen tonum contrarium8 zu spiehlen. Nechstdeme sey gar befrembdlich, daß9 bißher gar nichts musiciret worden, deßen Ursach er geweßen, weile mit den Schühlern er sich nicht comportiren wolle, Dahero er sich zu erclähren, Ob er sowohl Figural alß Choral mit den Schühlern spiehlen wolle. Dann man ihm keinen Capellmeister halthen könne. Da ers nicht thuen wolte, solle ers nur categorice von sich sagen, damit andere gestalt gemachet vnd iemand Der dießes thäte, bestellet werden könne.


[313] Ille

Würde man ihm einen rechtschaffenen Director schaffen, wolte er schon spiehlen.


Resolvitur

Soll binnen 8 tagen sich erclähren.

Eodem. Erscheint der Schühler Rambach10 vnd wird Ihm gleichfalß vorhalt gethan wegen der désordres, so bißher in der Neuen Kirche Zwischen denen Schühlern vnd dem Organisten passiret.


Ille

Der Organist Bach habe bißhero etwas gar zu lang gespiehlet, nachdem ihm aber vom Herrn Superintendent derwegen anzeige beschehen, währe er gleich auf das andere extremum gefallen, vnd hätte es zu kurtz gemachet.


Nos

Verweißen ihm daß er letztverwichenen Sontags unter der Predigt im Weinkeller gangen.


Ille

Sey ihm leid sollte nicht mehr geschehen, vnd hätten ihm bereits die Herrn Geistlichen derwegen hart angesehen. Der Organist hätte sich über ihn wegen des Dirigirens nicht zu beschwehren, indeme nicht Er sondern der Junge Schmidt es verrichtet11.


Nos

Er müße sich künfftig gantz anders vnd beßer alß bißher er gethan, anstellen, sonst würde das guthe, so man ihm Zugedacht wieder eingezogen werden. Hätte er gegen den Organisten etwas Zu errinnern, solle ers gehörigen orths anbringen, vnd sich nicht selbst recht[314] Geben, sondern sich dergestalt bezeigen, daß man mit ihm zufrieden seyn könne, welches er versprach. Ist auch hierauf dem Cantzley Diener anbefohlen, demRectori zu sagen, daß er Rambach 4 Tage nach einander 2 Stunden ins Carcer gehen laßen solle.«

Obgleich das Consistorium in seinen Forderungen an Bach nach dem Protokolle mit sehr nachdrücklichen Worten auftrat, so blieb doch das Verfahren nachsichtig und zuwartend. Im Orgelspiel mag sich der Künstler den geäußerten Wünschen mehr anbequemt haben, und wegen der Differenzen mit dem Schülerchore war man unparteiisch genug, anzuerkennen, daß die Schuld auf beiden Seiten lag: man dachte an eine Aenderung des Verhältnisses. So ließ man die von Bach binnen acht Tagen geforderte Erklärung einstweilen ausstehen, und hoffte, er werde sich im Verlaufe von selbst mit dem Chore wieder zusammen finden. Dazu war freilich in Wirklichkeit wenig Aussicht vorhanden, zumal Bach, gehoben und erfüllt durch das in Lübeck genossene Kunstleben, jetzt mehr noch als zuvor mit sich selbst beschäftigt gewesen sein wird, und sicher die ihm zugemutheten Plackereien mit den sittlich wie musikalisch rohen Schülern ganz unleidlich fand.

Die Einwirkung von Buxtehudes Musik läßt sich an einigen formalen Erscheinungen durch Bachs ganzes Leben verfolgen; ideal ging sie bald in dem gewaltigen Strome eigner Originalität unter, weil des älteren Meisters musikalisches Empfinden beschränkter und demjenigen Bachs nahe verwandt war. Die Compositionen also, welche in der ganzen Anlage oder in der besondern Empfindungsweise eine offenbare Anlehnung an Buxtehude zeigen, werden wir ein Recht haben sämmtlich für Werke aus Bachs frühester Zeit zu halten, die größtentheils bald nach seiner Rückkehr aus Lübeck, theilweise vielleicht auch schon vor seiner Wanderung dorthin geschrieben wurden12. Denn ganz unbekannt konnte er schon vorher mit Buxtehudes Kunst nicht gewesen sein, was hätte ihn sonst in seine unmittelbare Nähe treiben sollen? er muß vielmehr aus seiner Lüneburger Zeit und durch Böhm gewußt haben, welcher Werth den Leistungen desselben inne wohne.

[315] Vocalcompositionen, welche denen Buxtehudes direct nachgebildet wären, vermag ich nicht aufzuweisen. Die Cantaten der nächsten Jahre bewegen sich freilich in der beschriebenen ältern Form, sind aber in hohem Grade von eignen Gedanken erfüllt. Trotzdem ist der Eindruck, den er auch von dieser Seite erhielt, sicherlich ein bedeutender gewesen, und Andeutungen darüber, wie er in spätern Werken einige Male unvermuthet zu Tage tritt, wurden schon gemacht. Daß besonders die Abendmusiken ihn tief angeregt haben, ist nicht minder glaubhaft. Wer die holden und erhabenen Ahnungen der Adventszeit und die glanzerfüllte, reine Freude der Weihnachtstage in so gesättigter Weise zum musikalischen Ausdruck bringen kann, wie es Bach in seiner Advents-Cantate von 1714 und in seinem Weihnachtsoratorium gethan, dem mußte die ganze Poesie jener von Lichterschimmer und musikalischem Glanze strahlenden Aufführungen in der winterlichen Kirche sich voll erschließen. Von Instrumentalwerken läßt sich eine Reihe namhaft machen, in denen der enge Anschluß unverkennbar ist. Schon die früher besprochene Fuge in C moll verräth ihn, besonders in der Form des vorangeschickten Praeludiums, vom Anfang bis ans Ende aber ein Praeludium mit Fuge aus A moll und zwar in einigermaßen unreifer Weise13. Die Composition hat den Anschein, als sei sie nur erst eine Nachahmung, keine aus innerer Verarbeitung fremder Elemente entsprossene Neugestaltung, als sei sie geschrieben, ehe dem Componisten Buxtehudes Weise ganz verständlich und lebendig geworden war, zuversichtlich also vor 1706, aber, der Pedaltechnik wegen, doch jedenfalls in Arnstadt. Sie besteht aus einem kurzen Praeludium, zwei durch einen Zwischensatz getrennten Fugen, und einem Nachspiel, was die Gänge des Vorspiels erweiternd wiederholt. Die zweite Fuge entwickelt sich aber nicht aus der ersten, beide haben selbständige Themen; was also den Organismus der nordländischen Fugenform eigentlich bedingt, ist außer Acht gelassen, die Composition fällt in zwei Theile auseinander, und wird durch das wiederkehrende Vorspiel nur äußerlich zusammengeschlossen. Ganz auffällig ist das erste Thema den Mustern der nördlichen Meister nachgeahmt: mechanisch bewegt und melodisch [316] ausdruckslos dreht es sich im engsten Kreise umher, und keine reiche Entwicklung entschädigt, wie es dort zu sein pflegt, für die Unbedeutendheit. Es steigt in vier Einsätzen ununterbrochen und ohne Rücksicht auf eine bestimmte Stimmenzahl abwärts, wiederholt unten angekommen dieses Manöver noch einmal, schließt in C dur und ist fertig. Das zweite Thema hat eigenthümlicheren Wuchs, lehnt sich aber dadurch an Buxtehudes Manier, daß es sofort ein Gegenthema mitbringt, von dem es sich im ganzen Verlaufe im einfachen und doppelten Contrapuncte begleiten läßt, was leicht zu einer auch hier nicht vermiedenen Monotonie führt. Aus einem Anhängsel des Themas, welches zuerst im 52. Takte erscheint, entwickelt sich später ein selbständiges freifigurirtes Spiel, das im Einzelnen wie Ganzen wiederum sehr an Buxtehude mahnt, und den Fugensatz abschließt, so daß der Hauptgedanke nicht weiter gehört wird. Dieses Herausspinnen eines neuen Motivs ist recht geschickt und unmerklich gemacht. Einzelzüge, aus denen die wirkliche Nachahmung oft noch klarer erkennbar ist, als aus der Gesammtform, ließen sich zu diesem Zweck in Menge anführen; so die Art der Figuration, z.B. der Doppeltriller im sechsten Takt vom Ende, die Soloeinsätze des Pedals, das dreimal wiederholte Achtel in dem neugebildeten Motive, die zweimal recht absichtlich herbeigeführten Querstände in den breiten Harmonienfolgen des Zwischensatzes, das lange Verweilen auf der Unterdominante vor dem Schluß, der mit der großen Terz ausklingt. Auch fehlen Härten und Ungelenkigkeiten nicht, besonders störend werden wir Takt 15 und 24 in der Hoffnung, auf dem dritten Viertel nach C dur zu gelangen, getäuscht, und Takt 51 klingt das plötzliche Abschneiden der Oberstimmen durchaus nicht angenehm. Ungleich gereifter und von warmer innerer Betheiligung zeugend ist eine Fantasia in G dur14, so genannt, weil sie weder eine geordnete Fuge als Kern enthält, noch die Mannigfaltigkeit und den wechselnden Stil der Toccate bietet. Obwohl sie aus drei ausgeführten Sätzen besteht, herrscht doch eine vollständige thematische Einheit, grade wie sie Buxtehude liebte [317] und vorzugsweise ausbildete. Noch mehr, man kann seine große Composition in G moll, welche in die Ciacone ausläuft, oder andere Werke gleicher Art, gradezu als Vorbilder der Bachschen Fantasie bezeichnen. Als erstes Thema dient das schon früher erwähnte Kuhnausche:


4.

und auch die Contrapunctirung ist der jener Fuge aus dem ersten Theil der Clavierübung sehr ähnlich. Späterhin erscheint es in der Umkehrung, erweist sich wenig umgebildet als Keim des zweiten Satzes (Adagio E moll), nämlich:


4.

woraus endlich für den dritten Satz (Allegro G dur) sich das Ciacona-Thema entwickelt:


4.

Diese durch und durch Buxtehudesche Form, die in keinem späteren Werke Bachs wiederkehrt, läßt über die Entstehungszeit der Composition kaum einen Zweifel aufkommen. Auch das Merkmal des regellosen Pedalgebrauches trifft zu, und der zwischen Orgel- und Claviermäßigem unbestimmt schwankende Charakter, endlich der mehr auf der Oberfläche spielende, selten aus der Tiefe kommende Ausdruck. Die thematische Behandlung des ersten Satzes ist alterthümlich und frei: die Beantwortung erfolgt erst dreimal in der Octave, dann erscheint das Thema viermal auf der Dominante, dann wieder viele Male auf der Tonika, später zweimal in Moll. Im letzten Satze liegt der Grundgedanke bald unten, bald in der Mitte, bald oben, verändert auch seine Stellung innerhalb der Tonleiter. Wie er von schön imitirenden Sechzehntelgängen allseitig umwoben wird, und dabei plastisch groß hervortritt, wo er nur erscheint, das ist ganz vortrefflich ausgeführt und zeigt, wie der Tonsetzer sich des innern Wesens seines Vorbildes nun mehr bemächtigt hatte. Wie dort, wo er sich an Böhm, an Kuhnau anschloß, so zeigt er auch hier, daß [318] sein universales Talent die verschiedenen Richtungen seiner Zeit völlig zu verarbeiten die Kraft hatte; dadurch stellte er sich die breite Grundlage her, auf der die eigne Production sicher und thurmhoch sich erheben sollte. Falsche, überfrühe Originalität zu zeigen, fiel ihm nicht ein, aber doch gab er auch jetzt schon immer etwas eignes dazu.

Langsam auf- und absteigende Tonleitergänge in den Bass zu legen und sie mit möglichstem Glanze zu contrapunctiren, wie es hier geschehen ist, war auch Bruhns und Buxtehude als dankbare Orgelaufgabe erschienen. Bach hat in weitgreifender Weise dieses Motiv für ein großes Orgelstück zur Anwendung gebracht, welches ebenfalls den Titel Fantasia führt und derselben Tonart sich bedient15. Doch würde das nicht entscheidend sein für eine Besprechung an dieser Stelle, wenn nicht die Harmonik der Fantasie und die aus ihr zu Tage tretende Empfindungsart in einem solchen Maße die Buxtehudesche wäre, wie in keinem Bachschen Werke jemals wieder. Wenn irgend etwas, so legt sie ein Zeugniß dafür ab, wie ganz zeitweilig Bach von Buxtehudes Eigenart erfüllt gewesen sein muß. Sie macht den Eindruck, als ob er entschlossen gewesen sei, sich in den berauschenden Klängen, welche ihm von dorther genaht waren, einmal ganz auszuschwelgen. Unersättlich werden jene doppelten Vorhalte, Nonenaccorde, verminderten Intervalle, weitgespannten Harmonielagen, enthusiastisch sich aufschwingenden und einander überbietenden Melodiegänge wiederholt – ein entzücktes Genießen im Klangmeer, was nicht zurückdenkt und nicht fragt, welches das Ende sein wird! So ist denn auch das lange Grave hindurch die volle Fünfstimmigkeit fast immer beibehalten, nur im 102. Takte setzt das Pedal für wenige Zeit aus. Gegen das Ende hin und zumal von dem genannten Takte an tritt auch das Tonleitermotiv erst mächtig und langathmig hervor, mehr und mehr steigert sich nun der Ausdruck zu einer unbeschreiblichen Intensität und Gluth, welche weit, weit über das Leistungsvermögen der Orgel sich hinausschwingt: das Pedal steigt langsam und unwiderstehlich vom D durch zwei Octaven in ganzen Noten aufwärts, dann liegt es im gewaltigen Orgelpunkte lange wieder auf dem Ausgangstone, die [319] linke Hand übernimmt das Motiv in Terzen, und darüber schwingen sich die Contrapuncte weiter und weiter auf, bis auf dem verminderten Septimenaccorde abgebrochen wird und wie aus einer Regenwolke unter Sonnenschein, in Zweiunddreißigstel-Sextolen voll kühner Wechselnoten, tausende von glitzernden Ton-Tropfen niederrauschen.

Wiederum innerlich wie äußerlich seinem Vorbilde nachgeschaffen ist eine Fuge im Zwölfachteltakt und gleichfalls in G dur16. Wer den Schlußsatz der ersten großen E moll-Fuge und die C dur-Fuge Buxtehudes mit ihr vergleicht, wird im Einzelnen wie im Ganzen dies Urtheil auf den ersten Blick bestätigen. Manche Züge stimmen auf das genaueste überein: die mit besonderer Pedalberücksichtigung erfundenen Figurationen des Themas, die leicht ausführbar sind und brillant klingen, die wiederholte Begleitung desselben in kurzen jambisch gemessenen Accordschlägen und mehres andre. Nur beseelt ein kühnerer Schwung, ein tieferes Athmen das meisterlich gestaltete Stück, welches sonst ebensowohl Buxtehude gemacht haben könnte. Weiter ist hier ein Praeludium mit Fuge aus Es dur zu erwähnen17. Mehre Male schon wurde der Name und die Kunst J. Jakob Frobergers aus Halle genannt, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu den hervorragendsten Clavier- und Orgelmeistern in Deutschland gehörte. Er hatte obgleich Mitteldeutscher sich doch vorwiegend der südländischen, damals durch Frescobaldi zu Rom in hoher Blüthe stehenden Orgelkunst hingegeben. Doch waren seine Leistungen durch ganz Deutschland anerkannt und geschätzt, am wenigsten wohl in der eignen Heimath, da er dem Choral seinem Bildungsgange gemäß fern blieb, viel mehr im Norden. Daß seine Toccaten zur Ausbildung der nordländischen mehrtheiligen Fugenform beigetragen haben, wurde schon bemerkt. Froberger steht rücksichtlich der freien Orgelcomposition zwischen Süd- und Nordländern seiner Zeit ungefähr in der Mitte. Es wird erzählt, daß in dem Buche des ältern Bruders, das Bach sich in Ohrdruf heimlich [320] abschrieb, auch Stücke von Froberger gestanden haben, so daß er dieses Künstlers Bekanntschaft schon als Knabe gemacht hätte18. Die Nordländer, von welchen er später lernte, hatten Froberger freilich längst überholt, aber sie wiesen doch auf ihn hin und hinderten das Vergnügen nicht, was Bach, durch früheste Eindrücke bestimmt, an dessen Werken fand. Daß dies wirklich der Fall gewesen, wird durch Adlung, einen persönlichen Bekannten Bachs, bezeugt, wenn er sagt: »Frobergern hat der selige Leipziger Bach jederzeit hoch gehalten, obschon er etwas alt«19. Doch liegt es in der Natur der Sache, daß von einer bedeutenden lebendigen Einwirkung desselben auf sein eignes Schaffen kaum die Rede sein kann, und er die hauptsächlichsten Elemente Frobergerschen Geistes durch die ihm jedenfalls näher stehenden Nordländer empfing. In der That ist das einzige Werk, wo neben oder unter Buxtehudes Manier auch diejenige Frobergers hervortritt, die genannte Fuge mit Praeludium. Dieser liebt es, am Anfang und Schluß seiner Toccaten bald über bald unter liegenden Accorden eine Art von Passagenwerk zu entfalten, welches die Noten verschiedener Werthe regellos durch einander mischt, und an diesem unruhigen Charakter sogleich erkennbar wird. Aus einem solchen Keime wuchs Buxtehudes Praeludium auf, der aber schönes Gleichmaß, Ordnung und Entwicklung in das Gangwerk brachte; auch seine geistvollen Nachspiele mögen mit den Schlußfigurationen der Frobergerschen Toccate zusammenhängen. Bachs Composition erinnert nicht nur durch die Art des Laufwerks (z.B. die zickzackartig absteigenden Sechzehntel-Gänge) und die massigen Mitklänge sehr an Froberger, sondern auch dadurch, daß die Fuge wieder in ein flüchtiges und innerlich mit ihr garnicht zusammenhängendes Figurenwesen von solcher Ausdehnung zurückkehrt, wie der Componist sie später nie mehr zugelassen hat. Andrerseits fließen doch auch wieder die Passagen ruhiger dahin und erhalten durch Imitationen mehr Zusammenhang, so wie es bei Buxtehude geschieht. Beider Einflüsse scheinen mir in der Fuge zurückzutreten: das Thema ist für den Lübecker Meister nicht beweglich genug, die Art [321] der contrapunctischen Erfindung nicht die seinige, für Froberger ist die Harmonie zu complicirt20.

Zu den bedeutsamsten Werken dieser Periode gehört eine große viertheilige Orgelcomposition in C dur; es ist die motivisch erweiterte Fugenform Buxtehudes im vollentwickelten Wuchs21. Ließ die compositorische Technik schon bei der Mehrzahl der zuvor genannten Arbeiten kaum etwas vermissen, so ist hier auch die inhaltliche Selbständigkeit so groß, daß das Werk hart an der Gränze allseitiger Meisterschaft steht. Der in zwei Handschriften sich findende Zusatz: concertato zeigt, wie es auch als ein Probestück der Virtuosität angesehen wurde, und reicht es hierin noch nicht an Bachs spätere Schöpfungen heran, so erfordert es doch immer schon einen sehr hohen Grad von Finger- und Fußfertigkeit, und klingt mächtig und brillant. Vielleicht schrieb es Bach für sich, als er im Jahre 1707 sich außerhalb Arnstadts hören ließ. Es würde bedenklich sein, eine so frühe Entstehungszeit anzunehmen, läge nicht die Anlehnung um so klarer vor, als es der einzige Versuch Bachs in der motivisch erweiterten Fugenform ist, welchen war nachweisen können. Späterhin hat er ausschließlich die einsätzige und mit allen Kräften nach Innen arbeitende Fuge cultivirt, welche seinem Wesen mehr zusagte; nur in der letzten Epoche seines Schaffens kam aus dem Tiefgange seiner musikalischen Natur die ältere Form noch einmal an die Oberfläche in jener urgewaltigen Es dur-Fuge des dritten Theils der »Clavierübung«. Aber auch das Thema in der ersten Gestalt ist deutlich erkennbar von nordländischen Mustern beeinflußt, vom Laufwerk des Praeludiums und Zwischensatzes zu schweigen. Hingegen regt in der eigentlichen Fugenarbeit ein neuer Geist vernehmlich seine Schwingen: diese schönfließende Belebtheit sämmtlicher Stimmen, deren kaum irgendwo eine bloße Lückenbüßerin ist, diese kühne freigeschwungene Art der Contrapuncte im ersten Fugensatze fliegen schon über Buxtehudes beschränkteres und äußerlicheres Wesen hinaus zu neuen Zielen hin. Merkwürdig ist der zweite Fugensatz. Das dreitheilige Zeitmaß behält er zwar bei, aber die Anmuth und Heiterkeit, welche es doch an seinem Theile herstellen helfen [322] sollte, findet sich nicht. Es ist, als ob ein solcher Schluß Bachs Natur, dem »ernsthaften Temperament«, was ihm der Nekrolog beilegt22, zuwider gewesen sei; hier wenigstens hat er sich nur äußerlich einer Form gefügt, in deren Sinn einzugehen er keine Lust hatte, was wiederum die Composition in die Reihe der Entwicklungsarbeiten verweist, und uns ein neuer Wink ist, weshalb er von der Buxtehudeschen Fugenform so früh schon abging. Ganz im Gegensatze zu diesem Meister ist die Umbildung des Themas breit und gewichtig, die Durcharbeitung ebenso, fast feierlich, belebt sich später sehr schön durch Sechzehntel-Contrapunctirung, und schließt majestätisch in imposanter Accordfülle. Wo Buxtehude sich mit würdevoller Heiterkeit dem Hörer entgegenneigt, wendet Bach in heiligem Ernste das Antlitz nach oben. –

Doch wir haben uns zu erinnern, daß die Verwicklung zwischen unserm jungen Genie und seiner Behörde noch ihrer Lösung harrte. Bach selbst hielt dies nicht für nöthig, und aus den acht Tagen, binnen welcher er seine »kategorische« Erklärung abgeben sollte, waren inzwischen mehr als acht Monate geworden, ohne daß er den Wünschen des Consistoriums wegen des Schülerchors Gehör geschenkt hatte. Man begegnete aber auch dieser stillen Hartnäckigkeit mit neuer Milde, und begnügte sich vorläufig mit einer wiederholten Vorladung, deren kurzes Protokoll ebenfalls erhalten ist23:


»Actum d. 11. Novemb. 706.

Wird dem Organisten Bachen vorgestellet, daß er sich zu erclähren, ob wie ihm bereits anbefohlen er mit denen Schühlern musiciren wolle oder nicht; dann wann er Keine schande es achte bey der Kirchen zu seyn, vnd die Besoldung zu nehmen, müße er sich auch nicht schähmen mit den Schühlern so darzu bestellet so lange biß ein anders verordnet, zu musiciren. Dann es sey das absehen daß dieselben sichexerciren sollen, umb dereinst Zur music sich beßer gebrauchen zu lassen.


Ille

Will sich derwegen schrifftlich erclähren.


[323] Nos

Stellen ihm hierauf ferner vor auß was macht er ohnlängst die frembde Jungfer auf das Chor biethen vnd musiciren laßen.


Ille

Habe Magister Uthe davon gesaget.«

Die in Aussicht gestellte schriftliche Erklärung wird erfolgt sein, denn das Consistorium konnte die Sache unmöglich in ihrer halben Erledigung lassen; wir besitzen sie leider nicht mehr. Bach wird darin die Gründe seines Benehmens aus einer Reihe von einzelnen Conflicten mit den Schülern, etwa wegen deren Unpünktlichkeit, Trägheit, insolentem Benehmen, dann aus ihrer Untauglichkeit zur Musik und vielleicht mit einem Hinblick auf sein eignes ideales Streben und seine Leistungen entwickelt haben. Soviel läßt sich vermuthen; daß aber trotzdem die Mißstände, welche ihm seine Stellung verbitterten, keine gründliche Abhülfe erfuhren, legt sein Lebensgang schon im nächstfolgenden Jahre klar. Er suchte seitdem von Arnstadt fort und in andre Verhältnisse zu kommen; wir werden gleich sehen, daß es nicht um pecuniären Vortheils willen geschah, wie er denn in dieser Beziehung ja ganz zufrieden sein konnte, es müssen also einzig innere Gründe gewesen sein, die ihn hinweg trieben. Ob sie durch das Angeführte erschöpft sind, steht dahin, zu andern Vermuthungen aber fehlt jede sichere Handhabe.

Das Protokoll erwähnt noch einer »fremden Jungfer«, mit welcher Bach in der Kirche musicirt habe; allerdings hatte er es nicht gethan, ohne seinem Pfarrer, dem Magister Uthe, vorher davon Anzeige zu machen24, allein es war doch unangenehm bemerkt worden. Wollte man daraus etwa schließen, die Sängerin habe sich während des Gottesdienstes hören lassen, so würde man gleichwohl im Irrthume sein. So lange die Form der älteren Kirchencantate beibehalten wurde – und diese war damals in Arnstadt wenigstens noch die herrschende – konnte die Versuchung, Frauenstimmen in der Kirchenmusik zu verwenden, garnicht entstehen; erst mit Einführung der neuern, durch den Operngesang wesentlich beeinflußten [324] Cantate wagte man hier und da dem Grundsatze des taceat mulier in ecclesia zuwider zu handeln. Aber auch abgesehen hiervon würde Bach auf eine solche Neuerung schwerlich gesonnen und Uthe sie ganz sicher nicht zugelassen haben, so daß hier immer nur die Rede von einem privaten Musiciren in der Kirche sein kann. Was es nun für eine Sängerin gewesen sein mag, welche mit Bach zu ihrem beiderseitigen Vergnügen in der Neuen Kirche Musik machte, ist eine Frage, die wir nicht ganz ohne Hoffnung einer Lösung aufwerfen. Eine berufsmäßige Künstlerin könnte allenfalls auf Veranlassung der Gräfin von der braunschweig-wolfenbüttelschen Oper herüber gekommen sein. Aber es wäre bei Bachs Natur und musikalischer Richtung ganz unerklärlich, was denn die Bekanntschaft beider herbeigeführt und bis zu der Vertraulichkeit privaten Musicirens gesteigert haben sollte, nicht zu gedenken des Umstandes, daß Opernsängerinnen dem ältern einfachen Kirchengesange sicherlich nur naserümpfend gegenüber standen. Ein Ereigniß des nächsten Jahres zeigt uns die Spur: Bachs Vermählung mit seiner Base, der jüngsten Tochter Michael Bachs aus Gehren. Maria Barbara, so hieß die Erwählte, war am 20. October 1684 in Gehren geboren. Ihre Mutter, bekanntlich die jüngere Tochter des einstmaligen Stadtschreibers Wedemann zu Arnstadt, lebte noch daselbst bis zu ihrem am 19. Oct. 1704 erfolgten Tode. Es ist trotz der Zerstreutheit der Nachrichten ziemlich klar, daß Maria, damals 20 Jahre alt, sich zu der unverheiratheten Schwester ihrer Mutter, Regina Wedemann, nach Arnstadt begab, wo Sebastian sie kennen lernte und liebgewann25. Einige musikalische Befähigung setzt man für die Tochter eines hervorragenden und die Verlobte eines genial begabten Künstlers schon voraus, und wenn sie es nun gewesen wäre, die in jenem gerügten Falle die Sängerin in der Kirche vorstellte, so erschlösse sich uns dadurch eine anmuthige Episode aus dem Liebesleben des jungen Paares. Daß sie eine »fremde Jungfer« genannt wird, ist der Sachlage [325] völlig angemessen, da sie erst als erwachsenes Mädchen nach Arnstadt kam.

Die Art, in der sich Bach seinen eignen Hausstand gründen wollte, zeigt, wie ganz auch er von dem patriarchalischen Sinne erfüllt war, der sein Geschlecht auszeichnete und blühend gemacht hatte. Ohne in fernere Kreise hinüberzuschweifen, fand sein Blick in einer Verwandten, welche seinen Namen trug, die Persönlichkeit, von der er fühlte am sichersten verstanden zu werden. Will man es einen Zufall nennen, so ist es jedenfalls ein sehr bedeutungsvoller, daß Sebastian, in dem die Gaben seines Geschlechts zur höchsten Blüthe gediehen, zugleich auch der einzige unter den Stammesgenossen ist, der wieder eine Bach zur Gattin nahm. Wenn man die eheliche Vereinigung von Individuen aus blutsfremden Familien mit Recht als die Bedingung einer kräftigen Fortentwicklung in den Kindern ansieht, so deutet Bachs Wahl darauf hin, daß in ihm der Gipfel einer Entwicklung erreicht war, indem sein Instinct den natürlichen Weg, weitere Fortbildungen anzustreben, verschmähte und sich zum eignen Geschlechte zurückneigte. Seine zweite Ehe schloß er allerdings mit einer blutsfremden Persönlichkeit, daß aber die erste in gewisser Beziehung ihn in den naturgemäßeren Zustand gebracht hat, darf man vielleicht daraus schließen, daß die bedeutendsten seiner Söhne sämmtlich der ersten Ehe entsprossen sind. Sonst ist seine Verheirathung ein Zeichen, wie er nunmehr die Ausbildungsjahre für beendigt ansah. Als ausübender Künstler wie als Componist hatte er sich auf die Höhe der Zeit gearbeitet, und in der vollständig erworbenen Technik seiner Kunst sich die Form geschaffen, in welcher er von jetzt ab überwiegend Neuem und Eignem Gestalt gab. Natürlich geschah dies zu verschiedenen Zeiten in verschiedener und dem Fortgang seiner Jahre entsprechend in immer großartigerer, tieferer, unerhörterer Weise, und in gleichem Schritte vervollkommnete sich auch das äußere Können, so daß seine letzten Werke kaum mehr als gewisse Grundzüge mit den ersten gemeinsam haben. Zu streben und sich zu bilden hört ja der wahre Mensch niemals auf, ausgebildet hat er sich, wenn seine Kräfte zu eigner Thätigkeit voll erstarkt sind. Daß dies bei Bach der Fall war, zeigt deutlich auch seine Handschrift. Es haben sich freilich keine autographen Compositionen aus dieser Zeit finden lassen, dagegen [326] existiren noch fünf Quittungen über empfangenen Gehalt: vom 16. Dec. 1705, vom 24. Febr., 26. Mai und 15. Sept. 1706 und vom 15. Juni 170726. Die hier sich zeigende Schrift von reizender Klarheit, Eleganz und Sicherheit ist völlig dieselbe, welche uns in den fast unzähligen Werken seines langen Lebens so charaktervoll entgegen tritt. Um die Zeit der Matthäuspassion und der H moll-Messe ist sie wohl kühner, großartiger, aber so sehr sind die Züge sich im Grunde gleich geblieben, daß in sorgfältig und zierlich geschriebenen Partituren jener Zeit, wie der Cantaten »O ewiges Feuer« und »Weinen, Klagen«, fast kaum ein Unterschied von der Schrift des Zwanzig- und Einundzwanzigjährigen erkennbar ist. Die verbreitete Ansicht von Bachs langsamer Entwicklung derjenigen Händels gegenüber erweist sich bei nur annähernder Feststellung dessen, was er in seinen Zwanzigerjahren geschaffen hat, als ein Irrthum, und das Gegentheil würde der Wahrheit näher kommen. Bach war von den Umständen viel mehr begünstigt, als sein ebenbürtiger Zeitgenosse. Nicht nur daß ihn Geburt und alte Familientraditionen schon wie von selbst auf den rechten Weg wiesen, sein nächstes Ziel, die höchste Vervollkommnung der Orgelkunst, war auch auf viel einfachere Weise erreichbar: er leitete die Strebungen seiner bedeutendsten Vorgänger zusammen, überdachte den halbfertigen Dom und vollendete ihn durch himmelanstrebende Thürme. Die ungeahnten Bahnen, welche sein Riesengeist noch darüber hinaus eröffnete, kommen hier zunächst nicht in Frage. Händel mußte sich die Elemente seines Ideals viel mühsamer zusammen suchen, viel andauernder die einzelnen Bausteine seines Kunsttempels bearbeiten, und so sicher seinen Opern, seiner Kammermusik ein eminenter Kunstwerth innewohnt, so sind sie doch Bachs gleichzeitig geschaffenen Instrumentalwerken nicht beizuordnen. Uebereinstimmend mit diesem Verhältniß ist auch beider Stellung zu Mit- und Nachwelt: Bachs Ruhm gründet sich hauptsächlich auf die in seiner frühern und mittlern Lebenszeit geschaffenen Instrumentalstücke, derjenige Händels auf die in seinem mittleren und [327] höheren Alter entstandenen Oratorien. Da Bach sich vorzugsweise vertiefte, weniger ausbreitete, so fallen auch seine Lehr- und Wanderjahre zusammen, wenn von letzteren überhaupt viel die Rede sein kann. Er trat mit 22 Jahren in die Meisterzeit, und nach echt deutscher Sitte gehört zum Meister eine Meisterin. Es gehören auch Lehrlinge dazu, und vom Jahre 1707 an werden wir solche zu erwähnen haben.

Vorher jedoch sollte das Dienstverhältniß in Arnstadt gelöst werden. Es wird erzählt, daß ihm um diese Zeit, also in den Jahren 1706 und 1707, verschiedene Organistenstellen kurz nach einander angeboten seien27. Die Entscheidung brachte eine zu Ostern des letztgenannten Jahres abgelegte Spielprobe in der Blasiuskirche zu Mühlhausen.

Fußnoten

1 Noch Adlung in der »Anleitung zur musikalischen Gelahrtheit« aus dem Jahre 1758 konnte dagegen eifern, »wenn einige Organisten zu der Zeit, da die Gemeinde mit singet, zu variiren pflegen, als wenn sie auf den Choral vorspielen wolten; da hört man 2stimmige Variationes und Diminutiones, da bald der Baß, bald die Oberstimme sich lustig machen, da zappelt man mit den Füssen, man colorirt, man bricht, man hackt, und was des Zeuges mehr, daß man nicht weiß, was es seyn soll. Ist wohl solches ein ächtes Mittel, die Gemeinde in der Ordnung zu halten? ich glaube vielmehr sie zu verwirren.« (S. 681 und 682.)


2 Man wird an eine Anekdote aus Beethovens Jugend erinnert, der in der Hofkirche zu Bonn einmal einen sehr musikkundigen Sänger durch seine kühnen Modulationen aus dem Concept brachte. Thayer, Beethovens Leben I, 161.


3 Den reinen Choralsatz hat Bach mit einigen Ausbesserungen und reichlicheren Verzierungen in das für seinen Sohn Friedemann 1720 angelegte Clavierbüchlein eingetragen, offenbar damit er daran die elegante Anwendung der Ornamente üben sollte. Für diesen Zweck paßt er auch besser, als zur Begleitung des Gemeindegesanges. Er steht veröffentlicht P.S. V, Cah. 5, Nr. 52; die erste Gestalt ebendaselbst als Variante zu Nr. 52.


4 Uhlworm, Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums zu Arnstadt. Dritter Theil. S. 7–9 (Programm des Gymnasiums zu Arnstadt vom Jahre 1861).


5 Das Protokoll wird als besonderes Actenheft auf dem fürstlichen Archive zu Sondershausen aufbewahrt und trägt die Aufschrift: »Joh. Sebastian Bachen, Organisten in der Neuen Kirche betr. wegen Langwierigen Verreißens vnd Unterlaßener Figuralmusic. 706.« Ich habe nur die zum Verständniß nothwendigen Auflösungen der Abbreviaturen vorgenommen, und wenige Male die Interpunction geändert.


6 Vermuthlich war es sein Vetter Ernst Bach.


7 Kann dem Zusammenhange nach nur einen melodiefremden Ton bezeichnen.


8 Einen Ton, der eine andre Harmonie voraussetzt.


9 Hier folgt im Original das Wörtchen »er« – ein Flüchtigkeitsversehen des Protokollführers.


10 Name des Chorpräfecten. »Johann Andreas Rambachen wegen Choralsingens in der N. Kirche vonMich. 1705. biß Trinitatis 1706. 9. Monathe: 7 fl. 10 ggr. 6 pf.« (Gotteskasten-Rechnungen im Raths-Ar chive zu Arnstadt, pag. 63). Sein Nachfolger wurde von der zweiten Hälfte des Jahres an Johann Chr. Rambach (ebendaselbst pag. 64).


11 Vielleicht Andreas Gottlieb Schmidt, der sich 1728, da nach Börners Tode Ernst Bach an die Oberkirche kam, um den Organistendienst an der Neuen Kirche bewarb, nachher aber zurücktrat, weil er schon »geraume Zeit außer dem Exercitio« sei, und so geschwinde wohl nicht wieder würde in Uebung kommen können. Er war damals Registrator (Acta, die Bestallung der Organisten zu Arnstadt betr. fol. 132).


12 Mizler, a.a.O., S. 162: »In der Orgelkunst nahm er sich [in Arnstadt nämlich] Bruhnsens, Reinkens, Buxtehudens Werke zu Mustern.«


13 P.S. V, C. 3, Nr. 9.


14 Unveröffentlicht; erhalten auf der königl. Bibliothek zu Berlin in einer alten Handschrift (Sammelband, sign. 287) aus dem Nachlasse des Organisten Westphal zu Hamburg, welcher 1830 zur Versteigerung kam. Vollständiger Titel daselbst: FANTASIA. clamat in G ? di Johann Sebastian Bach.


15 P.S. V, C. 4, Nr. 11.


16 Handschriftlich aus dem Nachlasse des früheren dessauischen Musikdirectors F.W. Rust; jetzt im Besitz von Herrn Dr. W. Rust in Berlin.


17 Aus dem Nachlasse des Bruders von F.W. Rust, der seiner Zeit in Bernburg lebte; jetzt ebenfalls Eigenthum von Herrn Dr. Rust in Berlin. Die Handschrift trägt die Datirung: »Bernburg, 1757«.


18 Mizler, S. 160.


19 Anleitung zur musik. Gelahrtheit, S. 711.


20 S. Anhang A. Nr. 15.


21 P.S. V, C. 3, Nr. 7. – B.-G. XV, S. 276. S. Anhang A. Nr. 16.


22 Mizler, a.a.O., S. 170 und 171.


23 Im erwähnten Actenhefte fol. 3.


24 M. Just. Christian Uthe (geb. 1680) war von 1704–1709 Prediger an der Neuen Kirche; s. Hesse, Verzeichniß schwarzburgischer Gelehrten und Künstler Nr. 333. Rudolstadt, 1827.


25 Die Hauptstütze dieser Vermuthung wird aus der Erzählung ihrer Verheirathung klar werden. Sodann fällt ins Gewicht, daß Maria Barbara in Arnstadt einige junge Freundinnen besaß, welche sie später zu ihren Kindern Philipp Emanuel und Gottfried Bernhard von Weimar aus zu Pathen bat; unter ihnen war eine Tochter des Organisten Herthum.


26 Die vier ersten befinden sich auf dem Rathhause zu Arnstadt, die letzte bewahrt jetzt die Ministerialbibliothek zu Sondershausen. Die Quittung vom 16. Dec. 1705 ist natürlich vor- oder nachdatirt, da der Empfänger sich damals nicht in Arnstadt befand.


27 Dies berichtet Forkel a.a.O. S. 6, und kann es schwerlich ganz erfunden haben.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Pascal, Blaise

Gedanken über die Religion

Gedanken über die Religion

Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.

246 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon