VII.

Um die Passionen Bachs historisch zu begründen, pflegt man sich mit einem Hinweis auf die dramatisirten Evangelienlectionen und allenfalls einem Seitenblick auf das Oratorium und die Oper zu [306] begnügen. Die Sache ist jedoch so einfach nicht. Es mußten viele und verschiedenartige Elemente zusammenwirken, damit diejenigen Schöpfungen entstehen konnten, welche wir als höchste Spitzen protestantischer Kirchenmusik bewundern.

Der Brauch, die Passionsgeschichte nach den vier Evangelisten an je vier Tagen der stillen Woche mit vertheilten Rollen abzusingen, hat sich ziemlich früh in der Kirche des Mittelalters festgesetzt. Der Zweck war, die Dinge um welche es sich handelte für die Anschauung des Volkes möglichst deutlich zu machen, da die lateinischen Worte von den wenigsten verstanden wurden. Ein Geistlicher sang die erzählenden Partien, ein zweiter die Worte Christi, ein dritter die der übrigen einzelnen Personen, gleichzeitige Äußerungen mehrer (der ganze Haufe, turba) wurden vom Chor wiedergegeben. Die protestantische Kirche behielt diese Besonderheit des Passionscultus bei. Zwar erachtete es Luther für unnöthig, daß alle vier Passionen abgesungen würden, und legte überhaupt auf die Sache kein großes Gewicht.1 Doch hatte Johann Walther schon 1530 die Passionsgeschichte nach Matthäus und Johannes mit deutschem Text für den kirchlichen Gebrauch hergerichtet, von welchen die erstere dem Palmsonntage, die letztere dem Charfreitage bestimmt wurde.2 Derselbe Künstler verfertigte 1552 eine aus den vier Evangelisten zusammengestellte Passionsmusik zu vier Stimmen mit deutschem Text3. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts kam die deutsche Passion im protestantischen Gebiete allgemein in Aufnahme. Schon im Jahre 1559 begegnen wir abermals einer Matthäuspassion in Meißen;4 das Jahr 1570 bringt, soviel bis jetzt bekannt ist, die erste gedruckte,5 andere folgten 1573 und 1587.6 Darnach sind auch [307] das 17. Jahrhundert hindurch diese Passionsaufführungen in den protestantischen Kirchen gebräuchlich geblieben: Melchior Vulpius ließ 1613 eine Matthäuspassion erscheinen, zwei Passionen des Thomas Mancinus nach Matthäus und Johannes gingen 1620 im Druck aus, 1653 ließ Christoph Schultz, Cantor zu Delitzsch eine Lucaspassion zu Leipzig drucken, desgleichen finden sich in Vopelius Neuem Leipziger Gesangbuch von 1682 die Passionen nach Matthäus und Johannes.7 Und kein geringerer als Heinrich Schütz war es, welcher in vier allerdings nur handschriftlich vorhandenen Tonwerken die Leidensgeschichte je nach den vier Evangelisten in dieser Form behandelte.8 Bis tief ins 18. Jahrhundert hinein hat diese alte Sitte Bestand gehabt. In Leipzig wurden, wie schon früher erzählt worden ist (S. 103 f.), die Passionsabsingungen erst 1766 abgeschafft. 1735 componirte noch der Cantor Kramer zu Dosdorf bei Arnstadt ein Werk in diesem Stile, welches genau übereinstimmt mit dem im Arnstädter Gesangbuch von 1745 abgedruckten Passionstexte, und über diesem steht, daß er »an den meisten hierher gehörigen Landen und Orten, jährlich am Charfreitage pflegestylo recitativo abgesungen zu werden«.9

Die musikalische Form dieser Passionen ist eine so stereotype, daß man es nicht begreifen würde, wie sie so oft haben gedruckt, und, soweit sich der Ausdruck überhaupt anwenden läßt, neu componirt werden können, wenn eben nicht der Brauch im kirchlichen Leben tiefe Wurzeln geschlagen hätte. Fast durchweg stehen sie in der transponirten ionischen Tonart (F dur). Die Einzelstimmen recitiren [308] im Choralton, die melodisch sehr wenig bewegten Tonreihen gleichen sich meist bis auf unbedeutende Abweichungen. Der Erzähler (Evangelist) hält die Tenorlage, Christus singt Bass, die übrigen Personen werden durch eine Altstimme vertreten, auch das Weib des Pilatus und die beiden Mägde, obwohl in der Regel der Alt im 16. und 17. Jahrhundert von Männern gesungen wurde. Vereinzelt findet sich für diese Personen auch ein Solo-Discant, z.B. in den Passionen von Walther (1552), Schultz und Kramer10. Etwas mehr Entwicklung und Mannigfaltigkeit thut sich in den figuralen Partien hervor. Zum Theil sind auch die turbae so einfach und recitirend gehalten, daß sie kaum den Namen Figuralmusik beanspruchen könnten, wenn nicht hier und da eine ausgebildetere melodische Wendung, eine charakteristische Harmonienfolge sich bemerkbar machte. Manchmal indessen stößt man auch auf reichere, kunstvollere und im 17. Jahrhundert auf dramatisch belebtere Tonbilder. Melchior Vulpius läßt die zwei falschen Zeugen, deren Worte gemeiniglich auch vom vierstimmigen Chor vorgetragen wurden, wirklich zweistimmig und gar in Imitationen singen. Er läßt in sehr affectvollen Situationen die Worte mehrfach wiederholen. Als das Volk den Barrabas fordert, muß der Chor das Wort »Barrabam« sechsmal in syncopirten, leidenschaftlichen Rhythmen ausstoßen; als es zum zweiten Male ruft »Laß ihn kreuzigen«, theilt sich der Chor in zwei Gruppen, die tieferen Stimmen rufen es den höheren nach, dann vereinigen sie sich. Während im übrigen Vierstimmigkeit herrscht, ist hier sechsstimmiger Satz angewendet. Ähnliches findet sich an denselben Stellen bei Schultz. Den Schluß der Passion pflegte ein kurzer Dankgesang zu machen, auch Gratiarum actio genannt, wie man denn überhaupt – ein Kennzeichen des altkirchlichen Ursprungs – selbst die lateinischen Personenbezeichnungen (ancilla, servus, Pilati uxor, latro, centurio oder miles) in diesen Passionsmusiken fast beständig beibehalten hat. Die Worte der Danksagung waren: »Dank sei unserm Herrn Jesu Christo, der uns erlöset hat durch sein Leiden von der Hölle«. Wenngleich man sie in entsprechender Kürze componirte, so war hier doch Gelegenheit [309] einer rein lyrischen Empfindung Ausdruck zu geben, was dann auch zur Entfaltung reicherer Tonmittel trieb. Im 17. Jahrhundert genügten oft jene schlichten Worte für die Innigkeit und Lebendigkeit der Empfindung nicht mehr. Man findet an ihrer Statt Strophen von Kirchenliedern in motettenartiger Composition, wie bei Schütz, auch wohl freie Dichtung in Liedform componirt, wie in sehr ansprechender Weise bei Schultz. Entsprechend dem Beschluß wurde der Anfang ebenfalls durch einen betrachtenden Chor gemacht. Hier dienten als Text nur die ankündigenden Worte »Das Leiden unsers Herren Jesu Christi, wie uns das beschreibet der heilige Evangelist«, oder »Das Leiden« (auch »das bittere Leiden«) »und Sterben unsers Herren Jesu Christi nach dem heiligen Evangelisten« oder ähnlich. Durch den Chorgesang sollte die Bedeutsamkeit der Ankündigung ausgedrückt werden. Durchaus feststehend war aber die Einführung eines Chors weder am Anfang noch am Schluß: es kam auch vor, wie in der Leipziger Matthäuspassion bei Vopelius, daß im einstimmigen Choralton begonnen und geendigt wurde.

Wenn überhaupt die Musik herbeigezogen wurde, um den Cultus der Passionswoche zu schmücken und die ihn bedingenden Ereignisse aus dem Leben Christi in ihrem Spiegel aufzufangen, so konnte ihr diese Form nicht mehr genügen, sobald sich die Musik zu ihrer vollen Kraft entfaltet hatte. Neben der alten choralischen Passion entstanden daher schon während des Beginns der Blütheperiode des mehrstimmigen Gesanges Compositionen der lateinischen Passionstexte, die durchweg im figuralen Stile und motettenartig gehalten waren. Auch diese Gattung wurde von den protestantischen Tonsetzern mit Anwendung des verdeutschten Bibelwortes gepflegt. Die älteste mir bekannte deutsche Passionsmusik der Art ist von Johann Machold und 1593 zu Erfurt herausgekommen.11 In der Vorrede weist der Componist auf eine Passion Joachims von Burck hin, die »vor etlichen Jahren« entstanden sei und ihm als Muster gedient habe; demnach wird auch sie eine motettenartige Musik gewesen sein.12 Machold [310] hat, was Burck nicht gethan hatte, die Erzählung des Matthäus componirt, und lebte der Hoffnung, man werde zuweilen mit der seinigen abwechseln und »nicht stets auf einer Saite geigen«. Es geht hieraus hervor, daß solche Passionsmusiken ebenso wie die Choralpassionen im Cultus ihren festen Platz hatten. Den Anfang bildet, wie in den Choral-Passionen, der ankündigende Chor, am Schlusse steht ein liedartiger Satz über die Worte: »O Jesu Christe, Gottes Sohn, Wir bitten dich in deinem Thron, Laß uns das bittre Leiden dein Zu Trost und Heil geschehen sein«. Höheren Kunstwerth kann man dem schlicht und anspruchslos auftretenden Werke nicht beimessen, wohl dagegen einer sechsstimmigen Johannes-Passion gleicher Gattung von Christoph Demantius, welche 1631 zu Freiberg in Sachsen herauskam.13 Auch sie beginnt mit den ankündigenden Worten »Höret das Leiden unsers Herrn Jesu Christi aus dem Evangelisten Johannes«, und läßt hieraus deutlich erkennen, daß Demantius nicht etwa nur eine Composition des Evangeliums im allgemeinen, sondern gradezu eine musikalische Umgestaltung der alten Choral-Passion beabsichtigte; auch die Überschrift »mit sechs Stimmen aufs neue componirt« giebt dieses kund. Breitere motettenhafte Ausführungen verwehrte natürlich die Fülle des Textes, in den erzählenden Partien wird rasch fortgeschritten, die Reden der Personen heben sich durch dramatisch bewegte Tonreihen hervor, zu welchen auch Wort- und Satz-Wiederholungen statt finden; Einzelgesang ist indessen ganz ausgeschlossen: die Personen werden durch kleinere Stimmen-Gruppen, in welche sich die gesammte Chormasse theilt, angedeutet. Den Schluß macht auch hier wieder eine allgemeine Betrachtung mit den auf Joh. 19,35 Bezug nehmenden Worten »Wir glauben, lieber Herr, mehre unsern Glauben. Amen.« Es existirt eine lateinische achtstimmige Johannes-Passion von Gallus aus dem Jahre 158714; sie ist in der nämlichen Weise componirt [311] und die Betrachtung der Werke von Machold und Demantius führt wie von selbst zu ihr zurück. Sie bietet den Stoff in drei Abschnitte gegliedert dar, dasselbe thut die Passion des Demantius und zwar finden die Eintheilungen ziemlich genau an den gleichen Stellen statt: der erste Theil schließt hier mit den Worten Christi »Warum schlägst du mich«, der zweite beginnt mit Christi Hinführung vor Caiphas und endigt mit den Worten der Hohenpriester »Wir haben keinen König denn den Kaiser«, der dritte enthält Christi Kreuzigung und Tod. Bemerkt man nun, daß auch Macholds Passion dreitheilig ist, und soweit bei der Verschiedenheit des Evangelium-Textes dieses angeht, an ungefähr denselben Stellen seine Theile abschließt, so erscheint die Annahme begründet, daß hierin eine durch die Praxis hergestellte festere Form vorliegt, und sind der bekannten deutschen Passionen in Motettenform einstweilen auch nur wenige, so dürfen wir doch schließen, daß die Gattung zeitweilig eifriger gepflegt wurde. Demantius Passion beweist, daß dieses keineswegs nur im 16. Jahrhundert geschah. Es ist die erste Art die Leidensgeschichte durch die gesammten Mittel der damaligen Tonkunst zu bewältigen. Sie hat als solche ein bedeutendes geschichtliches Interesse sowohl im Hinblick auf die spätere Kirchenmusik als auf das Oratorium.

Als Mittelbildungen zwischen der choralischen und der motettenartigen Passion sind diejenigen Compositionen anzusehen, in welchen die Erzählung des Evangelisten und auch wohl die Reden Christi im Choralton recitirt werden, während alles übrige mehrstimmig gesetzt ist. Auch diese Form, welche unter den katholischen Tonmeistern z.B. Orlando Lasso und Jakob Reiner angewendet haben, ist von protestantischen Componisten nachgeahmt. Es gehört hierher die bekannte Passionsmusik von Bartholomäus Gese aus dem Jahre 1588.15

Drei Formen also lagen vor, als von Italien aus die concertirende Kirchenmusik in Deutschland Eingang fand. Ihre Elemente lassen sich in den Werken von Heinrich Schütz, des größten protestantisch-deutschen Musikers des 17. Jahrhunderts leicht wieder erkennen. [312] Dessen »Sieben Worte Christi am Kreuz« behandeln freilich nur einen Ausschnitt der Leidensgeschichte, man muß das Werk aber doch zur Gattung der Passionen rechnen.16 Es hat von der choralischen Passion die einstimmige Recitation des Evangelisten und der redend eingetührten Personen, von der motettenartigen Passion dagegen die zweimalige Anwendung des vierstimmigen Gesanges zu erzählenden Worten. Es theilt mit den Passionsmusiken älteren Zuschnittes auch die betrachtenden Chöre am Anfang und Ende. Daß diese sich über besonderen, sinnreich ausgewählten Texten aufbauen, ist wenigstens hinsichtlich des Schlußchores nichts neues, wie die obigen Auseinandersetzungen beweisen; hier ist zu diesem Zwecke das protestantische Kirchenlied »Da Jesus an dem Kreuze stund« mit je einer Strophe für Anfangs- und Schlußchor benutzt, doch ohne Berücksichtigung der zugehörigen Melodie nur als angemessene Dichtung. Neu dagegen erscheint, und zwar durch den concertirenden Stil bedingt, die Instrumentalbegleitung und die nach dem ersten, sowie vor dem letzten Chore ertönenden stimmungsvollen Instrumentalsinfonien, neu auch, und zwar durch die dramatische Musik bewirkt, die Beseitigung des Choraltons und dessen Ersetzung durch das gegen 1600 erfundene Recitativ. Es war diesem Werke, welches demnach sehr verschiedene Elemente zu einer neuen Form vereinigt, schon ein wenn auch nicht dem Stoffe so doch der künstlerischen Behandlung nach ähnliches voraufgegangen. In der »Historie der fröhlichen und siegreichen Auferstehung unsers einigen Erlösers und Seligmachers Jesu Christi« (1623) ist für den Evangelisten noch der Choralton beibehalten, obgleich derselbe schon eine merkliche Neigung zeigt, in die Weise der neu erfundenen Monodie hinüberzugehen. Anfangs- und Schlußchor sind nach alter Art, desgleichen ein dramatischer Chor der Jünger, der Gesang der Personen ist zum Theil mehrstimmig ohne dramatische Veranlassung, wie in den motettenartigen Passionen, während die Generalbassbegleitung dem Boden der neuen Kunst entsprossen ist.

Nur für den ersten Blick scheinen Schützens vier Passionen sich noch ganz in der alten liturgischen Form zu bewegen. Der Evangelist recitirt, bei den Reden gewisser Personen oder Personen-Mehrheiten[313] fallen besondere Sänger ein, betrachtende Chöre umschließen das Ganze, Instrumentalbegleitung fehlt. Aber bei genauerer Prüfung ergiebt sich, daß in der Matthäuspassion wenigstens die Einzelsänger sich nicht mehr des Choraltones sondern thatsächlich schon des neuen Recitativs bedienen, und daß nur äußerlich die alte Schreibweise noch beibehalten ist. Dem Choraltone ist ein sehr geringes Maß melodischer Bewegung eigen, nur am Beginn und Schluß eines Kolons pflegen einige melodische Schritte gemacht zu werden, diese bestehen aus wenigen immer wiederkehrenden Formeln, die Redeschlüsse finden fast ausnahmslos auf dem Grundtone oder der Quinte statt. In den zu recitirenden Partien der Matthäuspassion bemerkt man eine unausgesetzte, mannigfaltige melodische Bewegung, welche fast eine Generalbassbegleitung zu fordern scheint, und der eben nur noch einige an den Choralton erinnernde Wendungen eingemischt sind. Nicht mehr die gleichmäßige kirchliche Ruhe, sondern eine lebendige persönliche Empfindung beherrscht sie. Das zeigt sich auch in den beim Choralgesange gänzlich ungebräuchlichen Wort- und Satzwiederholungen. So z.B. singt Judas:


7.

Oder:


7.

In der Lucas- und Johannespassion findet sich ebenfalls das unter der Choralmaske versteckte moderne Recitativ, doch ist es merklich alterthümlicher gefärbt, während in der Marcus-Passion die alte Choralweise in ihrer ganzen Einfachheit beibehalten ist. Matthäus- und Johannespassion weisen auch nicht mehr die übliche Tonart auf: erstere steht in der transponirten dorischen, letztere in der phrygischen. Sieht man von dem Sologesange auf die dramatischen Chöre, so macht sich hier eine Lebhaftigkeit und Schärfe des Ausdrucks [314] bemerkbar, wie sie eben nur durch die Entwicklung der concertirenden Musik möglich gemacht war. In der Marcuspassion, welche an leidenschaftlichen Chören am reichsten ist, contrastirt mit diesen seltsam die eintönige Psalmodie des Einzelgesanges, in den andern Werken und am vollkommensten in der Matthäuspassion ist der Gegensatz durch die Verlebendigung des alten Choralgesanges zur neueren Monodie ausgeglichen. Auch die betrachtenden Chöre am Anfang und Ende zeigen jene freiere und kühnere Art der Stimmenführung, welche durch den concertirenden Stil herbeigeführt wurde. An der Anfangsstelle sind in allen vier Passionen die ankündigenden Worte componirt. Die üblichen Danksagungsworte finden sich aber nur am Schluß der Marcuspassion, welche auch hierdurch sich enger an die alte Form anschließt. Für die andern hat sich Schütz Kirchenliedstrophen gewählt: für die Matthäuspassion die letzte Strophe von »Ach wir armen Sünder«, für diejenige nach Lucas die neunte Strophe von »Da Jesus an dem Kreuze stund« mit etwas abgeändertem Text, für die Johannespassion die letzte Strophe von »Christus der uns selig macht«. Den Zweck einer engeren Anknüpfung an, den Gemeindegesang verfolgte Schütz aber hiermit nicht oder kaum. Nur in dem letzten dieser drei Fälle hat er die Choralmelodie benutzt und motettenartig durchgearbeitet; die andern Texte hat er mit einer ganz frei erfundenen Musik versehen, wie wir ähnliches auch in den »Sieben Worten« und andern seiner Werke finden. Die geistlichen Lieder boten außer dem Bibelwort damals immer noch die brauchbarste Poesie für deutsche Kirchenmusik; aber schon Schützens Streben richtete sich darauf, die madrigalische Dichtung der Italiäner in Deutschland einzuführen und mit großer Freude bewillkommnete er Caspar Zieglers erste dahin gehende Versuche.17 In diesen Passionen ist eine eigenthümliche Mischung von alt und neu, doch das neue überwiegt und dieses war, wie Schütz es verstand, nicht kirchlich, sondern theils geistlich, theils weltlich; es war das Oratorium.

Im weiteren Verlaufe des 17. Jahrhunderts geht nun die musikalische Umbildung der deutschen Passion der allmähligen Veränderung der gesammten protestantischen Kirchenmusik durch ihre [315] verschiedenen Phasen fortwährend parallel. Der recitirende Gesang behält den ariosen Charakter, den er bei Schütz hat, im wesentlichen bei; auch in den Kirchencantaten bis um 1700 kommt ja das eigentliche Recitativ noch nicht vor. Die Instrumentalbegleitung wird stehend, bescheidene Versuche sie selbständiger zu gestalten werden bemerkbar, an passenden Stellen treten kurze Sinfonien ein. In den Chören, die mit Vorliebe fünfstimmig gesetzt werden, herrscht dasselbe schwächliche und engbrüstige Wesen, das wir bei den Cantaten zu constatiren hatten: viel Homophonie, hier und da kurze Imitationen, kleine Abschnitte, häufige Ritornelle. Die bezeichnende Form dieser Zeit ist die geistliche Arie: sie tritt jetzt auch in die Passionen ein. Ich finde sie unter ihrem Namen zuerst angewandt in einer Lucas-Passion des Lüneburger Cantors Funcke vom Jahre 168318. Eine Rudolstädter Passionsharmonie von 1688, die aber nur etwas schon länger gebräuchliches fixirt, ist mit mehrstrophigen Arien schon sehr reich versehen19. Das gleichzeitige Auftreten derselben Erscheinung an zwei ziemlich weit von einander entfernten Orten gestattet den Schluß, daß die Sitte, geistliche Arien in die Passionsmusik einzulegen, schon seit geraumer Zeit verbreitet war. Zu den Arien darf auch das »Danksagungs-Liedchen für das bittre Leiden Jesu Christi« gerechnet werden, welches den Beschluß der Matthäus-Passion des Johannes Sebastiani aus dem Jahre 1672 bildet20. Denn wenngleich die Gratiarum actio in liedartiger Form längst nichts neues mehr war, so fehlte ihr früher doch die der Arie eigenthümliche Instrumentalbegleitung. Außerdem sind in Sebastianis Werk »zu Erweckung mehrer Devotion« eine Anzahl Choräle eingelegt. Sie sollen ebensowohl wie das Danklied bis auf seine letzte Strophe nur von einer Singstimme, dem Discant, zur Begleitung von vier »tiefen Violen« und Generalbass, also auf Arienweise gesungen werden. Dies ist eine neue Erscheinung in der Entwicklung [316] der deutschen Passionsmusiken. Man hat sich bisher begnügt sie nur zu constatiren anstatt zu erklären. Wir müssen daher einen Augenblick bei ihr verweilen. Die Weise, wie Sebastiani den Choral in seiner Passion verwendet, kann selbstverständlich nicht das anfängliche gewesen sein. Sie setzt bereits eine Phase der Entwicklung voraus, in welcher die hier als Arien behandelten Choräle von der ganzen Gemeinde gesungen wurden, wie solches das Wesen derselben ursprünglich fordert. Eine derartige Theilnahme der Gemeinde hat bei der alten choralischen Passion in der That stattgefunden. Daß die Gemeinde vor der Passion und mit Anschluß an sie auch nach derselben ein Lied sang, war schon durch die Ordnung des Gottesdienstes gegeben, denn die Absingung der Passion in der Charwoche stand ja an Stelle der sonntäglichen Evangelienlection. Aber hiermit begnügte man sich nicht. Weil die Absingung lange dauerte, wurden um die Theilnahme der Gemeinde frisch zu erhalten und die erbauliche Wirkung zu erhöhen an passenden Stellen Ruhepunkte gemacht, an welchen die versammelte Christenheit mit einem bezüglichen Liede eintrat. Wir haben hierfür Zeugnisse, deren Werth dadurch, daß sie aus späterer Zeit als die Sebastianische Passion stammen, eher erhöht als vermindert wird. Denn was sich unter den revolutionären Bewegungen des beginnenden 18. Jahrhunderts, welche alle echte Kirchenmusik zu vernichten drohten, kräftig erhalten konnte, ruhte gewiß auf altem erprobtem Fundamente. In einem 1709 zu Merseburg erschienenen Passionsbüchlein21 sind die Erzählungen der Leidensgeschichte nach den vier Evangelisten in der Form abgedruckt, wie man sie damals zu Merseburg noch aufführte. Man sieht sogleich, daß es in der alten choralischen Form geschah, man könnte auch sagen in der ältesten, denn die Danksagung am Schlusse fehlt und der nur bei der Matthäuspassion angebrachte Introitus »Höret das Leiden« wird nicht vom Chor gesungen, sondern vom Evangelisten choraliter recitirt.22 Arien sind gänzlich [317] ausgeschlossen, nicht so Choräle. Diese aber finden sich nicht mit abgedruckt, sondern es wird durch eine eingeklammerte Angabe des Anfangs der Strophen und meistens auch der Seite im Passionsbuche auf sie verwiesen mit den Worten »Hier wird gesungen aus dem Liede« u.s.w. Gewöhnlich sind es eine oder einige Strophen des Stockmannschen »Jesu Leiden, Pein und Tod«, in welchem bekanntlich die gesammte Passionsgeschichte versificirt ist; mit ihnen begleitete die Gemeinde den Verlauf der ganzen Handlung. Es werden aber auch andre fünf-, sechs-, sieben- und zehn-strophige Lieder gelegentlich angemerkt, welche vollständig gesungen werden sollen, gegen Schluß der Johannespassion ist gar das einundzwanzig Strophen zählende Lied »Nun giebt mein Jesus gute Nacht« vorgeschrieben. Außer diesen Chorälen findet man dann noch an gewissen Stellen eine oder zwei Liedstrophen vollständig hingedruckt; vermuthlich sollte diese der Abwechslung halber der Chor allein vortragen. Auch von andrer Seite wird eine derartige Theilnahme der Gemeinde bezeugt. Bei der erstmaligen Aufführung einer madrigalischen Passionsmusik in einer Stadt Sachsens sang ein Theil der Anwesenden den ersten Choral ganz ruhig und andächtig mit, war aber hernach sehr unangenehm verwundert, da es so ganz anders kam, als sie es gewohnt waren.23 Sebastiani selbst gab 1686 ein Büchlein heraus »Kurze Nachricht, wie die Passion ... in einer recitirenden Harmonie abgehandelt und nebst den darin befindlichen Liedern gesungen wird«, aus welchem hervorgeht, daß er es der Gemeinde freistellte die Lieder mitzusingen.24 Und auch als die Passion sich musikalisch reicher und reicher gestaltete, hielt man hier und dort noch an der Sitte fest und ließ bei den Chorälen die Gemeinde einstimmen.25 Aber je mehr die geistliche Arie eindrang, desto mehr mußte man hiervon abkommen. Sebastiani steht schon auf der Gränze. Seine Choräle sind freilich sämmtlich älteren [318] Ursprungs, aber die Art wie sie vorgetragen werden sollten, ist keine alt-choralmäßige mehr. Arienhaft wurde jetzt der ganze Choralgesang; die neuen Melodien, die in reicher Anzahl und hervorragender Schönheit in dieser Periode noch geschaffen wurden, waren Arien, und man nahm keinen Anstand auch Choräle wie Paul Gerhardts »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld« mit der alten Melodie »An Wasserflüssen Babylon« ebenso zu nennen.26 Wie in Sebastianis Passion finden sich auch in den Kirchencantaten jener Zeit, z.B. denjenigen Buxtehudes, Choräle für eine Sopranstimme mit Instrumentalbegleitung, hier aber in einem Zusammenhange, der den Gedanken an eine Mitwirkung der Gemeinde völlig ausschließt. Daß dies immer mehr geschah, war naturgemäß, denn die Arie drückt Einzelempfindung aus. So sollen endlich in Seebachs unten genauer charakterisirter Passion gar die einzelnen dramatischen Personen Jesus, Johannes, die Mutter Gottes, die Braut Christi bald Recitative, bald Arien, bald Choräle singen. Unleugbar nimmt der Choral im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts einen beträchtlichen Raum innerhalb der Passionsmusiken ein. Das beweist aber nicht etwa eine innigere Theilnahme der Gemeinde an ihnen, nicht etwa eine entschiedenere Verschmelzung derselben mit dem Cultus. Im Gegentheil, es bezeugt eben so wie das Aufkommen der Arie selbst, welche dem Choral seinen breiten Platz in den Kirchenmusiken behaupten half, eine Verflüchtigung des lebendigen kirchlichen Gemeinsinnes. Weisen, in die man früher begeistert eingestimmt hatte, ließ man sich jetzt vorsingen und begnügte sich mit der blassen Nachempfindung. Es ist dieselbe Zeit, ad der protestantische Choral in der Orgelmusik sich die Heimath suchte, welche er im Gesange zu verlieren begann. Wo der Choral in diesen Passionen mehrstimmig gesetzt ist, zeigt er sich in der denkbarst einfachen Form. Wenn Eccard und Hassler Choräle »auf den contrapunctum simplicem« setzten und die Melodie in die Oberstimme legten, so war in den übrigen Stimmen doch immer noch ausdrucksvolle Bewegung und kräftige, originelle Harmoniebildung genug vorhanden. Jetzt begnügte man sich mit der schlichtesten Stimmführung und den nächstliegenden [319] Harmonien. Hierbei mag anfänglich noch die Nebenabsicht gewaltet haben, der Gemeinde das Mitsingen bequem zu machen. Aber wie wenig man bald hernach hieran noch dachte, beweisen die Partituren sowohl, wie die gedruckten Texte, indem die Choräle ebenso wie die Gesänge des jüdischen Volkes, der Jünger, der Hohenpriester ganz einfach mit Chorus bezeichnet werden. Für die Passionen galt in der Folge genau nur das, was für die Kirchencantaten galt; bei deren Chorälen fiel es keinem Componisten ein, auf die Mitwirkung der Gemeinde zu reflectiren, sie werden vielmehr immer in einem entschiedenen Gegensatze zum Gemeindegesang gedacht.27 Der Choral trat nun auch an Stelle der alten ankündigenden und danksagenden Worte, oder wenn man diese pietätvoll beibehielt, so gab es meistens einen Choral in den Kauf. Für die Danksagung wurde die letzte Strophe des Liedes »Jesu meines Lebens Leben« (»Nun wir danken dir von Herzen«) fast allgemein üblich. Zur Einleitung wurde nach freier Wahl irgend ein Passionslied benutzt. Die Instrumente verstärken den Gesang und wagen sich höchstens mit kleinen wenig sagenden Zwischenspielen hervor. Selten findet sich einmal eine Paraphrase eines Kirchenlieds mit freier Composition, so am Schlusse einer Matthäus-Passion von J.C. Rothe aus dem Jahre 1697.28 Die vollendeteste aller dieser im Stil der älteren Kirchencantate gehaltenen Passionen ist wohl die Kuhnausche nach dem Evangelisten Marcus. Sie entstand zum Charfreitag 1721 und kam demnach ungefähr zwanzig Jahre zu spät, wußte sich aber trotzdem noch den Beifall der Kenner zu erwerben (s. S. 166). Die 18 in ihr enthaltenen Arien sind für eine, zwei, drei und vier Stimmen gesetzt; sie haben sämmtlich den Zuschnitt des Strophenliedes und mit einer [320] Ausnahme Ritornelle. Diese eine Ausnahme bildet die vierstimmige Arie »O theures Blut, du dienst zum Leben«, an welcher die nahe Verwandtschaft der geistlichen Arie mit dem Choral, wie man ihn damals sang, recht evident wird: sie hat nichts, was sie zur Aufnahme unter die Gemeindelieder weniger geeignet erscheinen ließe, als z.B. das Lied »O Traurigkeit, o Herzeleid«. Außer den 18 Arien kommen 20 Choräle vor. Der letzte von ihnen ist der eben genannte »O Traurigkeit«; er gehört schon eigentlich nicht mehr zum Werke selbst, welches mit »Nun ich danke dir von Herzen« endigt. Kuhnau, der mit seiner Marcuspassion die Aufführungen von figuralen Passionen in Leipzig eröffnete, hatte offenbar die Absicht, sie in enge innere Verbindung mit den dortigen Cultusgebräuchen zu bringen, und im Charfreitags-Gottesdienst hatte ja das genannte Lied seinen bestimmten Platz (s. S. 103). Aus demselben Grunde hat er nach der auf die Worte »Aber Jesus schrie laut und verschied« folgenden Alt-Arie das Ecce quomodo von Gallus eingelegt – ein sinniger Einfall, den vor ihm niemand gehabt zu haben scheint; ich habe wenigstens diese Motette in keiner andern Passionsmusik verwendet gefunden.

Mit dem Jahre 1700 begann die Zeit, wo die theatralische Musik der Italiäner in immer breiterem Strome in die Kirchenräume eindrang. Unter dem Namen »theatralische Musik« verstehe ich hier das italiänische Oratorium mit, welches nunmehr außer durch die Stoffe und ein paar breitgewachsene Chöre sich von der Oper höchstens dadurch unterschied, daß bei ihm die Bühnenaufführung nicht zur stehenden Gewohnheit geworden war. Daß die Passionsgeschichte einen vortrefflichen Stoff für ein nach italiänischem Muster zugeschnittenes deutsches Oratorium abgeben müsse, lag natürlich auf der Hand. Alsbald machte sich denn Ch. F. Hunold ans Werk und dichtete den »blutigen und sterbenden Jesus«, worin nicht nur der recitirende Evangelist, sondern überhaupt das Bibelwort und selbst der Choral gänzlich ausgemerzt wurden um das ganze wie ein italiänisches Oratorium aus einem Gusse hinfließen zu lassen. Keiser setzte das Poem in Musik und in der Charwoche 1704 wurde es zu Hamburg aufgeführt. Man thut aber Unrecht, Hunold als Bahnbrecher in dieser neuen Richtung zu bezeichnen. Auch hier wurde auf die Passion nur einfach übertragen, was an der Kirchencantate zuvor mit gutem Erfolge erprobt war. Der intellectuelle Urheber [321] der neuen Form ist demnach nicht Hunold sondern Neumeister, welcher 1700 seinen ersten Jahrgang madrigalischer Cantatendichtungen herausgegeben hatte. Da Hunold ein großer Verehrer Neumeisters war und 1707 sogar dessen Collegium poeticum »Die allerneueste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen« eigenmächtiger Weise drucken ließ29, so kann kein Zweifel sein, daß er ihn hier einfach nachahmte. Neumeisters erster Jahrgang und auch noch der zweite, 1708 erschienene, lassen gleichfalls Bibelwort und Choral beiseite und bewegen sich gänzlich nur in freier Dichtung. Wir wissen, eine wie scharfe Verurtheilung dies Verfahren als eine Entweihung der Kirche von verschiedenen Seiten fand. Derselbe heftige Widerspruch richtete sich auch gegen die neue Art der Passionen, aber hier wie dort ohne nennenswerthen Erfolg. Es ist zwar richtig, daß neben den in italiänischer Oratorienform auftretenden fortdauernd auch viele Passionstexte componirt wurden, in denen der recitirende Evangelist und das Bibelwort sowie auch die Choräle beibehalten waren. Aber ein Zugeständniß an die Gegner der neuen Form dürfte dieses im allgemeinen kaum bedeuten. Unter den Poeten jener Zeit gab es doch nicht allzu viele, welche eine solche Aufgabe halbwegs genügend zu lösen vermochten. Der Drang nach neuen und aber neuen Passionscompositionen war ein sehr starker, und zum Theil wurde nur aus Bequemlichkeit in der älteren Form weiter componirt. Respect vor dem Bibelwort als etwas würdigerem und heiligem war es keinesfalls, was sich seiner gänzlichen Verdrängung hindernd entgegen stellte. Sonst hätte man für dasselbe im Einzelgesang das traditionelle Arioso beibehalten, wie solches in der Kirchencantate auch wirklich geschah. Niemand wird behaupten wollen, daß die durchaus weltliche, ja leichtfertige Art, wie die meisten Componisten von nun ab den Evangelisten die inhaltsschwere Leidensgeschichte recitativisch heruntersingen liessen, ein Gefühl für die Erhabenheit der biblischen Rede verrathe. Andererseits aber boten Bibelwort und Choral ganz unzweifelhafte rein musikalische Vortheile. Die Rücksicht auf sie hatte Neumeister bewogen im dritten und vierten Jahrgange seiner Cantaten wieder davon Gebrauch zu machen, und es [322] würde diese Mischung von Bibelwort, Choral und freier Dichtung nicht von nun ab unerschütterliche Norm geworden sein, hätten nicht die Musiker darin das Formideal ihrer Zeit erkannt. Im Grunde aber blieb einstweilen für einen jeden, der einen Passionstext verfertigte, wenn er als Dichter etwas bedeuten wollte, das italiänische Oratorium Vorbild. Postels Johannes-Passion, welche Händel componirte, steht noch auf dem Übergange, wie sie denn auch keinesfalls später als Hunolds Werk und wahrscheinlich ein oder zwei Jahre früher entstand.30 Ganz im italiänischen Fahrwasser segeln einige Jahre später Benjamin Neukirch und Johann Ulrich König. Neukirch hat in seinem »Weinenden Petrus« nicht eigentlich die Passionsgeschichte, sondern gleichsam nur den Reflex derselben behandelt. Petrus und Judas Ischarioth haben sich beide an Christo versündigt. Gewissensqualen foltern sie: Judas wird durch sie zum Selbstmorde getrieben. Auch den Petrus wollen Belial und die Höllengeister mit Verzweiflung umgarnen, aber der tröstende Zuspruch des Johannes und der Maria Magdalena und ihr Hinweis auf Gottes unendliche Liebe giebt ihm endlich neuen Muth zu leiden, zu streiten und zu siegen. Der »Weinende Petrus« ist eigentlich nichts als eine geistliche Oper. Er zerfällt sogar in drei Acte (»Abhandlungen«) wie die Opern, während die Oratorien nur zwei Abtheilungen zu haben pflegten; jeder Act hat wieder verschiedene Auftritte. Auf scenische Eindrücke ist überall gerechnet, so heißt es z.B. gleich am Anfange: »Petrus gehet auf einem öden Platze in betrübten Gedanken, und endlich fängt er an«, oder am Schlusse des ersten Actes: »Petrus gehet betrübt auf einer Seite, und Judas voll Verzweiflung auf der andern ab.« Außer den genannten treten noch folgende Personen auf: der Jünger Philippus, Zion, Belial und die allegorischen Personen Verzweiflung und Glaube. Der erste Act schließt mit einem Chor der Jünger, der zweite mit einem Chor der höllischen Geister, der dritte mit einem Chor der Engel und Frommen. Sonst enthält das Werk Recitative, Arien und ein Duett. Choräle fehlen, alles ist freie Dichtung. Von wem dieser Text componirt wurde und ob überhaupt, weiß ich nicht; auf dem Titel steht [323] »zur Passions-Andacht«.31 Ulrich nannte seine Dichtung gradezu Oratorium und schmückte sie außerdem durch die Bezeichnung »Thränen unter dem Kreuze Jesu«. Wir erfahren, daß dieser Text von Keiser componirt und 1711 »Montags, Dienstags und Mittwochs zur Vesper-Zeit in der stillen Woche musikalisch aufgeführt« wurde. Den Inhalt bildet die wirkliche Passionsgeschichte. Es finden sich Choräle eingemischt, zum Theil sind auch die Worte der biblischen Erzählung beibehalten, freilich in einer merkwürdigen Verwendung. Sie stehen als scenische Notizen zwischen den Gesangstexten. Nach einer Arie der Maria Cleophas ist beispielsweise in Klammern bemerkt: »Die aber vorübergingen, lästerten ihn«, worauf Maria recitativisch fortfährt um den gedruckten Text ihrer Worte bald in ähnlicher Weise unterbrechen zu lassen:


Doch, Himmel, kann es möglich sein

Soll auch dem Abschaum ärgster Erden

Mein Jesus ein Gespötte werden?

(Und der Übelthäter einer lästert ihn)

Ein Übelthäter selbst fängt an,

Und lästert den, so nichts gethan.

(Da antwortet ihm der andre.)

u.s.w.


Die Bemerkungen waren für diejenigen bestimmt, welche während der Aufführung im Textbuche nachlasen und sollten die fehlende Bühnenaction ergänzen; diesen untergeordneten Dienst zu leisten hielt König das Bibelwort für gut genug.32 Er fand Nachfolger.[324] Im Jahre 1719 gab Joachim Beccau eine Passionsdichtung nach den vier Evangelisten heraus, in welcher alle Vorgänge in dieser Weise zwischengedruckt sind. Es heißt da z.B.:


Judas zu den Schaaren.

Der, den ich werde küssen,

Der ist's, den könnt ihr in Fesseln schließen.


Jesus.

Wen suchet ihr?


Die Schaar.

Den, der sich Jesum nennet.


Jesus.

Ich bins. (und sie fielen zu Boden.)


Oder:


(Simon Petrus aber stund und wärmete sich etc.)


Erste Magd.

Bist du nicht von der Schaar,

Die Jesum Herr und Meister nennen?


Petrus.

Wie sollt ich diesen Menschen kennen?


Auch bei Beccau ist, wie aus obigem schon hervor geht, alles dramatisirt. Petrus, Jesus, Maria, Judas singen Arien; dazwischen bewegter Dialog mit Chören aller Art; außerdem lyrisch betrachtende Gesänge der Sulamith, die oft aber auch lebhaft in die Handlung und zwischen die Äußerungen der andern hineinspricht. Das Stück beginnt mit einer Canzonetta der Jünger auf das Abendmahl und schließt mit einem Choral der Gläubigen »O hilf Christe, Gottes Sohn.«33 In der Hauptsache übereinstimmend ist das Passionsoratorium von Johann Georg Seebach, dem Schwiegersohne Erlebachs, eingerichtet; es erschien 1714.34 Die Reden der handelnden Personen sind Umdichtungen des evangelischen Textes, die Erzählung ist zum Theil wie bei Ulrich und Beccau als scenische Notiz beigegeben, zum Theil wird sie als bekannt vorausgesetzt. Außerdem aber singen die Personen auch frei erfundene Arien und – als ob das ganz gleich wäre – Choräle, deren eine große Anzahl sich eingestreut findet. Die Handlung knüpft an die Einsetzung des Abendmahls an; mit einem arienhaften Lobgesang der Jünger auf dasselbe beginnt das Oratorium, wie bei Beccau.

[325] Unverkennbar standen übrigens Beccau und Seebach unter dem Einflusse einer älteren Dichtung, die hier mit Absicht zuletzt genannt wird. 1712 verfertigte der Hamburger Rathsherr Barthold Heinrich Brockes »Den für die Sünden der Welt gemarterten und sterbenden Jesus, aus den vier Evangelisten in gebundener Rede vorgestellt«, eine Musterdichtung nach dem Urtheile der damaligen Zeit. Keiser setzte sie zuerst in Musik und führte sie sowohl 1712 als 1713 in der Charwoche auf. Ihm folgten Telemann und Händel (1716), Mattheson (1718); auch von Stölzel ist eine bemerkenswerthe Composition des bewunderten Gedichtes vorhanden35, endlich blieb ihr, wie wir gleich sehen werden, sogar Seb. Bach nicht fern. Was Brockes als Dichter zu leisten vermochte, hat er später durch sein »Irdisches Vergnügen in Gott« gezeigt. Der Passionsdichtung ist geschickte Anordnung und musikalisches Wesen nicht abzusprechen. Die mit grellen Bildern überladene schwülstige Sprache aber, durch welche er den erhabenen Gegenstand sinnlich erniedrigte, machen das Gedicht ungenießbar, so sehr auch grade der letztere Umstand die Zeitgenossen entzückte. Es ist längst in seinem wahren Werthe gewürdigt36 und ich kann mich auf diese wenigen Worte beschränken. Brockes bekannte sich zu der freien oratorienhafte Gestaltung des Stoffes, wie sie seit einigen Jahren beliebt geworden war, wollte aber, vielleicht durch die Gegner eingeschüchtert, mit der alten Sitte nicht vollständig brechen. So ließ er den recitirenden Evangelisten bestehen, legte ihm aber eine Umdichtung der Bibelworte in den Mund – ein vermittelndes Verfahren, das keiner von beiden Parteien genügen konnte. Eine einzige, unten zu erwähnende Ausnahme abgerechnet, fand er meines Wissens keinen Nachahmer. Die Bewunderung, welche man der Dichtung zollte, gründete sich auf andre Eigenschaften derselben. Mehrfach kam es vor, daß eine Auswahl aus den Arientexten in biblische Passionen eingefügt wurden: eine Marcus-Passion Telemanns, welche vor 1729 componirt wurde, enthält neben den Worten des Evangeliums, einer Anzahl [326] von Chorälen und einigen Arien eines unbekannten Dichters sieben daher genommene Texte37.

Die deutsche Passion war durch die Einwirkung des italiänischen Oratoriums zu einem sonderbaren Amalgam verschiedenartigster Bestandtheile geworden. Neben dem neuesten stand das älteste, neben dem reich entwickelten das einfache, neben dem weltlichen das kirchliche. Die Möglichkeit mit den gesammten Mitteln hochgesteigerter Kunst zu wirken, die Empfindung von den entgegengesetztesten Seiten aufzurühren, war gegeben. Aber unter einem höheren Gesichtspunkte diese elementare Masse zu ordnen und zu einigen hatte noch niemand vermocht. Selbst Händel nicht, und indem er später das beste aus seiner Passionsmusik für andre Werke benutzte, zeigte er, daß er sich dessen bewußt war. Die verlegenste Rolle spielte der Choral. Seine poetisch-musikalische Brauchbarkeit unterschätzte man nicht. Sehr treffend sagt Seebach in der Vorrede seines Passionsoratoriums: »ein bekanntes geistreiches Lied hat in Wahrheit keine geringe Wirkung. Es macht einen recht lebendig, und erquicket den verborgenen Menschen des Herzens als ein stärckender Balsam. Da holet unser Glaube gleichsam einmal Athem, die Liebe wird brünstig, und unsere Hoffnung geräth in eine heilige Verwunderung über Gottes Herrlichkeit, Gnade, Erbarmung, Langmuth und Freundlichkeit. Ja, wofern der Choral mit des Poeten seinen Gedanken wohl zusammenhänget, so zwingen oft wohlgesetzte Oratorien und Cantaten Thränen und Seufzer aus dem Herzen eines Kindes Gottes, vornehmlich wenn die Musik den Worten der Poesie ein rechtes Gewicht machet«. Aber eben dieses letztere, die musikalische Behandlung war es, was den Componisten nicht gelingen wollte. Sie hatten den Choral aus der vor 1700 entstandenen Passionsform überkommen. Die schlichte Art, in welcher er dort auftrat, war dem Wesen der ihn umgebenden Musikstücke angemessen. Zu dem bunten und leidenschaftlichen Charakter der neuen Passionsform paßte sie nicht mehr. Weil aber die Tonsetzer aus dem Choral nichts zu machen verstanden, mußten sie ihn wohl lassen, wie sie ihn vorgefunden hatten. Stillestand ist Rückgang und man erschrickt förmlich[327] über das immer liederlichere Gewand, welches die edle Gestalt des Chorals in ihren Werken zu tragen gezwungen wird. Verkümmerte so das kirchliche Element, welches trotz allem in der neuern Passionsform noch vorhanden war, so ging es mit ihren oratorienhaften Bestandtheilen nicht besser. Wenn Scheibe die Kuhnausche Marcus-Passion, die ganz und gar noch in einer älteren und andersgearteten Periode wurzelt, ein Oratorium nennt, so zeigt dieses, daß kaum ein Schatten der Vorstellung von dem, worauf es beim Oratorium allein ankommen kann, bei ihm vorhanden war. Und doch gehörte er immer noch zu den einsichtsvollsten. Der Menge ging der Begriff des Oratorienhaften alsbald so vollständig verloren, daß sie zum Theil nicht einmal den Namen der Kunstform mehr verstanden. Der Graf Heinrich XII. von Reuß richtete zu Schleitz eine Kirchenmusik ein, in welcher allsonntäglich erst ein Choral gesungen, dann das Evangelium (wahrscheinlich im Collectenton) verlesen, dann eine Arie vorgetragen und endlich wieder mit einem Choral abgeschlossen wurde. Die Sammlung der zu diesem Zwecke gedruckten Texte nannte er Oratorium38. Gottfried Behrndt gab 1731 eine Sammlung von geistlichen Dichtungen heraus, die aber theilweise schon viel früher verfaßt waren, »sogenannte Oratorien« wie es auf dem Titel heißt. Diese »sogenannten Oratorien« sind ganz einfache Kirchencantaten in Neumeisters Art. Die Einheitsform bildet Behrndt nicht Oratorium oder italiänisch Oratorio, sondern Oratorie; er bringt also das Wort mit orator, dem Redner oder Prediger, in Zusammenhang.39 [328] Die Passion mußte demnach mit Nothwendigkeit in die religiöse Cantate auslaufen, wenngleich sie einige äußerliche Gemeinsamkeiten mit der älteren, echteren Form noch längere Weile festhielt. »Der Tod Jesu« von Ramler und Graun, ein Werk welches, 1756 geschrieben, für die protestantischen Charfreitagsmusiken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlechthin maßgebend wurde, ist eine solche Cantate. Die Choräle in ihr, unverstandene Zeichen einer früheren Zeit, können wohl noch erbaulich anregen, kirchliche Bedeutung haben sie nicht mehr. 1759 führte Doles in der Thomaskirche zu Leipzig eine frei nach Ramler gearbeitete Passion auf; ich vermuthe sogar, daß einige Stücke der Graunschen Musik leibhaftig in derselben vorgekommen sind.40 1766 wurden die uralten Choralpassionen in Leipzig für immer eingestellt, und mit Recht. Wo Grauns Kunst zu herrschen anfing, mußte das Verständniß für sie bis auf die letzte Spur geschwunden sein.

In der altkirchlichen Passionsform steckte von ihrem Anbeginn ein entwicklungsfähiger dramatischer Keim. Im Mittelalter entstanden aus ihr die Passionsschauspiele, ohne daß darum sie selbst in ihrer Einfachheit zu existiren aufgehört hätte. Die Evangelienlectionen mit vertheilten Rollen, und zwar nicht nur die der Passionsgeschichte, überdauerten den Verfall, welchen die sogenannten Mysterien vom 16. Jahrhundert an zu erleben hatten, und haben das ihrige beigetragen, diese soweit es unter gänzlich veränderten Verhältnissen möglich war, zu einer zweiten Blüthe zu bringen. Daß der dramatisch-musikalische Stil der Italiäner des 17. Jahrhunderts nicht außer Zusammenhang mit ihnen blieb, macht der lateinische Text der Oratorien Carissimis und mehr noch der in denselben auftretende Historicus klar. Was im 17. Jahrhundert in Deutschland ähnliches versucht wurde, braucht in dieser Beziehung nicht als Nachahmung der Italiäner angesehen zu werden. Bekanntlich wurden die italiänischen Oratorien nicht selten scenisch aufgeführt. Lange aber bevor es überhaupt ein italiänisches Oratorium gab, existirten in Deutschland Aufführungen der Passion mit Action in der [329] Kirche. Ich meine natürlich nicht die mittelalterlichen Passionsschauspiele, welche anfänglich auch einen liturgischen Zweck hatten und in der Kirche dargestellt wurden, bis sie sich als selbständige Kunstorganismen aus derselben loslösten und nun freilich rasch verweltlichten und ausarteten, sondern die einfachen Evangelienlectionen mit vertheilten Rollen. Daß dramatische Aufführungen derselben nach der Reformation in protestantischen Gegenden stattgefunden haben, ist eine erst vor kurzem bekannt gewordene Thatsache. Zu Zittau ereignete sich auf Sonntag Judica 1571 eine solche Aufführung. Die Composition war von einem gewissen Paurbach und existirte schon längere Zeit; bereits zehn Jahre zuvor hatte Christoph Bornmann, Weinschenk im Freiberger Keller zu Dresden, sie der Johanneskirche zu Zittau zum Geschenk gemacht. Unweit des Altars war eine Bühne errichtet, als agirende Personen traten die drei untersten Schulcollegen und zwei Discantisten auf.41 Es wird nicht gesagt, ob die Aufführung während des Gottesdienstes oder nach demselben vor sich ging. Hierauf kommt aber nicht viel an. Die Wichtigkeit der Sache beruht darin, daß offenbar die Empfindung für den Zusammenhang der alten dramatisirten Evangelienlectionen mit den Passionsschauspielen noch fortbestand. Denn nur wenn man dieses voraussetzt, wird ein solches Unterfangen erklärlich. Weil die geistlichen Volksschauspiele des 16. und 17. Jahrhunderts für die Entwicklung der dramatischen Kunst in Deutschland von nur geringer Bedeutung sind, hat man ihnen mit Ausnahme des Oberammergauer Passionsspieles keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Für das volle Verständniß der deutschen Passionsmusiken und verwandten Kunstformen ist ihre Berücksichtigung aber doch unerläßlich, ebenso wie auch die Anfänge der deutschen Oper in eine gewisse Beziehung zu ihnen unzweifelhaft gebracht werden müssen.42 In Thüringen, Obersachsen, Schlesien waren während des 17. Jahrhunderts die geistlichen Volksschauspiele, wenn ihr Gedeihen auch durch das Schuldrama eingeengt wurde, doch noch allgemein [330] beliebt. Man respectirte sie nicht nur als ehrwürdige Antiquitäten und ließ sie als solche fortbestehen, sondern bildete sie auch jetzt noch den Zeitbedürfnissen gemäß weiter. Eine Christ-Comödie aus Thüringen (Arnstadt), die mir in einer um 1700 gefertigten Handschrift vorliegt, trägt zwar die den meisten volksthümlichen Weihnachtspielen gemeinsamen Grundzüge, verräth sich aber in Sprache, Versbau und Musik als eine neue Bearbeitung allbekannter Motive, welche kaum viel früher als 1700 stattgefunden haben kann, und die doch ihre volksthümliche Haltung auf das deutlichste dadurch zu erkennen giebt, daß zwei Bauern und zwei Hirten darin im thüringischen Dialect reden.43 Ebenso liegt in dem Zuckmantler Passionsspiel eine dem 17. Jahrhundert gehörige Überarbeitung eines älteren Werkes vor; außer an der Sprache sieht man dieses aufs deutlichste auch an der Musik: sieben Arien, welche sich ganz in den um die Mitte des Jahrhunderts gebräuchlichen Ausdrucksformen bewegen.44 Was die Passionsmusiken und verwandten Kunstformen zur Zeit ihrer höchsten Blüthe aus den gleichzeitigen geistlichen Volksschauspielen sich aneigneten waren freilich weniger die speciell dramatischen Elemente, als gewisse allgemeine volksthümliche Anschauungen. Zur Entwicklung einer neuen dramatischen Poesie war eine Zeit ungeeignet, in welcher der rein musikalische Productionsdrang alle andern Kunstbestrebungen überfluthete und niederhielt; was von Keimen einer solchen vorhanden war, konnte einstweilen nur in Händels Oratorien und Bachs Kirchenmusiken zu Kunstformen von höchster Schönheit aufgehen, mußte sich also den Ausschluß scenischer Darstellung und eine starke Verallgemeinerung ins Lyrische gefallen lassen. Aber das Verhältniß, in welchem die Mysterien des Mittelalters zum Volksleben standen, ist, wenn man die inzwischen in den Künsten erfolgten Veränderungen und Fortschritte berücksichtigt, im allgemeinen ziemlich gleich mit demjenigen, welches zwischen dem Volksleben und den Passionsmusiken im 17. und 18. Jahrhunderte herrschte. Hier wie dort der[331] offenliegende Zusammenhang mit der Kirche; als hauptsächliche, beziehungsweise alleinige Quelle für den poetischen Stoff das Leben Christi; die Aufführungen nur an bestimmten Kirchenfesten. Hier wie dort zu den liturgischen, streng kirchlichen Bestandtheilen stärkere und stärkere Beimischungen von weltlichen Elementen: wie in den Mysterien erst nur deutsche Erläuterungen neben dem lateinischen Bibel- und Kirchenwort, dann aber mehr und mehr selbständige Dichtung und endlich vollständige Erstickung des Kirchlichen und Verweltlichung zu bemerken ist, so stellt sich in den Passionsmusiken neben die Evangeliums-Worte zuerst gleichsam erläuternd das Gemeindelied, sodann als erste freikünstlerische Zuthat die geistliche Arie, darauf immer mehre und immer reichere Formen moderner Kunst, bis die kirchlichen Elemente nur noch als störend empfunden und möglichst beseitigt werden. Aber dadurch unterscheidet sich der jüngere Entwicklungsgang von dem älteren, daß sich jetzt eine Persönlichkeit fand, die es verstand im richtigen Augenblicke Kirchliches und Weltliches auf einen gemeinsamen Ausdruck zu bringen, die das Kirchliche in seiner vollen Macht wieder zur Geltung brachte, ohne deshalb die Fülle, den Glanz und den Reichthum des Weltlichen irgendwie zu beeinträchtigen. Wenn oben gesagt wurde, daß vom 17. Jahrhundert an die Entwicklung der deutschen Passionen der Entwicklung der protestantischen Kirchenmusik parallel gegangen ist, so gilt dies auch für Bach. Der musikalische Stil seiner Passionsmusiken ist kein anderer, als der seiner Kirchencantaten. Dieser aber war ein neuer, aus der Orgelkunst und dem Choral hervorgegangener, daher wahrhaft kirchlicher, in welchem zugleich sämmtliche damalige Musikformen ihre Läuterung und Erneuerung gefunden hatten. Indem er ihn auf die Passion übertrug, vollzog er die Einigung und natürliche Verschmelzung all der disparaten Elemente, welche mit der Zeit unter diesem Titel zusammengeschüttet waren. Der Stil war zugleich im eminenten Sinne ein deutscher, denn wenn irgend etwas, so war die Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts und das protestantisch-geistliche Volkslied ein nationales Erzeugniß. So steht es denn im innigen leicht verständlichen Zusammenhange, wenn Einwirkungen der deutschen geistlichen Schauspiele auf die Passionsmusiken und verwandten Formen eigentlich auch nur bei Bach deutlich hervortreten. Je mehr seine Zeitgenossen der italiänischen Oper und [332] dem italiänischen Oratorium nachgingen, desto fremder mußte ihnen das Volksthümliche werden. Bach verschloß sich keineswegs den Anregungen ausländischer Kunst, aber er ließ sich von ihnen nicht bemeistern. Wovon er überall ausging, was ihn überall leitetete waren speciell deutsche Kunstanschauungen. Daß diese eine so unbesiegbare Macht über ihn besaßen, ist eine unverkennbare Folge seiner altkünstlerischen Herkunft, und hier tritt es wieder einmal zu Tage, welch eine durchgreifende Bedeutung für das Verständniß seiner künstlerischen Persönlichkeit die richtige Würdigung seiner Vorfahren hat. Nur wer sich auf eine mehr als hundertjährige im unausgesetzten, ausschließlichen Verkehr mit dem Leben des Volkes gegründete und gefestigte Tradition stützen konnte und sich daher mit dem Empfinden, Thun und Denken des Volkes auf das innigste verwachsen fühlen mußte, konnte in der Zeit allgemeiner Verwälschung und an einer so gänzlich haltlos gewordenen Kunstform, wie der deutschen Passion, am Beginn des 18. Jahrhunderts den deutschen Geist wieder zu Ehren und zur Herrschaft bringen. Bachs Passionen und übrige gleichgestaltete Werke sind eine Erneuerung der mittelalterlichen geistlichen Schauspiele aus deren bester Periode auf einer unvergleichlich höheren Kunststufe, man könnte auch sagen, sie seien die endliche Vollendung derselben. Wie sie sich in den Anschauungen der Volksschauspiele bewegen, wird hernach im einzelnen aufgezeigt werden. Ihnen den Namen Oratorium zu geben hat Bach sich bei den Passionen wenigstens gehütet. Seine für Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt bestimmten derartigen Werke haben allerdings diese Bezeichnung erhalten: es war eben damals keine andre und treffendere im Gebrauch. Ich werde mir im folgenden erlauben, für die Passionen Bachs sowie für sein Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrts – Oratorium die zusammenfassende Benennung »Mysterien« wieder in Anwendung zu bringen.

Nach der Angabe des Mizlerschen Nekrologs45 hat Bach fünf Passionsmusiken hinterlassen. Wir dürfen diese aus bester Quelle stammende Nachricht um so weniger bezweifeln, als die Zahl mit derjenigen der Cantaten-Jahrgänge (s. S. 179) stimmt. Die Jahrgänge vertheilten nach des Vater Tode Friedemänn und Emanuel [333] Bach unter sich46 und werden die Passionen in sie einbegriffen haben. Emanuel besaß die Originalpartituren der Matthäus- und Johannes-Passion. Er hütete sie treulich, und sie existiren heute noch. Die Originalmanuscripte der andern drei kamen demnach in die Hände des zerfahrenen, mehr und mehr verwildernden Friedemann. Sie wurden verschleudert und zwei derselben sind gänzlich verloren gegangen. Eine Lucas-Passion, welche in Bachs Handschrift erhalten ist, könnte die dritte sein. Ob aber diese wirklich eine Bachsche Composition sei, war eine bisher ungelöste Frage. Ich hoffe sie ihrer Lösung um ein Theil näher bringen zu können, habe jedoch zuvor einiges über die beiden verloren gegangenen Passionen zu sagen.

Am Charfreitage 1731 wurde in der Thomaskirche eine Passionsmusik nach dem Evangelisten Marcus aufgeführt; Picander, welcher zum Jahre 1729 für Bach die Matthäuspassion gedichtet hatte, war der Verfertiger auch dieses Textes gewesen.47 Er zerfällt in zwei Theile, von denen der erste vor, der andre nach der Predigt gesungen werden sollte. Außer der das 14. und 15. Capitel des Evangeliums umfassenden recitativischen Erzählung, in welcher zwölf dramatische Chöre eingeschlossen sind, enthält die Dichtung einen lyrischen Anfangs- und Schlußchor, sechs Arien und sechzehn Choräle. Daß, wenn Picander einen Passionstext für die Thomaskirche dichtete, wenn derselbe gedruckt und auch wirklich zur Musik benutzt wurde, nur Bach die Musik dazu gesetzt haben kann, ist bei Bachs amtlicher Stellung und seinem Verhältniß zu Picander nahezu selbstverständlich. Zur Gewißheit erhoben wird die Sache durch die Übereinstimmung, welche zwischen dem Text des Einleitungs- und Schlußchores, sowie der zweiten, ersten und vierten Arie, und den entsprechenden Chören und den drei Arien der Trauerode auf die Königin Christiane Eberhardine (1727) besteht. Wenngleich der Gedankeninhalt dort ein andrer ist, so herrscht doch hinsichtlich des metrischen Baues eine Gleichmäßigkeit, die es unzweifelhaft [334] macht, daß Picander seine Texte der bereits vorhandenen Bachschen Musik anpaßte. Ganz besonders augenfällig tritt dieses hervor bei den drei letzten Zeilen des Schlußchors.48 Picander hat hier seine zu ähnlichen Zwecken häufig in Ansprüche genommene Gewandtheit in löblichster Weise bethätigt. Völlig verloren gegangen ist demnach die Marcuspassion wenigstens nach ihrem musikalischen Inhalte nicht. Fünf lyrische Stücke derselben sind in und mit der Trauerode erhalten, ein dürftiger Ersatz freilich für das ganze an Recitativen, dramatischen Chören und Chorälen reiche Werk.

Außerdem besteht aber noch eine dritte bisher unbekannte Passion Picanders, der Zeitfolge nach die erste, da sie zum Charfreitag 1725 gedichtet wurde.49 Ihr galt eine oben gemachte Bemerkung: sie ist ganz nach dem Brockesschen Vorbilde zugeschnitten und hierin steht Picander meines Wissens allein da. Das erzählende Bibelwort ist in madrigalische Form gebracht und soll von dem Evangelisten recitirt werden. Als biblische Personen werden dramatisch eingeführt Johannes, Petrus, Jesus, Maria. Doch nur Petrus hat eine etwas größere Partie; Jesus ist verhältnißmäßig am kärglichsten bedacht, von all den wichtigen und ergreifenden Momenten, in denen ihn die evangelische Erzählung darstellt, ist kaum einer würdig ausgenutzt. Auch der gereimte Bericht des Evangelisten geht über die bedeutendsten Vorgänge mit unbegreiflicher Oberflächlichkeit hinweg, und hat z.B. für die Ereignisse zwischen dem Eingreifen des Petrus am Ölberg und seiner Verleugnung im Hofe des Hohenpriesters nur die nichtssagenden Zeilen »Und Jesus ging gelassen fort Und kam zum Hohenpriester Caipha«. Dramatische Chöre fehlen ganz, dagegen nehmen die lyrischen Betrachtungen der Allegorien Zion und Seele einen breiten Raum ein. Choräle sind nur [335] zwei darin, also weniger noch als in Brockes' Dichtung, der zweite ist von Picander selbst gedichtet und flach genug, geschickt eingefügt sind beide nicht. Das Ganze nennt er Oratorium. Der Vergleich mit seinem Vorbilde fällt sehr zu Ungunsten Picanders aus. Bei Brockes muß man anerkennen, daß alle musikalischen Momente geschickt hervorgehoben und die einzelnen Vorgänge zu lebendigen, wenn auch oft mit beleidigend crassen Farben gemalten Bildern gestaltet sind. Die matte lyrische Einförmigkeit von Picanders Dichtung steht schon der religiösen Passions-Cantate späterer Zeiten sehr nahe. Merkenswerth, allerdings in einer ganz andern Beziehung, sind die mannigfachen Anklänge an den Text der Matthäuspassion; die Worte des Schlußchores stimmen in beiden fast ganz überein. Hat Bach diesen Text componirt? Eine sichere Antwort läßt sich nicht geben, aber unwahrscheinlich ist es nicht, sobald man annimmt, daß er überhaupt bestimmt war in Musik gesetzt zu werden. Die Leipziger Tonkünstler jener Zeit, welche dies hätten thun können, waren Görner, Schott und Bach. Von ihnen kann Görner nicht in Frage kommen, da er erst von 1728 an Charfreitags-Aufführungen veranstaltete (s. S. 105). Zu Schott hat, soviel man weiß, Picander niemals in Beziehung gestanden. Für Bach aber dichtete er nachweislich schon in dem Jahre, als er obige Passionsmusik verfaßte. Zudem wolle man folgenden merkwürdigen Umstand beachten. Bachs Johannespassion ist wahrscheinlich in den letzten Monaten der Cöthener Periode entworfen und jedenfalls zum Charfreitag 1724 zuerst aufgeführt, wie hernach ausführlicher nachgewiesen werden soll. Sie begann ursprünglich mit jenem großartigen Choralchor »O Mensch, bewein dein Sünde groß«, den Bach später an den Schluß des ersten Theiles der Matthäuspassion stellte, als er dieselbe einer Überarbeitung unterzog. Diese fand nach dem Jahre 1740 statt. Man hat bisher, soweit überhaupt von den verschiedenfachen Verwendungen jenes Chors Notiz genommen wurde, geglaubt, er sei direct aus der Johannespassion in die Matthäuspassion übertragen. Eine genaue Untersuchung des handschriftlichen Materials lehrt, daß dem nicht so ist. Vielmehr hat Bach schon um 1727 die Johannespassion mit ihrem jetzigen Einleitungschore aufgeführt und den Choralchor »O Mensch, bewein« schon vor diesem Jahre aus derselben entfernt, zu einer Zeit also, da an die Matthäuspassion (1729)[336] noch garnicht gedacht wurde. Sicherlich ersetzte er den Choralchor, welcher zu seinen größten künstlerischen Leistungen gehört, nicht deshalb durch einen andern, weil er ihm ungeeignet erschien, sondern weil er ihn für einen andern Zweck in Ansprach genommen hatte. Der Choral »O Mensch bewein« ist ein Passionslied und kann nur in der Passionszeit kirchlichen Gebrauch gefunden haben.50 Die einzige concertirende Kirchenmusik aber, die zur Leidenszeit aufgeführt wurde, war die Passionsmusik in der Charfreitags-Vesper. Der Choralchor muß also nothwendig in einer solchen seine Stelle gefunden, und folglich Bach zwischen den Jahren 1724 und 1727 noch eine Passion geschrieben haben, in welcher dies geschehen konnte. Dieses Ergebniß paßt auf die älteste Picandersche Passionsdichtung, welche wie gesagt 1725 entstand. Es ist sehr wohl denkbar, daß Bach, durch den geringen kirchlichen Gehalt der Dichtung unbefriedigt, ihr ein stilvolleres Gepräge geben wollte, indem er sie durch ein solches Meisterwerk der Choralkunst einleitete. Er kann in dem Falle den Picanderschen Chortext »Sammelt euch, getreue Seelen« einfach beseitigt haben, doch war es bei Passionsmusiken nicht ungebräuchlich, am Anfange dem Choral noch eine Composition auf madrigalischen Text folgen zu lassen, ebenso wie dem Schlußchoral nicht selten noch ein Grabgesang als Chor-Arie vorausging. Daß die poetische Form dieser Passion von derjenigen der übrigen Bachschen abweicht, darf ebenfalls kein Bedenken erregen. Sicher war die Brockessche Form mit der Umdichtung und Modernisirung des Bibelworts nicht Bachs Ideal; daß er sich trotzdem zu ihr herablassen konnte beweist sein Oster-Oratorium. Erinnern wir uns dazu, daß er grade in den ersten Leipziger Jahren seinem Publicum zu Gefallen sich der Hamburger Richtung hier und da anbequemte, so vereinigt sich mancherlei um es wahrscheinlich zu machen, daß Bach den Picanderschen Text von 1725 mit seiner Musik versah, und wir in ihr eine der verloren gegangenen Passionen zu bezeichnen haben.

Wenn ich den Fortgang der Darstellung hier ausnahmsweise durch kritische Untersuchungen unterbrochen habe, so durfte es in der Voraussetzung geschehen, daß der Frage über die Anzahl der [337] Bachschen Passionen, ihre Entstehungszeit und Schicksale ein eingehenderes Interesse sicher ist. Vier Passionen sind mit größerer oder geringerer Sicherheit nachgewiesen. Als fünfte ist die oben erwähnte Lucas-Passion übrig, an deren Echtheit bisher gezweifelt worden ist. Ich darf auch diese Frage hier ausführlicher erörtern. Wie gesagt ist Bachs Autograph der Lucas-Passion vorhanden.51 Es trägt nicht den ausdrücklichen Vermerk, daß es seine eigne Composition sei, dagegen aber in der Überschrift die Buchstaben J.J. [Jesu Juva], welche Bach nur bei eignen Compositionen, nicht bei Abschriften fremder Werke hinzusetzen pflegt. Außerdem wird in einem Verzeichniß geschriebener Musicalien, welches Immanuel Breitkopf zu Michaelis 1761 drucken ließ, auf S. 25 angeführt: Bach, J.S. Capellmeisters und Musicdirectors in Leipzig, Paßion unsers Herrn Jesu Christi, nach dem Evangelisten Lucas, »à 2 Traversi, 2 Oboi, Taille, Bassono, 2 Violini, Viola, 5 Voci ed Organo.« Die Angabe der Instrumente stimmt genau auf die vorliegende Passion, die der Singstimmen nicht – es sind deren durchgängig nur vier –, wer aber die mancherlei Druckfehler des Breitkopfschen Verzeichnisses bemerkt hat52, wird keinen Anstand nehmen auch in obiger 5 einen solchen zu erkennen. Auf diese Dinge kann sich ein Zweifel an der Echtheit des Werkes nicht wohl gründen. Befremden dagegen erregt die Musik selbst, deren in sehr einfachen Formen zu Tage tretender Ausdruck zwar weich und gefühlvoll, aber von der Kraft, Innigkeit und dem großartigen Ernst der Johannes- und Matthäus-Passion weit entfernt ist. Wer von diesen aus urtheilt, wird immer geneigt sein die Lucas-Passion für unecht zu halten. Wir haben aber eine Reihe von Kirchencompositionen aus Bachs Jugendzeit kennen gelernt, und mit diesen verglichen erscheint die Lucas-Passion in einem andern Licht. Wenngleich die erhaltene Partitur derselben unzweifelhaft in Leipzig geschrieben ist, so zwingt doch nichts zu der Annahme, daß Bach sie auch in Leipzig componirt haben müsse. Schon in Weimar, wo er ja als [338] Cantatencomponist eine nicht unbeträchtliche Thätigkeit entfaltete, hat er sich eifrig auch mit der Gattung der Passionsmusiken beschäftigt. Von einer Marcus-Passion Keisers »Jesus Christus ist um unsrer Missethat willen verwundet« schrieb er in Weimar eigenhändig die Stimmen aus und muß sie demnach auch dort zur Aufführung gebracht haben.53 In die erste Hälfte der weimarischen Periode müßte man die Lucas-Passion unbedingt verlegen. Erscheint sie auch so den Cantaten »Nach dir Herr verlanget mich«, »Aus der Tiefe rufe ich«, »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« noch in mancher Hinsicht nachstehend, so muß man bedenken, daß Bach in diesem seinem frühsten derartigen Werke naturgemäß sich enger noch an die Passionsmusiken jener Zeit anschließen mußte, während er auf dem Gebiete der Cantate sich schon freier bewegte. Richtig würdigen kann man die Lucaspassion nur dann, wenn man sie zwischen jene und seine früheren weimarischen Cantaten gewissermaßen in die Mitte stellt. Dann wird man sowohl ihre Schwächen erklärlich finden, als auch für die hervorragenden Seiten das Verständniß sich erschließen sehen.

Was den Text betrifft, so trägt er die frühe Zeit seiner Entstehung an der Stirn geschrieben. Die freie lyrische Dichtung darin beschränkt sich auf acht Nummern: zwei Arien für Sopran, eine für Alt, drei für Tenor, einen betrachtenden Einleitungschor und einen Chor der Weiber, welche Jesu zur Kreuzigung nachfolgen. Die Erzählung des Evangeliums (Luc. Cap. 22 und 23, v. 1–53) ist vollständig benutzt, Choräle sind nicht weniger als einunddreißig eingeflochten. Ein derartiger reichlicher Gebrauch des Chorals findet sich in den älteren mitteldeutschen Passionen, die noch nicht unter der Herrschaft des italiänischen Oratoriums entstanden, fast überall. Er wurde auch später an denjenigen Orten beibehalten, wo man an dem neuen Stile kein Gefallen fand. In der Rudolstädter Passion von 1688 finden sich achtundzwanzig, in der geraischen fünfundzwanzig, in der gothaischen von 1707 neunzehn, in der Schleizer Passion von 1729 siebenundzwanzig, in der Weißenfelser von 1733 dreißig Choräle; Seebach (1714), der doch schon von Brockes stark beeinflußt war, hat ihrer nicht weniger als neunundvierzig angebracht. [339] Zu ihrer Zahl steht die der freigedichteten Texte im umgekehrten Verhältniß, zuweilen fehlen sie ganz, werden mit der Zeit immer mehre und drängen schließlich den Choral zurück. Bachs Lucaspassion, mit eigner lyrischer Dichtung sparsam bedacht, zeigt doch an einer Stelle schon deutliche Spuren italiänischer Einwirkung, wenn nach den Bibelworten »Es folgte ihm aber ein großer Haufen Volks und Weiber, die klagten und beweinten ihn« (23, v. 27) ein Chor von Sopranen und Alten singt:


Weh und Schmerz in dem Gebären

Ist nichts gegen deine Noth.

Ach wir armen Sünderinnen

Werden dein Gericht jetzt innen,

Und wir trügen mit Geduld

Unsre letzte Mutterschuld,

Retteten dich unsre Zähren

Nur von deinem bittren Tod.


Hier werden also die Weiber dramatisch eingeführt mit frei erfundenen Worten, während sonst alles dramatische nur in der Form des Bibelwortes eintritt. Nach diesen Merkmalen zu schließen dürfte der Text etwa um 1710 verfaßt sein. Gewisse Hauptpassionslieder finden sich natürlich mehr oder weniger in allen Passionsmusiken wieder. Daneben scheinen in bestimmten Gegenden Liebhabereien für besondere Choräle geherrscht zu haben. Die Einführung der Litanei und des Ambrosianischen Lobgesanges sind solche. In der genannten Rudolstädter Passion folgen auf die Erzählung von Judas' Erhenkung die Litanei-Zeilen: »Für des Teufels Trug und List, Für bösem, schnellem Tod, Für dem ewigen Tod Behüt uns lieber Herre Gott!« Ferner auf die Erzählung, wie Johannes die Mutter Jesu zu sich nimmt, die Zeilen: »Alle Wittwen und Waisen vertheidigen und versorgen, Erhör uns lieber Herre Gott! Aller Menschen dich erbarmen, Erhör uns lieber Herre Gott!« Ferner nach Pilatus Worten: Was ist Wahrheit? aus dem Te Deum »Du König der Ehren Jesu Christ« und noch zwei andre daher genommene passende Verse. In der gothaischen Matthäuspassion von 1707 fällt nach der Erzählung der Kreuzigung (27, v. 38) der Chor mit den Litaneizeilen ein: »Durch dein Kreuz und Tod In unsrer letzten Noth Hilf uns lieber Herre Gott«. Ebenso finden sich in der Lucas-Passion zweimal Stücke der Litanei, und dreimal Fragmente aus dem Te Deum eingefügt – [340] letztere, beiläufig gesagt, ganz genau in der Melodieführung, welche der Orgelsatz zeigt, den wir von Bach zu diesem Gesange besitzen. Den Dichter der lyrischen Stücke ausfindig zu machen, hat nicht gelingen wollen. Franck ist es nicht trotz einigen Anklängen an Passionsdichtungen aus seinen geist- und weltlichen Poesien. Texte so einförmigen Metrums und schalen Inhalts waren nicht seine Sache. Wohl aber besteht eine erkennbare Verwandtschaft zwischen ihnen und den Arientexten der Cantate »Nach dir Herr verlanget mich«, die ja gleichfalls in die früheren weimarischen Jahre gehört.

Wer sich mit der erregten Melodik, die Bachs Recitativen eigen ist, vertraut gemacht hat, wird in den Recitativen der Lucas-Passion diese Weise sogleich wieder erkennen, ohne daß er die Augen zu schließen braucht gegen manches was darin fremdartig berührt. Unleugbar sind die Harmonienfolgen, über denen sich die recitirende Singstimme fortbewegt, zuweilen etwas lahm, statt der gewöhnlichen Recitativ-Cadenzen treten häufiger als sonst Schlüsse ariosen Charakters ein, ohne daß sich doch der Gesang schon länger vorher zum Arioso gefestigt hätte. Man empfängt den Eindruck eines im Recitativ-Schreiben noch wenig geübten Componisten, und dies stimmt zu der Sachlage, denn in der älteren Kirchencantate, mit welcher sich Bach bisher beschäftigt hatte, gab es bekanntlich kein Recitativ. Unfertig erscheint auch der Stil der biblischen dramatischen Chöre. In einigen herrscht noch jene allgemeinere kirchliche Stimmung, wie in den Passionen älteren Stiles aus dem 17. Jahrhundert; andere, und zwar die Mehrzahl, zeichnet sich dagegen durch eine dramatische Lebendigkeit aus, die an Wucht freilich noch nicht die Chöre der Johannes-und Matthäuspassion erreicht, aber doch diejenigen gleichzeitiger Componisten beträchtlich überragt. Der über freie Dichtung gesetzte Klagechor der Weiber ist nicht bedeutend aber sinnig und deutet in seiner aparten Instrumentirung – zwei Flöten, Violinen, Bratsche, kein Bass – schon auf spätere Meisterwerke hin, wie die Sopranarien im Himmelfahrts-Oratorium und der Cantate »Herr, gehe nicht ins Gericht«. An letztere wird man auch durch den Eingangschor erinnert. Niemand erwarte unter ihm etwas den mächtigen Chorbildern der späteren Passionen ähnliches. Aber wer sich die vierstimmige Arie der Cantate »Denn du wirst meine Seele« und den C dur-Chor der Cantate »Uns ist ein Kind [341] geboren« als ein Bachsches Werk gefallen läßt, darf auch ihn nicht ablehnen. Wie in den beiden Chören so herrscht auch in den Arien die Da capo-Form, die Dimensionen sind klein aber doch nicht kleiner als in den Cantaten »Nach dir, Herr, verlanget mich« und »Uns ist ein Kind geboren«. Es ist wahr, die ersten beiden zeigen kaum etwas von dem eigentlich Bachischen Wesen, sie erinnern eher an Händels früheste Werke. Auch die Tenor-Arie »Selbst der Bau der Welt erschüttert« muß man unbedeutend und dürftig nennen. Dagegen sind die übrigen Arien so gehaltvoll und eigenthümlich, daß außer Bach niemand zu nennen wäre, der sie gemacht haben könnte. Bemerkenswerth ist hier noch der Gebrauch des obligaten Fagott. Bach zeigt für dieses Instrument in der weimarischen Zeit eine entschiedene Vorliebe; vielleicht stand ihm damals ein besonders tüchtiger Fagottist zur Verfügung. Auch in der Cantate »Nach dir Herr« ist es obligat eingeführt, kunstvoller noch in der späteren »Mein Gott wie lang, ach lange«. Die Choräle sind durchweg viel einfacher harmonisirt, als man es von Bach gewohnt ist. Aber zeigt nicht auch der Schlußchoral in »Denn du wirst meine Seele« die größte harmonische Simplicität? Und Sorgfältigkeit des Satzes kann man ihnen nicht absprechen. Übrigens offenbart sich in der Art, wie die Choräle eingefügt sind, der Bachsche Tiefsinn so entschieden, daß dieser Erscheinung gegenüber jeder noch übrige Zweifel an der Echtheit des Werkes schwinden muß. Wie in der Matthäus-Passion die Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden«, in der Johannes-Passion das Stockmannsche »Jesu Leiden, Pein und Tod« an den bedeutsamsten Stellen in immer neuen Bearbeitungen wiederkehrt, so bildet in der Lucas-Passion Johann Flittners Lied »Jesu meines Herzens Freud« gleichsam den kirchlichen Mittelpunkt. Nicht weniger als viermal tritt es auf, zuerst nach den Worten Christi: »Wo ist die Herberge, darinnen ich das Osterlamm essen möge mit meinen Jüngern« (22, 11) mit der dritten Strophe »Weide mich und mach mich satt«, dann nach den Worten: »Mich hat herzlich verlanget das Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide« (22, 15) mit der vierten Strophe »Nichts ist lieblichers als du«, ferner nach der höhnischen Aufforderung der Kriegsknechte: »Bist du der Juden König, so hilf dir selber« (23, 37) mit der fünften Strophe »Ich bin krank, komm stärke mich«, endlich nach der Bitte des reuigen [342] Schächers: »Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst« (23, 42) mit der zweiten Strophe »Tausendmal gedenk ich dein«. Die weiche Anmuth dieses Gesanges, den man kaum einen Choral nennen mag, ist für den Geist der damaligen Passionsmusiken54 und im besonderen auch der Lucas-Passion bezeichnend. Man kannte und liebte ihn an vielen Orten, aber zu einem eigentlichen Kirchenliede konnte er sich schon deshalb nicht verallgemeinern, weil kaum von einer andern Melodie so zahlreiche Varianten bestanden, wie von ihr. Ursprünglich in Moll componirt erfuhr sie bald eine Umbildung nach Dur. Beide Gestalten, die sich in verschiedenen Gegenden Deutschlands neben einander behaupteten, zeigen eine jede wieder vielfache melodische und rhythmische Abweichungen im einzelnen.55 Bach gebraucht in der Lucas-Passion nur die Dur-Melodie. Er hat ihr, wie man voraussetzen wird, alle vier Male eine verschiedene Form gegeben. Während er aber in ähnlichen Fällen späterer Zeit mehr nur die Harmonie zu verändern pflegt, sind hier die Veränderungen vorzugsweise melodischer und rhythmischer Art. Dieses Verfahren erklärt sich einfach aus der frühen Entstehungszeit des Werkes. Bach stand, als er die Lucas-Passion componirte, noch nicht ganz frei von dem Einflusse der willkürlich colorirenden Organisten, namentlich der nordländischen, da, welche mehr ihren vorübergehenden musikalischen Eingebungen, als dem beständigen Bedürfnisse der Gemeinde folgten.56 Melodische und rhythmische Veränderungen desselben Chorals zeigen sich nicht nur [343] bei der Melodie des Flittnerschen Liedes. Der Passionsgesang »Herzliebster Jesu« tritt im zweiten Theile der Lucas-Passion im 7.-Takt und der gebräuchlichen melodischen Form auf, im ersten aber im Dreiviertel-Takt und mit zwei melodischen Veränderungen. Willkürliche Abweichungen von den üblichen Melodieformen finden sich auch bei andern Chorälen des Werkes. Je tiefer Bach allmählig in das kirchliche Wesen des Chorals eindrang, desto strenger wahrte er die einmal gewählte Gestalt der Melodien. Nur ganz ausnahmsweise erlaubte er sich dann, wie in der siebenten Zeile der siebenten Strophe seiner Choralcantate »Christ lag in Todesbanden« einen Ton des Cantus firmus zu ändern57 – Mustern wir die Stellen weiter, an denen Bach in der Lucas-Passion Choräle eingesetzt hat, so fällt zunächst der Schluß des ersten Theiles auf. Petrus hat den Herrn verleugnet; er geht hinaus und »weinet bitterlich«. Eine betrachtende Tenor-Arie spinnt die angeregte Empfindung aus, dann kommt als Schluß-Choral die sechste Strophe des Schwämmleinschen Liedes »Aus der Tiefe rufe ich«. Sie wird aber nicht vierstimmig, sondern als einstimmige Arie vorgetragen, und der sie singt ist Petrus. Offenbar ist dieses ein sinniger, von tiefer Empfindung zeugender Zug. Man wird aber auch hier wieder die Verbindung erkennen, welche zwischen dem Werke Bachs und den im Stile der älteren Kirchencantate gehaltenen Passionen besteht, und sich an ähnliches aus der Passion des Weimaraner Sebastiani erinnern. Der subjective Charakter tritt auch darin hervor, daß die beiden letzten Zeilen des Textes frei umgestaltet sind. Hier wird die Hand des Dichters thätig gewesen sein, welcher für Bach den Passions-Text zusammenstellte, und auf den jedenfalls auch einige der andern Choraltexte zurückzuführen sind, die bekannteren Kirchenliedern nicht angehören. Seinen religiösen Tiefsinn in noch überraschenderer Weise zu zeigen, erhielt Bach durch die Erzählung von Petri Verleugnung an jener Stelle Gelegenheit, wo erzählt wird, wie Petrus, der zuvor versichert hat, er sei bereit mit seinem Herrn in das Gefängniß und den Tod zu gehen, dem gefangenen Jesus in den Palast des Hohenpriesters folgt. Hier soll es sich offenbaren, ob er stark ist seine Versicherung [344] wahr zu machen. Da ertönen vom Chor einstimmig im kirchlichen Collectenton gesungen die Worte des Vaterunsers »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel«. Die feierliche, ergreifende Wirkung des kurzen Satzes wird verstärkt, wenn man an eine Stelle aus dem Marcus-Evangelium (14, 38) denkt, die Bach zuverlässig hierbei im Sinne hatte: Christus hat in Gethsemane gebetet, kommt und findet seine Jünger schlafend. An Petrus wendet er sich vor den andern: »Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach«. Das bedeutendste aber an sinnreicher Verwendung des Chorals hat Bach gegen den Schluß des Werkes geleistet. Der Evangelist singt »Und als er das gesagt, verschied er«. Nun ertönt, von Oboen und Fagott vierstimmig geblasen, der Choral »Ich hab mein Sach Gott heimgestellt«. Nachdem diese Sinfonia verklungen, tritt der vierstimmige Chor ein mit der zwölften Strophe desselben Chorals:


Derselbe mein Herr Jesu Christ

Für all mein Sünd gestorben ist,

Und auferstanden mir zu gut,

Der Höllen Gluth

Gelöscht mit seinem theuren Blut.


Hierdurch wird dem Instrumentalsatze, der nach dem Gesange wiederholt wird, erst die deutliche Beziehung gegeben. Dann geht die Erzählung, nur einmal noch durch einen Choral unterbrochen, weiter bis zur Abnahme vom Kreuz. Eine Tenor-Arie voll schmerzlicher, durchaus Bachischer Innigkeit setzt ein:


Laßt mich ihn nur noch einmal küssen,

Und legt dann meine Freud ins Grab.


Nach neun Takten aber beginnen zu derselben wieder die Oboen und das Fagott den genannten Choral und führen ihn mit angemessenen Unterbrechungen bis zum Ende durch. Diese Combination zwischen gesungener freier Dichtung und einem gespielten Choral, der schon an sich durch seine Beziehungen auf Vorhergegangenes in das eigenthümlichste poetische Helldunkel gesetzt ist, konnte – man darf es getrost behaupten – unter allen Componisten des 18. Jahrhunderts nur Bach ersinnen. Als gewichtiger weiterer Beweis für seine Urheberschaft tritt hinzu, daß eine ganz ähnliche Verbindung [345] in der Cantate »Gottes Zeit« vorliegt, und daß es sich beide Male sogar um denselben Choral handelt. Man erinnert sich aber, daß diese Cantate gleichfalls in die früheren weimarischen Jahre fällt.58 Da sie durchweg reifer erscheint, so dürfte ihr die Lucas-Passion vorausgegangen sein. Dem vergleichenden Blicke wird auffallen, daß die Form der Choralmelodie hier eine andre ist als dort. Beide Male weicht sie von der Originalmelodie ab; beide Formen aber waren neben der ursprünglichen in jenen Gegenden gebräuchlich. Die in der Cantate vorkommende Melodie stimmt anfänglich ganz überein mit der Melodie »Warum betrübst du dich, mein Herz« und ich vermuthe, daß Bach sie aus diesem Grunde dort vorgezogen hat.59 Die innere Verbindung, welche sich auf diese Weise zwischen Lucas-Passion und Actus tragicus herausstellt, ist nicht die einzige. Die berühmte Behandlung der schließenden Worte »Ja komm, Herr Jesu!« in letzterem Werke hat in der Lucas-Passion ein Gegenstück an dem Schlusse des Chorals »Stille, stille! ist die Losung«. Auch hier verstummen endlich alle übrigen Stimmen und lassen den Sopran die Worte »stille, stille!« über dem Basse ganz allein vortragen, mit denen er in derselben Weise den Choral begonnen hatte.

Mit der Anerkennung der Lucas-Passion als eines wirklich von Bach componirten Werkes wäre die Zahl der Passionen, welche ihm der Nekrolog zuschreibt, vollständig gemacht. Denn wenn in dem 1790 ausgegebenen Verzeichniß der Compositionen Seb. Bachs, welche sein Sohn Philipp Emanuel hinterlassen hatte, auf S. 81 zu lesen ist: »Eine Passion nach dem Matthäus, incomplet«, so wird man hierin nur die erste Niederschrift der großen Picanderschen Matthäus-Passion sehen dürfen. Es würde sonst Emanuel Bach drei Passionen, und Friedemann nur zwei besessen haben, was dem zuverlässigen Bericht über die Art, wie sich beide in den Nachlaß des [346] Vaters getheilt haben, widerspricht. Dabei mag unentschieden bleiben, ob dieses Manuscript wirklich nur noch unvollständig vorlag, oder ob dasselbe, da in ihm der große Schlußchor des ersten Theiles noch nicht vorhanden war, dem Verfertiger des Verzeichnisses nur irrthümlicher Weise so erschien. Die Lucas-Passion haben wir als den ersten Versuch eines genialen Anfängers in Ehren zu halten. Erachtete doch Bach selber sie einer Auffrischung für würdig, als er schon sein größtes Werk der Art geschrieben hatte. Er mag bei ihrer Erneuerung, die während der Jahre 1732–1734 vor sich gegangen sein wird, im einzelnen gebessert haben; daß er keine durchgreifende Änderungen vorgenommen hat, lehrt der Stil des ganzen Werkes, aus dem man freilich die Höhe kaum ahnen kann, zu welcher sich Bach der Passionscomponist in der Leipziger Zeit erheben sollte. Sie zeigen uns seine Johannes-und Matthäus-Passion, zu deren Betrachtung wir jetzt übergehen. Es ist ein eigenthümlicher glücklicher Zufall, daß grade diese drei Passionen uns erhalten sind, in denen Bachs allmählige Entwicklung so unvergleichlich scharf sich ausprägt. Wie früher berichtet worden ist, fanden die Erzählungen der Evangelisten Marcus und Lucas in der Liturgie des Leipziger Gottesdiensts keine Verwendung. Bach, der seine Kirchenmusik in so innige Verbindung mit dem Gottesdienst zu setzen liebte, wird diesen Umstand nicht übersehen haben. Ist es demnach äußerst wahrscheinlich, daß er selbst diesen beiden Werken die größte Wichtigkeit beimaß, so dürfen wir uns dem Glauben hingeben, daß in ihnen uns das vorzüglichste erhalten ist, was er auf diesem Gebiete hervorbringen zu können meinte. Die übrigen beiden Passionen scheinen ihren Schöpfer selbst an dem Orte seines Wirkens kaum lange überlebt zu haben. In den achtziger Jahren ließ der Cantor Doles nur noch drei singen: die Matthäus-, Johannes- und wahrscheinlich die Lucas-Passion60.

[347] Wenn die Vermuthung zutrifft, daß Bach Picanders Passionsdichtung von 1725 wirklich componirt hat, so kann die Passionsmusik, welche er am Charfreitag (7. April) 1724 aufführte, und die natürlich sein eigenes Werk war, nur die Johannes-Passion gewesen sein. Diese Annahme wird durch die Beschaffenheit des Manuscriptes derselben in einer Weise bestätigt, daß sie die Sicherheit einer Thatsache gewinnt. Es war das vierte Jahr, daß in den Leipziger Hauptkirchen überhaupt concertirende Passionsmusiken zu Gehör gebracht wurden. Als Kuhnau 1721 damit in der Thomaskirche begann, wurde vom Rathe verfügt, es sollte mit diesen Passionsmusiken jahrweise in beiden Kirchen umgewechselt werden. 1724 war also die Reihe an der Nikolaikirche. Da aber der Raum ihres Orgelchors ein sehr beschränkter war, zog Bach es vor in der Thomaskirche zu bleiben, hatte demgemäß seine Anstalten getroffen und mittelst der gedruckten Textbücher die Einladungen ergehen lassen. Der Vorsteher der Nikolaikirche wollte indessen auf die Ehre nicht verzichten, legte beim Rathe Verwahrung ein und Bach mußte sich vier Tage vor der Aufführung noch bequemen, in die Nikolaikirche überzusiedeln, eiligst dort die nöthigen Vorkehrungen treffen und neue Anzeigen drucken zu lassen.61 Die Gestalt, in welcher Bach die Johannes-Passion zum ersten male vorführte, war nicht die jetzt allgemein bekannte. Ehe es diese erhielt, hatte das Werk noch mancherlei Wandlungen durchzumachen. Bach schrieb, wie wir allen Grund haben anzunehmen, die Johannes-Passion noch in Cöthen und zwar als er beschlossen hatte sich um das Thomascantorat zu bewerben, und voraussetzte, er werde die Stelle erhalten. Seine Bewerbung erfolgte am Ausgange des Jahres 1722. Er berechnete wohl, daß er zum Charfreitag 1723 schon zu Leipzig im Amte sein werde, und wollte für diesen Fall gerüstet sein. Die Composition würde demnach größtentheils in die ersten Monate des Jahres 1723 fallen. Wie wir wissen verzögerte sich aber Bachs Berufung bis in den Mai, er konnte nun also sein Werk erst zum Charfreitage 1724 gebrauchen. Eine Anzahl von Eigenthümlichkeiten der Passion erklärt sich aus dieser ihrer Entstehung. Wollte der Componist recht zeitig fertig sein, so war Eile nöthig, und da ein geeigneter Dichter in Cöthen [348] nicht existirte, so mußte er sich bezüglich des Textes selbst zu helfen suchen. Die biblische Erzählung lag vor, für die richtigen Stellen passende Choräle zu finden war er wie nur einer befähigt. Schwierigkeiten machten allein die madrigalischen Stücke. Um sie zu beschaffen, griff er zunächst nach der beliebten Brockesschen Passionsdichtung. Sie verhalf ihm zu den Arientexten »Von den Stricken meiner Sünden«, »Eilt, ihr angefochtnen Seelen«, »Mein theurer Heiland, laß dich fragen«, »Mein Herz, indem die ganze Welt« (Arioso, mit nachfolgender Arie »Zerfließe, mein Herze«), und dem Text des Schlußchors »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«. Keinen dieser Texte hat Bach wörtlich aus Brockes entlehnt; die drei letzten sind freie Umgestaltungen, die ersten beiden wenigstens in Einzelheiten verändert. Nicht immer erscheinen die Aenderungen als Verbesserungen: wenn in der Arie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen« die »Mörderhöhlen Assaphs«62 durch die »Marterhöhlen« der angefochtnen Seelen ersetzt werden, so ist mit Beseitigung der allerdings entlegenen biblischen Beziehung auch der Gedanke des Dichters verdunkelt; wenn Brockes sagt: »Nehmt des Glaubens Taubenflügel« und Bach dies verändert in »Nehmet an des Glaubens Flügel«, so ist die Dichtung ebenfalls um ein schönes biblisches Bild ärmer.63 Dagegen hat er wieder einige crasse Ausdrücke des Originals taktvoll gemildert. Die Umdichtungen lassen das Lob, welches in späteren Jahren der Magister Birnbaum ihm spendete64, nicht unbegründet erscheinen: in Bezug auf Gewandheit der Satzfügung und Prägnanz des Wortausdrucks genügen sie zwar höheren Anforderungen nicht, zeigen aber doch manchmal einen feinen poetisch-musikalischen Sinn. Eine Gegenüberstellung von Urbild und Nachbildung wird dies deutlich machen. Als Jesus gestorben ist, heißt es bei Brockes:


Sind meiner Seelen tiefe Wunden

Durch deine Wunden nun verbunden?

Kann ich durch deine Qual und Sterben

Nunmehr das Paradies erwerben?

[349] Ist aller Welt Erlösung nah?

Dies sind der Tochter Zions Fragen.

Weil Jesus nun nichts kann vor Schmerzen sagen,

So neiget er sein Haupt und winket Ja.


Hieraus hat Bach eine directe Anrede an den Erlöser gemacht:


Mein theurer Heiland laß dich fragen,

Da du nunmehr ans Kreuz geschlagen

Und selbst gesagt: Es ist vollbracht!

Bin ich vom Sterben frei gemacht?

Kann ich durch deine Pein und Sterben

Das Himmelreich ererben?

Ist aller Welt Erlösung da?

Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen,

Doch neigest du dein Haupt und sprichst stillschweigend Ja.


Der Schlußgesang stützt sich nur in seiner zweiten Hälfte auf Brockes' Vorbild; die erste bewegt sich in den für diese Schlußgesänge üblichen Wendungen, die Bach wohl aus früheren Zeiten in der Erinnerung lagen.65 Für die übrigen fünf Arientexte ist eine Anlehnung an fremde Poesie nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Hier mag Bach größtentheils selbstschöpferisch aufgetreten sein.66 Der stricte Beweis ist freilich nicht zu erbringen, wie auch dafür nicht, daß er die Umdichtungen nach Brockes vorgenommen habe. Aber man findet [350] hier ganz jenes sprachliche Ungeschick, von dem wir schon früher ein Beispiel anführten (S. 283), und einen Inhalt wie von jemandem, dem eine Anzahl von Bibelstellen und Gesangbuchversen im Kopfe lag, welche er nun zu einem Ganzen nothdürftig zusammensetzte. Ein der Versfügung auch nur einigermaßen kundiger Mann kann diese Texte nicht gemacht haben. Da ich später den auf Bachs eigne Handschrift gestützten Beweis beibringen werde, daß er sich bei einer andern Veranlassung wirklich selber in einer Umdichtung versuchte,67 und diese ganz von der gleichen Beschaffenheit ist wie obige, so darf man mit Grund auch hier seine Arbeit vermuthen.

An der Composition der Bibelworte und größtentheils auch der Choräle hat Bach später nichts sehr wesentliches mehr zu ändern gefunden. Wohl aber unter den madrigalischen Stücken, in deren eiligst zusammengeschweißten Texten die Sprache gleichsam mit ihm davon gelaufen war. Drei derselben entfernte er gänzlich, sicherlich nicht weil sie musikalisch zu geringwerthig gewesen wären: aber ihr Charakter mußte ihm an den betreffenden Stellen ungeeignet erscheinen. An zweien dieser Stellen fügte er neue Solostücke andern Charakters ein, deren eines (»Betrachte meine Seel« mit der nachfolgenden Arie »Erwäge«) sich wieder als eine Umdichtung nach Brockes darstellt. Er scheint diese freilich auch hier selber geleistet zu haben und besser geglückt als bei früheren Gelegenheiten ist der Versuch wahrlich nicht. Man kann die Brockesschen Worte:


Dem Himmel gleicht sein buntgestriemter Rücken,

Den Regenbögen ohne Zahl

Als lauter Gnadenzeichen schmücken,

Die, da die Sündfluth unsrer Schuld verseiget,

Der holden Liebe Sonnenstrahl

In seines Blutes Wolken zeiget


im hohen Grade geschmacklos finden, aber sie enthalten klar geschaute, richtig durchgeführte Bilder. Wenn dagegen in der Johannes-Passion folgendes zu lesen ist:


Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken

In allen Stücken

Dem Himmel gleiche geht,

[351] Daran, nachdem die Wasserwogen

Von unsrer Sündfluth sich verzogen,

Der allerschönste Regenbogen

Als Gottes Gnadenzeichen steht,


so wird man hart an die Gränze des blühenden Unsinns geführt.68 Eine andre madrigalische Partie (»Mein Herz! indem die ganze Welt« und Arie »Zerfließe« nebst dem einleitenden biblischen Recitativ) hat Bach später gestrichen und durch eine Instrumentalsinfonie ersetzt, hernach aber doch die ursprüngliche Anlage wieder hergestellt. Freilich auch an Anfangs- und Schlußchor legte er die umgestaltende Hand. Beides waren großartige Choralchöre. Der letztere »Christe, du Lamm Gottes« bildet jetzt den Schluß der Estomihi-Cantate »Du wahrer Gott« (s. S. 181 ff.). Er hat auch sicherlich von Anfang an dahin gehört und wurde vom Componisten, da er diese Cantate als zu wenig zweckdienlich einstweilen zurücklegte, in die Passion nur herübergenommen; nachdem nun auch sie im Jahre 1723 nicht zur Aufführung gelangt war, wird der Chor auf seinen ursprünglichen Platz zurückversetzt sein und ist als Bestandtheil der Passion vielleicht überhaupt nicht zu Gehör gebracht. Den Eingangschor »O Mensch, bewein dein Sünde groß« benutzte Bach, wie vermuthet werden durfte, für die um 1725 componirte dritte Passion, und verleibte ihn endlich als Schlußchor des ersten Theils der umgearbeiteten Matthäuspassion ein, indem er ihn von Es dur nach E dur versetzte. An seine Stelle kam in der Johannespassion ein neuer Chor »Herr unser Herrscher«, an das Ende des ganzen Werkes ein einfacher Choral »Ach Herr, laß dein lieb Engelein«. Die hier aufgezählten Umgestaltungen sind zu ihrem größeren Theile für eine wiederholte Aufführung der Passion vorgenommen, welche am Charfreitage 1727 stattgefunden zu haben scheint. Später hat Bach die Passion wenigstens noch zweimal aufgeführt und zu diesem Zwecke jedesmal wieder mit einigen Abänderungen versehen. Die Zeit dieser [352] Aufführungen läßt sich nicht genauer angeben; doch wird wenigstens eine derselben in den dreißiger Jahren vor sich gegangen sein.69

Der alte Brauch, die Erzählung des Evangelisten und die Reden einzelner Personen recitativisch, die Äußerungen mehrer aber durch Figuralchöre singen zu lassen, stellte dem Bestreben ein gutgegliedertes, harmonisches Kunstwerk zu schaffen nicht unerhebliche Schwierigkeiten entgegen. Der Componist sah sich von einem Texte abhängig, der nicht für musikalische Behandlung geschrieben war und an dem er doch nichts wesentliches ändern durfte. Manche Theile desselben zwangen ihn, reiche musikalische Mittel aufzuwenden, bei andren, deren Gehalt vielleicht nicht weniger schwer wog, mußte er sich auf das einfache Recitativ beschränken. Kurze manchmal nebensächliche Stellen traten dadurch, daß sie als Chor behandelt werden mußten, unverhältnißmäßig hervor, während tief bedeutsame Äußerungen Gefahr liefen, in dem schlichten Fortgange des Sologesanges nicht genügend beachtet zu werden. Hier einen Ausgleich herzustellen war eine Hauptbestimmung der eingeflochtenen Choräle und madrigalischen Gesangstücke. Sie sollten die Aufmerksamkeit des Hörers bei den Hauptmomenten festhalten, die einzelnen Situationen der Handlung abgränzen und abrunden, Licht und Schatten im Fortgange des Ganzen und der einzelnen Theile richtig vertheilen. Es darf nicht verschwiegen werden, daß Bachs Johannes-Passion nach dieser Richtung hin manches vermissen läßt. An mehr als einer Stelle fließen die Bilder ungesondert zusammen, so Christi Verhör vor Hannas mit Petri Verleugnung, Christi Verurtheilung durch Pilatus mit seiner Kreuzigung; die Episode, wie Christus vom Kreuz herab seine Mutter dem Johannes anempfiehlt, hebt sich nicht scharf hervor.70 Die Stellen, an denen madrigalische Stücke eingesetzt sind, kann man nicht immer als wohl gewählt bezeichnen. Das Recitativ »Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein andrer Jünger« führt in die Schilderung von Petri Verleugnung ein. Wenn hier sich eine glaubensfreudige Arie anschließt: »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten, Ich lasse dich nicht, Mein Leben, mein [353] Licht«,71 und die Sache endlich doch nur auf schmähliche Schwäche und feiges Zurückweichen hinaus führt, so bedarf es keines besonderen Feingefühls um zu merken, daß ein beiläufiges Moment zum Schaden des Total-Eindrucks hervorgehoben ist, vollends da auf diese Weise zwei Arien fast unmittelbar neben einander zu stehen kommen. Wo die Stelle als solche für eine lyrische Form angemessen genannt werden muß, ist es zuweilen doch nicht die Art des Inhalts derselben. Nachdem Jesus von einem Diener des Hannas geschlagen worden ist, sammelt sich die Empfindung zunächst sehr schön in dem Choral »Wer hat dich so geschlagen?« Dann aber folgte sofort noch ein zweites Choralstück über die siebenzehnte Strophe von »Jesu Leiden, Pein und Tod«: zum Cantus firmus des Soprans singt der Bass einen madrigalischen Text, der allenfalls auf den gegeißelten und dorngekrönten Heiland, aber durchaus nicht an diese Stelle paßt.72 Den Worten »ging hinaus und weinete bitterlich« folgte ursprünglich eine leidenschaftliche Arie: »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel«, welche der Empfindung eine ganz andre Wendung gab, als man nach der Art, wie die vorhergehenden Bibelworte componirt sind, erwartet.73 Alle diese Dinge lassen die Verlegenheit erkennen, in der sich Bach, da er die Johannespassion in Angriff nahm, wegen der erforderlichen madrigalischen Dichtungen befand. Für wichtige Stellen fehlten ihm solche ganz, für andre verfügte er nicht über die richtigen. Die zahlreichen Veränderungen, denen er das Werk immer wieder unterzog, bekunden, daß es ihm selbst nicht genügen wollte. Manches hat er mit der Zeit wirklich gebessert: die erstere der beiden zuletzt genannten Arien hat er trotz ihres bedeutenden musikalischen Werthes später ganz gestrichen, die zweite taktvoll durch einen getragenen Klagegesang ersetzt. Nichtsdestoweniger blieben immer noch manche Unvollkommenheiten bestehen.

Augenscheinlich war es auch jene Verlegenheit um lyrische Gegensätze, welche Bach zu einer besonderen Behandlung der dramatischen Chöre trieb. Die Johan nes-Passion enthält deren eine beträchtliche Zahl, kunstreiche, markige und charaktervolle Tonbilder.[354] Auffallend ist die Gründlichkeit und Breite, mit welcher die Mehrzahl derselben ausgeführt ist, fast als ob es Oratorienchöre wären. Daß die betreffenden Worte im Zusammenhange der Erzählung eine solche Behandlung eigentlich nicht vertragen, da sie Momente nicht der Ruhe, sondern der Bewegung darstellen, bedarf keines ausführlichen Beweises. Man braucht auch nur in die Matthäus-Passion zu blicken und weiß, daß Bach sich hierüber klar war. Aber das Bedürfniß nach breiteren lyrischen Formen ließ sich nicht abweisen und mußte mit den vorhandenen Mitteln so gut es ging befriedigt werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es erklärlich, daß über verhältnißmäßig unbedeutende und affectlose Worte, wie »Wir dürfen niemand tödten« oder »Lasset uns den nicht zertheilen, sondern darum losen, weß er sein soll«, jene musikalisch so gehaltvollen Chöre gesetzt sind. Es liegt noch ein andrer Beweis dafür vor, daß es Bach bei den Judenchören in erster Linie nicht auf lebendige dramatische Massenäußerungen, sondern auf bedeutende musikalische Formen ankam, die dem Ganzen Ansehen und Größe geben sollten. Er hat nämlich fast einen jeden dieser Tonsätze mit geringen Abänderungen und durch den Text gebotenen Kürzungen oder Erweiterungen zu andern Worten ein oder mehre male wiederholt: den Chor »Wäre dieser nicht ein Übelthäter« u.s.w. zu den Worten »Wir dürfen niemand tödten«, den Chor »Sei gegrüßet, lieber Judenkönig« zu den Worten »Schreibe nicht: der Juden König« u.s.w., den Chor »Wir haben ein Gesetz« u.s.w. zu den Worten »Lässest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht« u.s.w. Außerdem hat Bach sich ein kurzes viertaktiges Sätzchen gebildet, welches er für nicht weniger als vier Chorstellen in Anwendung bringt und das nach einander von den Häschern, die Jesus gefangen nehmen, von dem Volk vor dem Palast des Pilatus und endlich von den Hohenpriestern unter sehr verschiedenen Umständen abgesungen wird. Die hierzu von den oberen Instrumenten ausgeführte Sechzehntelbegleitung wird sogar auch dem größeren Chore »Wir dürfen niemand tödten« in motivischer Fortspinnung hinzugefügt. Man kann nicht behaupten, daß die Musik zu den verschiedenen Texten immer gleich gut paßt. Ist die Wiederholung desselben Tonsatzes zu dem erneuten Rufe »Kreuzige ihn« innerlich wohl begründet, und in andern Fällen dem poetischen Sinne nicht gradezu [355] widerstreitend, so schickt es sich doch übel, wenn die Tonreihen der Worte »Sei gegrüßet, lieber Judenkönig« später zu dem Texte »Schreibe nicht: der Judenkönig, sondern daß er gesagt habe: der Juden König« abermals erklingen. Denn diesesmal sind die Empfindungen grundverschieden, dort schadenfroher Hohn, den die Musik, soweit ihre Mittel reichen, auch vortrefflich wiedergiebt, hier Unwille oder heimliche Besorgniß. Bach hat dem Wunsche nach musikalischer Festigung und Abrundung die feinere Charakterisirung geopfert.

Unter den vier evangelischen Berichten über Christi Leiden und Tod ist derjenige des Johannes der am wenigsten ausführliche und lebendige. Eine Reihe von bedeutsamen und für musikalische Behandlung geeigneten Momenten ist mit Stillschweigen übergangen, so namentlich die Einsetzung des Abendmahls, Christi Leiden in Gethsemane und die bei seinem Tode eintretenden Naturereignisse. Bach empfand dies sehr wohl als einen Mangel. Um wenigstens etwas abzuhelfen setzte er an den betreffenden Stellen aus dem Matthäus-Evangelium die Schilderung des Erdbebens ein und die Worte mit welchen die Episode von Petri Verleugnung so echt musikalisch abschließt »Da gedachte Petrus an die Worte Jesu, und ging hinaus und weinete bitterlich«74. Im großen und ganzen konnte er freilich die Dürftigkeit des Berichtes nicht heben. Es muß auch dieser Umstand in Betracht gezogen werden, um die Thatsache zu erklären, daß die Johannes-Passion an Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit so fühlbar hinter der Passion nach Matthäus, ja selbst hinter der nach Lucas zurücksteht. Ihr hoher, bleiben der Werth liegt nicht in der Gesammtgestaltung. Als Ganzes hat sie etwas trüb – einförmiges und nahezu verschwommenes. Dies muß man sagen, auch wenn man sich voll bewußt ist, daß ein solches Werk von einem ganz andern Standpunkte angesehen sein will, als ein Oratorium oder ein wirkliches musikalisches Drama. Es ist richtig: man darf einer Passion gegenüber nie vergessen, daß sie eine Kirchenmusik ist, daß in der Behandlung ihrer epischen, lyrischen und dramatischen Elemente [356] eine principielle Verschiedenheit nicht besteht, vielmehr alles was sie ausdrückt, und sei es das gegensätzlichste, in den Kreis einer unpersönlichen Allgemeinempfindung gebannt ist. Niemand darf es von vorn herein als stilwidrig tadeln wollen, wenn die Recitative der redend eingeführten Personen sich von denen des Evangelisten nicht durch eine größere Lebhaftigkeit scharf unterscheiden, wenn der Evangelist selbst sich von dem Inhalte dessen was er erzählt ergriffen zeigt: das Bibelwort behält dieselbe Wichtigkeit, gleichviel, wem es in den Mund gelegt wird. Es mußte dem Componisten unverwehrt sein, die Äußerungen der Häscher, Kriegsknechte und Hohenpriester ebensowohl durch den vollen Chor auszudrücken, wie die des ganzen Volks: den Gegensatz zwischen Einzelnen und Vielen im allgemeinen markirt zu haben war genügend. Auch ist an sich nichts dagegen einzuwenden, wenn über einen kurzen Satz wie »Kreuzige ihn« ein großer Chor gebaut wird, da derselbe eben vom kirchlichen Standpunkte aus eine hohe symbolische Bedeutung haben kann. Alles was an dramatischen Elementen im Passionstexte steckt, darf sich dem wahrhaft dramatischen Ausdrucke nur nähern, nicht aber die volle Schärfe und Natürlichkeit desselben annehmen. Indessen wenn auch alles dieses zugegeben wird, so bleiben innerhalb der gezogenen Gränzen für feinere Unterscheidungen und Abstufungen doch noch Möglichkeiten genug; das hat Bach in der Matthäuspassion unübertrefflich bewiesen. Der Johannes-Passion muß man den höchsten Grad von Vollkommenheit in dieser Beziehung absprechen.

Durch die Benutzung der Brockes'schen Dichtung ist in die Johannes-Passion ein Anklang an das italiänische Oratorium gekommen, insofern die Arie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen« einen Wechselgesang darstellen soll zwischen der Tochter Zion und den gläubigen Seelen. Auch die Zweitheiligkeit, die sich übrigens in der Lucas-Passion ebenfalls findet, muß man auf das italiänische Oratorium zurückführen, da der erste Theil eines solchen vor, der zweite nach der Predigt aufgeführt zu werden pflegte. Dem Gebrauch der protestantischen Kirche entsprach dies nicht; wenn man hier die Passionsgeschichte überhaupt theilte, so machte man sechs Abschnitte, für die sechs Tage der Marterwoche (Palmsonntag bis Charfreitag) je einen, zuweilen auch noch mehre, indem man die [357] vorhergehenden Sonntage der Fastenzeit ebenfalls bedachte.75 Bei der Art wie der Text der Johannes-Passion zu Stande kam, konnte von einer durchgreifenden Einwirkung des italiänischen Oratoriums auf seine Gestaltung natürlich keine Rede sein; viel stärker tritt sie in der Matthäus-Passion hervor. Ich erwähne dies um das frühere Werk dem späteren gegenüber zu charakterisiren, nicht als ob darin ein Vorzug oder Mangel desselben beruhe. Die Johannes-Passion trägt aber in Folge hiervon einen weniger modernen Anstrich im Sinne der damaligen Zeit. Dies macht sich auch positiv fühlbar durch die für beide Theile einführend und abschließend verwendeten Choräle, welche mit Ausnahme des ersten: »O Mensch, bewein dein Sünde groß«, der später entfernt wurde, einfach vierstimmig gesetzt sind. Hätte Bach ganz nach älterem Brauch verfahren wollen, so würde er am Schluß des ganzen Werkes entweder das übliche Danksagungslied » Nun ich danke dir von Herzen«, oder mit engerer Beziehung auf die Grablegung den Ristschen Choral »O Traurigkeit, o Herzeleid!« haben singen lassen. Die Chorarie am Grabe Jesu, welche dem Schlußchoral vorauf geht, und die in ähnlicher Gestalt in sehr vielen mitteldeutschen Passionen am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts sich findet, verdankt ihr Dasein einer altkirchlichen Ceremonie, der Repräsentation der Grablegung auf dem Chor vor dem Altar, bei welcher Gelegenheit eine Motette oder der Choral »O Traurigkeit« gesungen zu werden pflegte. Ich habe nicht gefunden, daß zu Bachs Zeit in Leipzig noch diese Sitte herrschte; daß aber die Ceremonie in dem üblichen Abschluß der Passionsmusiken nachklang ist sicher. In Leipzig muß schon deshalb die Erinnerung an sie lebendig gewesen sein, weil es feststehend war, daß nach der Passionsmusik eben das Lied »O Traurigkeit« von der Gemeinde gesungen wurde und dies war offenbar auch der Grund, warum es Bach am Schluß der Johannes-Passion nicht noch einmal besonders anbringen wollte. Noch viel später, zu einer Zeit, da [358] man die Passionen schon im Concertsaale aufführte, war es gebräuchlich den Schluß derselben mit dem Namen »bei dem Grabe Christi« zu bezeichnen76. Wo man nun einen solchen Grabgesang nicht missen, und doch zugleich den abschließenden Choral beibehalten wollte, mußten zwei Chorsätze auf einander folgen, wie es bei Bach in der Johannes-Passion geschieht, und in vielen andern Passionen aus der Zeit der älteren Kirchen-Cantate ebenfalls zu bemerken ist. Die nähere Beziehung, in welcher die Johannes-Passion zu dieser steht, zeigt sich auch noch in der Recitation des Bibeltextes, welche darauf verzichtet die Reden der einzelnen Personen namentlich Christi, durch reichere Begleitungsmittel hervorzuheben, und sich durchaus mit dem einfachen Generalbass begnügt.

Nur aber durch diese Zurückhaltung schließt sich Bach noch der älteren Praxis an, nicht in der Gestaltung der recitativischen Tonreihen selber. Nachdem diejenigen Eigenschaften der Johannes-Passion bezeichnet sind, welche den höchsten Ansprüchen nicht vollkommen genügen können, muß es nun um so stärker betont werden, daß in allem was den musikalischen Stil, die Erfindung, die Ausgestaltung der einzelnen Tonsätze betrifft, sich Bach auf der vollen Höhe gereifter Meisterschaft zeigt. Die Recitativ-Behandlung ist wie in den Cantaten aus Bachs bester Zeit. Wer mit Rücksicht darauf, daß es sich hier um Betrachtung, dort um Erzählung oder dramatische Rede handelt, einen Unterschied erwarten wollte, würde sich getäuscht sehen. Die Gelegenheiten zu eindringlicheren Wendungen und schärferen Accenten, welche der Text des Evangeliums bietet, hat der Componist nicht ungenutzt gelassen. Abgesehen davon, daß er affectvolle Worte manchmal durch besondere melodische und harmonische Mittel stark hervorhebt, malt er auch gern Bewegungsvorstellungen wie zurückweichen, zu Boden fallen, ausziehen und einstecken des Schwerts, begraben, schlagen, geißeln, kämpfen durch entsprechende Tonreihen, und zwar meistens der Singstimme, selten des begleitenden Basses. Auch Gefühlsbewegungen, welche nur mittelbar mit einem Begriffe oder Satze zusammenhängen, werden gelegentlich ausgedrückt. Das Wort »sterben« erhält ein düsterahnungsvolles, [359] die Worte »kreuzigen« und »Golgatha« ein schmerzlich verrenktes Melisma. Wenn die Knechte sich am Feuer »wärmten«, setzt Bach auf dieses Wort eine Tonfigur, welche offenbar die Empfindung des Behagens versinnlichen soll; man würde eine Absicht vielleicht nicht vermuthen, kehrte nicht dieselbe Tonfigur bei der Stelle, wo Petrus sich »wärmt«, wieder. Manches derart muß man gradezu errathen. Wenn Jesus bei den Worten »Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme« ein tieftrauriges Melisma hören läßt77, so liegt in dem Texte unmittelbar hierzu nicht die geringste Veranlassung. Schwebte vielleicht dem Componisten jener Vers des Lucas-Evangeliums vor (19, 42), wo Christus über Jerusalem weinend sagt: »Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen«? Einige Male schweift Bach sogar ins theatralisch-dramatische Gebiet hinüber und bringt Declamations-Bildungen, die zu ihrer vollen Wirkung den Hinzutritt von Gebärdenspiel zu verlangen scheinen; so Petri wiederholter Ausruf »Ich bins nicht!«, die Stelle »Barrabas aber war ein Mörder« und das mehrmals vorkommende a parte-Singen, welches sorglich durch die Vorschriften piano und forte angedeutet wird.78 Ein Princip der Behandlung läßt sich aber aus allen diesen Beispielen nicht gewinnen. Denn eben so häufig läßt Bach auch Worte und Sätze, die charakterisirende Accente und Melismen sehr wohl vertrügen, ja herauszufordern scheinen, in gewöhnlicher Recitativ-Manier absingen. Das oberste und einzig durchgehende Gestaltungsprincip wird durch den ihm innewohnenden Trieb nach starker melodischer Bewegung bedingt. Alles übrige ist nur Mittel zu diesem Zweck. Wäre es anders, so ließe sich garnicht begreifen, warum Bach zuweilen auch Malereien anbringt, die durchaus keine poetisch-musikalische Bedeutung haben und für sich betrachtet einfach als Spielereien erscheinen z.B. wenn er das Wort »Hochpflaster« so declamirt, daß auf die erste Silbe das durch einen aufwärts führenden Sextensprung erreichte 7. gesungen wird, auf die beiden andern aber 7., und somit der Begriff »hoch« auffällig hervortritt.79 Eine stärkere Ausbildung des melodischen Elementes entsprach [360] dem Stil des Kirchenrecitativs, besonders liebte man die Schlußfälle in ariose Wendungen ausgehen zu lassen, wobei eine Anknüpfung an die Art der Cadenzirung im gregorianischen Choralgesang unverkennbar ist. Aus solchen Cadenzen sind die weit, ja etwas zu weit ausgeführten Melismen hervorgegangen, welche Bach bei den Sätzen »und ging hinaus und weinete bitterlich« und »da nahm Pilatus Jesum und geißelte ihn« angebracht hat.80 Aber selbst die Berufung auf den Stil des Kirchen-Recitativs genügt noch nicht zur Erklärung der hier vorliegenden Erscheinung. Dem Bachschen Recitativ ist – ich muß einen früher gebrauchten Ausdruck wiederholen, denn ich finde keinen treffenderen – etwas vom Charakter des Praeludiums oder der freien Fantasie eigen81. Fessellos ergeht sich der Componist im Bereiche der melodischen Gestalten, läßt sich zu ihrer Bildung bald von hier bald von dort her, jetzt durch wichtige, dann wieder durch ganz unwichtige Dinge anregen, ohne jedoch dem Rechte des souveränen Beliebens je zu entsagen. Daß es einem bedeutsamen Worte sich das eine mal ganz hingiebt und es mit allen Mitteln seiner Kunst erschöpfend illustrirt, bei andern Gelegenheiten aber gleichgültig darüber hinweggeht – ein Grund dafür läßt sich aus der Sache nicht entwickeln: es gefiel ihm so und er that es.

Auf den oratorienhaften Zug in den dramatischen Chören der Johannes-Passion ist oben schon hingedeutet worden. Es steckt in ihnen aber außerdem noch etwas, das nicht das Gepräge des Oratoriums trägt. Eine Polyphonie von seltener Dichtigkeit und ein gewisses compactes Wesen ist allen eigen, sofern sie überhaupt breiter ausgeführt sind. Man kann zugeben, daß hierdurch die fanatischen, in ihrer Mordlust, ihren wilden Beschuldigungen und Drohungen sich überstürzenden Juden gut charakterisirt werden. Aber der eigentliche Grund, welcher Bach zu dieser besonderen Schreibart veranlaßte, liegt nicht hier, denn der Chor der Kriegsknechte, welche um Christi Rock loosen, ist ganz ebenso gebaut. Wenn Bach aus Mangel an lyrischen Texten getrieben wurde, in der musikalischen Vertiefung der dramatischen Chöre einen Ersatz zu bieten, so mußte ihm andrerseits doch klar sein, daß er sich nicht [361] zum Schaden des Ganzen allzuweit von der knappen Form entfernen dürfe, welche diesen Chören ihrem poetischen Wesen nach eigentlich zukam. Die Mischung von Breite und Gedrungenheit, welche durch eine Vermittlung zwischen oratorienhaften und dramatischen Stil entstand, ist es welche die biblischen Chöre der Johannes-Passion zu einer so eigenartigen Erscheinung macht. Diese großen Formen, die mit bedeutendem musikalischen Inhalt bis zum Zerspringen gefüllt sind, bezeugen eine imponirende Schöpferkraft, haben aber auch etwas unheimliches und schwüles. Durch den großen Raum, den sie im Werke einnehmen, bestimmen sie zugleich zu einem wesentlichen Theile den Gesammtcharakter desselben.

Die Choräle sind fast alle im einfachen vierstimmigen Satz, d.h. wie Bach ihn auf der Höhe seiner Entwicklung zu schreiben pflegte. Mittelst einer wunderbaren Geschmeidigkeit der Stimmführung und eines unerschöpflichen harmonischen Reichthums vermag er es durch tiefempfundene Ausdeutung des Einzelnen überall blühendes mannigfaltiges Leben zu verbreiten und ebensosehr die ganzen Choräle unter einander in wirksamsten Contrast zu bringen. Die schönsten Beispiele für letzteres bieten der Choral »Ach großer König«, durch welchen ein Strom überschwänglicher Liebe hinwogt, und jener in rührender Schlichtheit auftretende wundervolle Gesang »In meines Herzens Grunde.«82 Auch die Auswahl der Choräle sowohl hinsichtlich des Textes als auch der Melodien ist eine des großen Meisters würdige. Das Stockmannsche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod« bildet den Mittelpunkt der kirchlichen Empfindung. Ursprünglich kehrte es viermal mit verschiedenen Strophen wieder. Eine Strophe hat Bach später mit der Arie »Himmel reiße« gestrichen. Es erklingt nun zweimal im einfachen Satze, und zuletzt, nach den Worten »Und neigete das Haupt und verschied« als Choralfantasie, indem der Bass zur Orgel eine Arie singt, durch deren feines Geflecht der leise und andächtig ertönende vierstimmige Choral getragen wird. Was die Sologesänge als solche betrifft, so gehören sie vielleicht nur mit Ausnahme der Arie »Ach windet euch nicht so« und der später an ihre Stelle getretenen »Erwäge« zu den vorzüglichsten die Bach geschrieben. Wie man an ihnen einen mehr [362] älteren Zuschnitt hat entdecken können83, ist nicht recht zu begreifen, da sie fast alle durch ihre große, freie und neue Form von dem herkömmlichen Arientypus mehr oder weniger abweichen. Gleich die erste, von Wehmuth und demüthiger Dankbarkeit gesättigte Arie »Von den Stricken meiner Sünden« ist formell interessant und bedeutend durch die motivische Überleitung vom zweiten in den dritten Theil. Der Arie »Zerschmettert mich« giebt der häufige Tempowechsel und der kühne Schluß des Gesanges auf der Dominante einen leidenschaftlich-persönlichen, aller Convention ledigen Charakter. An Neuheit und packender Erfindung übertrifft sie noch die Arie »Ach mein Sinn«, durch welche sie später ersetzt wurde. Aber auch diese zeichnet sich, von ihren übrigen Vorzügen abgesehen, durch eine geistreiche Form aus: unmerklich werden wir vom zweiten in den dritten Theil hinübergeführt, welcher dieses Mal nur aus dem Anfangsritornell besteht, neben welchem der Gesang seinen Weg selbständig fortsetzt. Eigenartig ist ferner der Bau der Arie »Es ist vollbracht«, ihr nur von Orgel und Viola da gamba begleiteter Adagiosatz, dem ein Allegro mit dem vollen Streichorchester entgegen tritt, und das schließlich mit ergreifender Wirkung zurückkehrende Adagio. Der Bassarie »Eilt ihr angefochtnen Seelen« mit ihren drängenden Rhythmen und den einfallenden Fragen des Chors ist an dramatischer Lebendigkeit kaum ein Solostück aus den Mysterien Bachs an die Seite zu setzen. Auch die beiden Ariosos »Betrachte meine Seel« und »Mein Herz, indem die ganze Welt« sind Gebilde eigenster Art und tiefster musikalischer Bedeutung84. Der kunstvolle manchmals bis ans Gekünstelte getriebene Satz, welcher den meisten dieser Stücke eigen ist, verwehrt ihnen freilich einen so unmittelbaren Reiz und eine so populäre Wirkung auszuüben, wie dieses fast sämmtliche Sologesänge der Matthäuspassion thun. Der Eindruck, welchen sie machen, ist schwer und tief, die in ihnen [363] herrschende Stimmung düster; sie erweisen sich dem Duett der Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn«, die ja um dieselbe Zeit geschaffen wurde, innerlich nahe verwandt. Es kann kaum noch ein Interesse haben, die über Brockes'sche Texte gesetzten Stücke mit denen andrer Componisten derselben zu vergleichen. Sie überragen diese nicht nur unermeßlich an Reichthum und Tiefe, sondern erscheinen vermöge der tiefinneren Kirchlichkeit ihres Stiles gegenüber der opernhaften Religiosität der übrigen deutschen Meister als etwas gänzlich verschiedenes. Die einsame Größe, in welcher Bach als Kirchencomponist dasteht, wird durch eine Zusammenstellung mit den betreffenden Tonsätzen eines Keiser, Telemann, Mattheson, Stölzel, ja selbst Händeis eben nur von neuem klar.85

Madrigalische Chöre enthält die Johannes-Passion nur zwei. Der dem Schlußchoral unmittelbar vorhergehende Grabgesang ist eine Chorarie, die jedoch nicht strophische Bildung sondern die italiänische Da capo-Form hat. Eine ganz einfache Construction war hier Stilgesetz: die Oberstimme trägt die Melodie vor, von den Unterstimmen in freier, schöner Bewegung begleitet; an den üblichen Stellen treten Ritornelle ein. Um so mehr fällt die Länge dieses Chores auf. Er hat nicht drei sondern fünf Theile, indem der zweite noch einmal als vierter in einer andern Tonart wiederholt wird; so erreicht das Stück die enorme Anzahl von 172 Takten. Es ist ein unersättliches Grüßen und Abschiednehmen über dem Grabe. In die thränenvolle Innigkeit des Gesanges mischen sich sanft abwärts bis in die Tiefe fließende Achtelgänge der Saiteninstrumente, als rollten die Erdschollen langsam über den Sarg. Daß Christi Begräbniß nach anderer als unserer Art geschah, hat Bach augenscheinlich nicht gekümmert, denn die Vorstellung des Hinabsenkens wollte er unzweifelhaft versinnlichen. Ein höchst merkwürdiges Stück steht uns in dem Eingangschore gegenüber, welchen Bach zur zweiten Aufführung der Johannes-Passion schrieb. Der Text:


[364] Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm

In allen Landen herrlich ist,

Zeig uns durch deine Passion,

Daß du, der wahre Gottessohn,

Zu aller Zeit,

Auch in der größten Niedrigkeit

Verherrlicht worden bist,


dessen erste Zeilen an den Anfang des achten Psalms anklingen, dürfte wohl ebenfalls von ihm selber herrühren. Die Tonart ist G moll. Bald in imposanten Ausrufen und massig in Sechzehntelfiguren sich aufthürmenden homophonen Sätzen, bald in stolz aufsteigenden oder breithinfließenden Themen, die canonisch, fugenartig oder frei nachgeahmt werden, entrollen die Singstimmen über langen Orgelpunkten ein gewaltiges Bild göttlicher Macht und Grösse. Anderes wirkt der Chor der Instrumente. Durch das ganze Stück hindurch tönt, meist in den Geigen und Bratschen dreistimmig und stets in tiefer oder mittlerer Lage, auf Strecken abwechselnd auch in den Bässen, rasch vorübergehend nur in den tiefliegenden Flöten und Oboen, eine düster rauschende unablässige Sechzehntelbewegung. Darüber hin ziehen fast ohne Unterbrechung sich fortspinnend lange Klagetöne der Blasinstrumente. Was Bach beabsichtigte, ist im allgemeinen auf den ersten Blick klar. Er wollte die Majestät und Gewalt des Gottessohnes und zugleich seine tiefe Erniedrigung bis zum bittersten menschlichen Leiden in ein Bild zusammenfassen. Und auch in der Deutung jener instrumentalen Sechzehntelbewegung glauben wir nicht zu irren. Es war den geistlichen Dichtern jener Zeit ein geläufiges Bild, die Trübsal des Menschenlebens als Meereswogen darzustellen, welche den Menschen zu überfluthen und hinabzuziehen drohen. Die Erzählung von Christi Meerfahrt bot hierzu wohl die nächste Veranlaßung. Ein großer Theil der früher besprochenen Cantate »Jesu schläft«86 beruht auf dieser Vorstellung; auch befindet sich in der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« eine Arie solchen Inalts.87 Die Bewegung der Wellen musikalisch auszudrücken, war natürlich eine willkommene Aufgabe; in der letztgenannten Arie geschieht es durch eine Violinfigur, welche der im ersten Chor der Johannes-Passion herrschenden ziemlich ähnlich ist. Man [365] kann demnach nicht zweifeln welchen Sinn dieses düster wogende Instrumentalbild in sich birgt. Bach hat die entgegengesetzten Vorstellungen und Empfindungen, die es galt auszudrücken, auch entgegengesetzten Tonkörpern zugetheilt: der göttlichen Herrlichkeit sollen die Singstimmen, dem menschlichen Leid die Instrumente Ausdruck verleihen. Es wiederspricht dieser Deutung nicht, wenn die Singstimmen ihre Gänge bisweilen mit denen der Streichinstrumente vereinigen. Denn gesungen bekommen jene Sechzehntelfiguren eben einen andern Charakter, umsomehr wenn sie wie hier, nur vorüber gehend und von einem reichen Wechsel andrer Tongestalten abgelöst auftreten. Wir begegnen auch einer solchen Combination bei Bach nicht zum ersten Male; schon im Schluschorale der Cantate »Herr, gehe nicht ins Gericht« waltete dieselbe Idee.88 Selbstverständlich laufen nicht zwei verschiedenartige Conceptionen äußerlich neben einander her, beide sind aus einer Gesammtvorstellung entsprungen und nur zu größerer Wirksamkeit in der Erscheinung auseinander gelegt. Die Kraft der Phantasie, welche es Bach ermöglichte, zwei derartige Gegensätzein eins zu bilden, ist staunenswürdig. Aber noch ein anderes erregt unsere Bewunderung in nicht geringerem Grade. Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, wie Bach es liebt und versteht in den Anfangschören seiner Cantaten deren Empfindungsgehalt zusammenzudrängen und so das Gebiet zu umgränzen, auf welchem die Entfaltung des Kunstwerks vor sich gehen soll. Demselben Zwecke dient auch der Einleitungschor der Johannes-Passion, er bildet gleichsam den Prolog derselben. Es ist sicherlich mit tiefer Überlegung geschehen, daß Bach sich grade für einen solchen Text entschied, der nirgends dem Gefühl der Klage, der Theilnahme an Christi Leiden, der Beseligung durch seinen Opfertod Raum giebt, sondern nur den Gegensatz zwischen der ewigen Macht des Gottessohnes und seiner zeitlichen Erniedrigung hervor hebt. In der That findet auch in dem Chorbilde die warme Mitempfindung nirgends einen Ausdruck. Es ist von einer finstern, unnahbaren Größe und in dieser Eigenschaft unter Bachs Werken einzig.89 Aber es faßt mit imponirender Sicherheit [366] die Grundstimmung des ganzen Werkes zusammen, eines Werkes, das nicht immer klar gegliedert, nicht mit dem vollen Reize der Mannigfaltigkeit geschmückt ist, das aber in mächtigen Umrissen und in einer trüben, unheimlichen Beleuchtung dasteht, welche so seltsam contrastirt gegen die Vorstellung der Milde und Liebe, die wir mit dem Verfasser des Johannes-Evangelium zu verbinden gewohnt sind. –

Als Bach den Entschluß faßte eine Passion nach dem Matthäus zu componiren, besaß er was ihm bei der Johannespassion in empfindlicher Weise gefehlt hatte: die Hülfe eines gewandten, willigen und durch mehrjähriges Zusammenarbeiten erprobten Dichters. Picander war ein weniger als mittelmäßiges Talent, aber Bach verlangte nur Leichtigkeit in der äußerlichsten poetischen Gestaltung, und diese stand jenem zu Gebote. Die Grundzüge der Passionsform standen von Alters her fest; daß an dem biblischen Fundament nicht getastet werden dürfe, wenn es gelten sollte, die kirchliche Bedeutung des Leidens Christi in höchster und umfassendster Gestalt zur Erscheinung zu bringen, davon war Bach trotz der entgegengesetzten Zeitströmung überzeugt. Er besaß auch jenes Wissen und Feingefühl in hinreichendem Maße, das nöthig war um durch Einflechtung geeigneter Choräle an den passenden Stellen den protestantisch-kirchlichen Grundton des Werkes bis zur größtmöglichen Intensität zu bringen. Er lebte ferner noch zur Genüge in den Anschauungen der geistlichen Volksschauspiele um seinen Dichter zur thunlichsten Berücksichtigung derselben anzuhalten. Wie viel von der Gestaltung des Textes zur Matthäuspassion auf Bachs, wie viel auf Picanders Rechnung kommt, wird sich bis ins einzelste hinein kaum jemals nachweisen lassen. Daß aber Bach einen sehr bedeutenden Antheil an ihr hatte, darf als unzweifelhaft angesehen werden. Schon indem Picander seine Dichtung nicht nur ohne den biblischen Text, sondern auch ohne die Choräle drucken und wieder abdrucken ließ, zeigte er, daß er an der Form, welche derselben durch die Choräle [367] gegeben wurde, sich nicht betheiligt fühlte.90 Aber auch auf die Gestaltung der madrigalischen Partien wirkte Bach maßgebend ein. Er nur kann es gewesen sein, der die Benutzung des Franckschen Gedichtes »Auf Christi-Begräbniß gegen Abend« veranlaßte,91 und es scheint als ob er sich an dieser Verwerthung Franckscher Poesie für den Passionstext nicht einmal habe genügen lassen. Denn auch das Recitativ »Du lieber Heiland du« stimmt im Gedankengang und zum Theil auch in den einzelnen Wendungen mit einem Franckschen Madrigal in ähnlicher Weise überein, wie das Recitativ »Am Abend da es kühle war« mit dem obengenannten Begräbnißliede.92 Unbestreitbar ist, daß durch beider Zusammenwirken ein Text entstand, der Bachs Wünsche in jeder Beziehung befriedigte und den auch wir [368] als zweckentsprechend gelten lassen müssen, mag man sonst über Picanders Reimereien so gering denken, wie man will.

Der Passionsbericht nach Matthäus wurde in Leipzig alljährlich am Palmsonntage choralisch abgesungen. Die enge Beziehung, in welche er hierdurch zu dem Gottesdienste gesetzt war, mußte auch Bach zu einer eindringlichen künstlerischen Behandlung desselben besonders antreiben. Aber schon in der Sache selbst lag die Veranlassung hierzu, weil der Bericht des Matthäus an Reichthum und Anschaulichkeit auch die Berichte des Marcus und Lucas noch erheblich überragt. Er füllt das 26. und 27. Capitel des Evangeliums. Wiederum hat Bach seinen Stoff in zwei Abschnitte getheilt, doch nicht nach Maßgabe der Capitel. Er schließt den ersten Theil mit der Gefangennahme Jesu und der Flucht der Jünger (Cap. 26, v. 56), das Verhör vor Caiphas, Petri Verleugnung, das Gericht des Pontius Pilatus und sein Urtheilsspruch nebst den Episoden von dem Ende des Judas und der Sendung des Weibes des Pilatus, der Zug nach Golgatha, Kreuzigung, Tod und Begräbniß – alles dieses ist in den zweiten Theil zusammengefaßt, während der erste nur die Anschläge der Hohenpriester und Schriftgelehrten, die Einsetzung des Abendmahls mit Christi Salbung, das Gebet am Oelberg und Judä Verrath enthält. Schon in dieser Vertheilung des Stoffes tritt die Weisheit der Disposition hervor. Bei einem Werke, das in den größesten Verhältnissen angelegt war und sich durchaus nur mit der Darstellung trüber Affecte zu thun machte, war es geboten alle Möglichkeiten der Gegensätze auszunutzen. Der erste Theil steht dem zweiten gegenüber wie Vorbereitung der Erfüllung, hier überwiegt eine feierliche Ruhe, dort leidenschaftliche Bewegung, hier das lyrische, dort das dramatische Element. Die Zahl der madrigalischen Texte ist eine beträchtliche, sie beläuft sich auf 28, wenn man wie billig die madrigalischen Recitative als selbständige Stücke ansieht. Hierzu kommen 15 Choräle. Mit so reichen Mitteln lyrischer Dichtung ausgestattet sah sich Bach in ganz andrer Weise als bei der Composition der Johannes-Passion in der Lage alle die einzelnen Handlungen von einander abzugränzen und befriedigend abzurunden. Nur an zwei Stellen steht am Ende einer solchen nicht auch ein abschließendes lyrisches Tonstück. Bei der Erzählung vom Tode des Judas knüpft die Arie »Gebt mir meinen Jesum wieder« an die Rückgabe [369] des Verrätherlohnes an, da die noch folgenden Bibelverse zu einer Überleitung in eine angemessene Betrachtung weniger geeignet erscheinen mußten. Die Schilderung von Christi Tod aber schließt Bach sehr sinnvoll mit dem Bekenntniß der wachthabenden Heiden ab »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen« und zieht die Erwähnung der bei der Kreuzigung anwesenden Frauen mit der Begräbniß-Handlung zusammen, was deshalb recht wohl anging, weil die beiden Marien auch bei der Auferstehungs-Geschichte eine Rolle zu spielen hatten.

Der Größe und Weite der poetischen Objecte entsprechen die aufgewendeten Tonmittel.93 Bach hat zwei Chöre aufgestellt und einem jeden sein eignes Orchester und seine eigne Orgelbegleitung gesellt. Von diesen beiden Hauptmassen hat er einen bewundernswerthen Gebrauch zu machen gewußt, sowohl um das poetisch bedeutungsvolle nach Seite des lyrischen wie auch des dramatischen zu accentuiren, als auch überhaupt das mächtige Gesammtbild musikalisch fein zu gliedern. Bei den dramatischen Massenäußerungen, wo das leidenschaftliche Wesen der fanatischen Verfolger Christi charakterisirt werden soll, concertiren die Chöre meistens mit einander und ballen sich nur auf den Höhepunkten der Leidenschaft zur gedrungenen Vierstimmigkeit. Weniger affectvolle Sätze begnügt sich Bach einem Chore allein zuzutheilen: wenn Caiphas' Diener den Petrus anreden: »Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verräth dich«, läßt er den zweiten Chor allein singen, die höhnenden Worte unter dem Kreuz »Der rufet den Elias« hat der erste, die gleich folgenden »Halt, laß sehen, ob Elias komme und ihm helfe« der zweite Chor. Die Jünger Jesu werden nur durch den ersten Chor vertreten. In allen Chorälen, wofern sie nicht durch madrigalisches Beiwerk umflochten sind, außerdem aber auch in dem bedeutungstiefen dramatischen Chorsatze »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen« fließen beide Chöre zu einer Tonmasse zusammen. In den großen madrigalischen Tonbildern am Anfang und Schluß, sowie gegen Ende des ersten Theils concertiren sie in grandioser Entwicklung, in der Einleitungs-Nummer gesellt sich ihnen [370] sogar noch ein dritter einstimmiger Chor hinzu. Den Einzelgesang anlangend, so werden alle biblischen Rollen, mit Ausnahme der falschen Zeugen, vom ersten Chore gestellt. Die madrigalischen Recitative und Arien sind zwischen beide Chöre, unter geringer Mehrberücksichtigung des ersten, ziemlich gleich vertheilt. Dieser Umstand, der bei jetzigen Aufführungen unbeachtet gelassen zu werden pflegt, ist gleichwohl von nicht geringer Bedeutung, da die Chöre natürlich getrennt – auf dem rechten und linken Flügel des Orgelchors – aufgestellt waren. Bach kannte keine Solosänger als solche, welche dem Chor gegenübergestellt gewesen wären. Seine Concertisten sangen auch im Chor mit und traten nur wenn die Reihe an sie kam vorübergehend aus demselben hervor. Mußte schon das von eigenthümlicher Wirkung sein, wenn die Sologesänge bald aus dieser, bald aus jener Richtung in den Kirchenraum hineinschallten, so wurde der Eindruck vollends ein frappanter, wenn mit einer aus den Reihen des einen Chors hervortönenden und von seiner eignen Begleitung umsponnenen Solostimme von der andern Seite her der volle Chor mit dem zugehörigen Orchester concertirte. Wenn z.B. in der Scene am Ölberg eine Stimme des ersten Chors klagt: »O Schmerz! Hier zittert das gequälte Herz«, und von der andern Seite wie das leise Gebet einer reuig niederknieenden Gemeinde der Choral ertönt: »Was ist die Ursach aller solcher Plagen«, so muß sich hieraus eine ans dramatische streifende Wirkung ergeben haben.

Die verschiedenen poetischen Bestandtheile, welche mit der Zeit in die Form der Passionsmusik eingegangen waren, hat Bach ohne die Grundeinheit des Stils je zu verletzen, feinfühlig als solche zu charakterisiren gewußt. Er hat kein Bedenken getragen, neben dem biblischen auch madrigalisches Recitativ in ziemlicher Menge einzuführen. Er hat jenes sogar noch durch instrumentale Zuthaten colorirt und es doch ermöglicht, daß ein jedes für sich sofort erkannt wird. Der Evangelist und die übrigen redend eingeführten Personen singen Secco-Recitativ; zu Jesu Reden tritt, um sie von den andern auszuzeichnen, Streichquartett hinzu, dessen Begleitung sich meist auf ausgehaltene Accorde beschränkt, einzelne Stellen jedoch mit feinsinnigen Illustrationen schmückt, und bei der Einsetzung des Abendmahls den zu einem langen Arioso sich festigenden Gesang durch einen kunstreichen vierstimmigen Satz einhüllt. Die Begleitung [371] der Reden Jesu soll vorzugsweise coloristisch wirken. Dagegen haben die madrigalischen Recitative ein obligates Accompagnement, in welchem ein Motiv durchgeführt zu werden pflegt, das irgend eine bedeutsame Vorstellung des Textes musikalisch versinnlicht. Diese Recitative stehen also fest organisirten Tonstücken noch um einen Schritt näher, und bilden den natürlichsten Übergang zu der abgeschlossenen Form der Arien, welche ihnen folgen. Gern theilt Bach die Begleitung Blasinstrumenten zu, um zu den Recitativen Christi auch einen klanglichen Gegensatz zu erzielen. So erreicht er Mannigfaltigkeit genug und eine der verschiedenen Bedeutung der Recitative entsprechende musikalische Gegensätzlichkeit. Was von den Sologesängen, gilt nicht weniger von den Chorstücken. Bach, dem eine unermeßliche Fülle von Choralformen zu Gebote stand, hat sich doch in der Mat thäus-Passion jeder andern als der chorischen Behandlung des Chorals weise enthalten. Bei weitem die Mehrzahl der Choräle ist im einfachen Stil gesetzt und bringt die Gemeinde-Empfindung in ihrer ganzen Schlichtheit und Kraft zur Geltung. Zweimal aber, in den Chören am Anfang und Schluß des ersten Theils, erweitert er die einfache Form zur Choralfantasie, gewährt somit der persönlichen Empfindung freien Eintritt. Jedoch auch diese beiden Stücke sind wieder von einander abgestuft, indem im Sclußchore des ersten Theils das subjective mehr nur im Instrumentalbild seinen Ausdruck findet, in der Einleitungs-Nummer dagegen durch die beiden mit ihrem eignen Texte versehenen Haupt-Chormassen. Schlägt Bach so die Brücke zwischen den streng kirchlichen und frei madrigalischen Chören, so weiß er durch Combination von madrigalischem Sologesang und einfachem Choralchor (»O Schmerz! hier zittert das gequälte Herz«) auch zwischen diesen gegensätzlichen Elementen, und durch das Eingangsstück »Ach! wo ist mein Jesus hin?« zwischen der Arie und dem chorisch componirten Bibelwort überhaupt eine Verbindung herzustellen, ohne das eigenartige ihres Wesens zu verwischen. Die rein madrigalischen Chöre läßt er mit breitestem Wogenschlag aber in den einfachsten Formen vorüberrollen, bei den dramatischen Chören liebt er die dem Bibelwort angemessene contrapunktische Vertiefung, faßt sie jedoch geflissentlich zu dem knappsten Ausdruck zusammen. Abgesehen von einigen allerdings ganz neuen und eigenartigen Erscheinungen sind die musikalischen Formen [372] in der Matthäus-Passion keine andern, als in den Cantaten. Staunenswürdig aber ist die in ihrer Verwendung sich offenbarende künstlerische Ökonomie. Überall herrscht eine klare Gliederung, und zugleich eine weiche Linienführung und milde Abtönung der Gegensätze, wie wir es der Johannes-Passion in solchem Grade nicht nachrühmen können. Für den Gesammteindruck ist dieser Umstand in erster Linie bestimmend.

Über die biblischen Recitative der Matthäus-Passion wäre im besonderen kaum etwas hinzuzufügen; die bei Besprechung der Johannes-Passion gemachten Bemerkungen gelten auch für sie. Da man aber in ihnen eine scharfe Charakterisirung der verschiedenen biblischen Individuen hat entdecken wollen,94 so sei hier noch ausdrücklich betont, daß derartiges von Bach weder gegeben ist noch überhaupt hat beabsichtigt sein können. Die Passion entlehnt wohl einige Züge vom Drama, aber ein wirkliches Drama ist sie darum nicht. Was zur Hervorhebung der Personen geschehen soll, wird durch die Vertheilung der Reden an verschiedene Stimmen und bei den Reden Christi allenfalls durch eine besonders colorirte und zuweilen etwas selbständiger geführte Begleitung bewirkt. Von hier bis zu einer dramatischen Charakterisirung ist noch ein weiter Weg. Eine solche kann nur darin bestehen, daß für die verschiedenen Persönlichkeiten je eine besondere sich stets gleichbleibende Grundweise des Empfindungsausdrucks geschaffen wird, nach welcher sich der Ausdruck im einzelnen zu modificiren hat. Läßt sich diese nicht aufzeigen, so läuft alle vermeintliche Charakteristik auf angemessene Betonung der einzelnen Worte und Sätze hinaus. Und selbst diese ist bei Bach keineswegs so durchgehend vorhanden, daß man sagen könnte, sie habe ihm als oberstes Gestaltungsprincip vorgeschwebt. Vollständig zu begreifen dürfte das Wesen seiner Recitative nur sein, wenn man sie betrachtet als musikalische Improvisationen unter poetischen Anregungen und zwar als Improvisationen innerhalb einer bestimmten Form des kirchlichen Stiles. Denn nur aus der kirchlichen Anschauung erklärt es sich, wie Bach der Erzählung des Evangelisten den gleich innigen Gefühlsausdruck hat geben können, wie den Reden [373] der einzelnen Personen – eine Thatsache, die allein hinreicht um allen Behauptungen von dramatischer Charakteristik den Boden zu entziehen. Überall ist auch in der Partie des Evangelisten eine schwellende Gefühlsbewegung merkbar, welche oft eben weiter nichts ist, als eine solche, sehr oft aber auch zu einer bestimmten Empfindung sich concentrirt. Das Trauern und Zagen Christi in Gethsemane, die bittern Reuethränen Petri, Christi Kreuzigung erzählt der Evangelist nicht, sondern er erlebt sie mit der ganzen Inbrunst des nachempfindenden Christen. Er übersetzt den Ausruf »Eli, eli, lama asabthani« nicht, wie es bei Händel in der Passion nach Brockes der Evangelist thun muß,95 sondern läßt die Empfindung dieses Ausrufs aus seiner Brust heraus widertönen, wobei es offenbar wird, daß die Melodie eigentlich mehr zu den deutschen Worten erfunden ist als zu den hebräischen, mit deren Betonung sie sich nicht vollständig deckt. Als Petrus den Herrn zum dritten Male verleugnet, wiederholt der Evangelist die recitativische Phrase desselben um eine Quinte höher zu den Worten »Und alsbald krähete der Hahn«, mit der Mahnung an Christi Vorhersagung ihm den Spiegel seiner kläglichen Schwäche vorhaltend. Solche Dinge waren nur möglich, weil Bach den Worten des Evangelisten ebenso wie denen der redend eingeführten Personen zunächst als gläubiger Protestant und nicht als charakterisirender Dramatiker gegenübertrat. Auch jene Saitenquartettbegleitung, welche wie man es schön ausgedrückt hat die Reden Christi wie ein Heiligenschein umfließt,96 ist nicht aus einer dramatisirenden Tendenz hervorgegangen. Den unerforschlichen Gott mit seinen menschlichen Mitteln charakterisiren zu wollen, diesen Gedanken würde Bach sicherlich wie eine Blasphemie von sich gewiesen haben. Überdies ist der Gesang Christi genau von derselben Art, wie der der andern Personen. Aber wie in früherer Zeit Christi Worte wohl mehrstimmig vorgetragen wurden, damit durch die Anwendung reicherer Kunst ihnen ein höherer musikalischer Werth verliehen würde, so hat hier den Componisten die gläubige Ehrfurcht vor der Person des Heilandes getrieben, bei dessen Reden die Gemüther der Hörer zu besonderer Andacht zu stimmen. Übrigens war das Verfahren an sich nicht neu. Auf die »Sieben Worte« von [374] Schütz, die Bach schwerlich gekannt hat, braucht man nicht zurückzugreifen, um das Muster aufzuzeigen. Wenn Bach ein solches vor Augen gehabt hat, so könnte er es eher in der Marcus-Passion (B dur) von Telemann gefunden haben. Doch hat Telemann die Reden Jesu sehr häufig arios behandelt, wogegen Bach durch dieses Mittel nur die bei der Einsetzung des Abendmahls gesprochenen Worte stark hervorhebt. Beide Componisten haben an einer, jedoch verschiedenen Stellen die Streichquartett-Begleitung aussetzen lassen: Telemann bei der auf die Frage des Pilatus gegebenen kargen Antwort des still leidenden Gottessohnes: »Du sagst's«, eine Stelle bei welcher Bach zwar auch die ausgehaltene Begleitung aufgiebt, aber doch kurze Accorde vorher und nachher einfallen läßt; Bach dagegen bei den auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung gesprochenen Worten »Eli, eli, lama asabthani«. Beides ist sinnvoll, aber das Verfahren Bachs, der in diesem Momente den Heiligenschein um das Haupt des Erlösers gleichsam erlöschen läßt, unvergleichlich tiefsinniger.97 Natürlich kann sich Telemann auch hinsichtlich der Ausführung der Begleitung im allgemeinen nicht entfernt mit Bach messen, sie bleibt ihm ein Mittel äußerlicher Auszeichnung, während sie hier wirklich die Empfindung erhöhter Andacht erweckt.98 War daher Bach in Bezug auf den Gedanken vielleicht nicht original, so war er es sicher doch in der Ausführung desselben.

Ist die Behandlung des biblischen Recitativs in der Matthäus- und Johannes-Passion wesentlich dieselbe, so zeigt sich dagegen bei den Chorsätzen über biblischen Text eine augenfällige Verschiedenheit. [375] An keiner andern Form läßt es sich überzeugender nachweisen, daß Bachs Mysterien eine Kunstgattung für sich bilden, als an den – der Kürze wegen so genannten – dramatischen Chören der Matthäus-Passion. Man betrachte die Stelle wo das jüdische Volk auf Anstiften der Hohenpriester und Ältesten die Losgebung des Barrabas verlangt. Der Evangelist läßt es auf die Frage des Pilatus nur mit dem einzigen Worte »Barrabam« antworten. Die Situation ist unzweifelhaft sehr affectvoll. Auch der Oratoriencomponist würde deshalb veranlaßt sein können, die gespannte Empfindung sich in einem Chor entladen zu lassen. Das müßte dann aber in einer Form geschehen, in welcher der Chor als musikalisches Organ seine volle Wirkung thun könnte, also in einem breit ausgeführten Stücke, und auch wohl über etwas zahlreichere Textworte. Der Dramatiker – der Operncomponist, wenn man will – würde sich kürzer zu fassen haben, da wir inmitten der Entwicklung einer Handlung stehen. Er hätte außer dem Empfindungsausdruck auch den sichtbaren Vorgang zu berücksichtigen: einen aufgeregten Volkshaufen, der ungestüm und tumultuarisch den Landpfleger umdrängt. Ein im wilden Durcheinander der Stimmen rasch vorüberbrausender Satz wäre das richtige gewesen für seinen Zweck. Bach, der Passionscomponist, läßt die vereinigten Chöre den Namen Barrabas auf einem mittelst Trugschlusses erreichten verminderten Septimenaccord ein einziges Mal herausstoßen. Oratorienhaft ist das natürlich nicht, aber auch im Drama wäre eine solche Knappheit des Ausdrucks in diesem Momente unmöglich. Bach braucht keine Rücksicht auf einen scenischen Vorgang zu nehmen, eine Freiheit, welche er im gegebenen Falle dazu benutzen darf, den Ausdruck noch über das dramatische Maß hinaus zu concentriren. Er zeichnet in erschöpfender Weise die Wildheit der Empfindung, zeichnet das Volk als dramatische Person und zeichnet den jähen Schrecken, der das Gemüth des gläubigen Christen bei der Antwort desselben ergreift. Es ist ein Meisterzug, gleich bewunderungswürdig durch die Sicherheit des Formgefühls, welche in ihm zu Tage kommt, wie durch die niederschmetternde Kraft des Ausdrucks. Obgleich die Fassung des evangelischen Textes ihn gleichsam an die Hand giebt, ist er doch keinem bedeutenden Componisten vor Bach eingefallen: sie bilden alle durch mehrmalige Wiederholung des Wortes »Barrabam« ein längeres Chorsätzchen. [376] Der nach wenigen Takten Recitativ auf jenen erschütternden Schrei folgende Chor »Laß ihn kreuzigen« mit seiner späteren Wiederholung bietet ein neues Beispiel des eigenthümlichen Passionsstiles. Er ist ein achttaktiger Fugensatz, in welchem die Stimmen vom Bass aufwärts jedesmal auf dem Schlußtone des Themas strengordentlich eintreten; wir erhalten also den Eindruck eines nach musikalischen Gesetzen kunstvoll entwickelten Organismus.99 Indessen schon die Kürze des Stückes läßt das Gemüth zu keiner rechten Ruhe kommen, noch entschiedener der Umstand, daß die Beantwortung des Themas keine regelrechte ist, und man in der mit A moll anhebenden Bewegung endlich auf der Dominante von E moll gewaltsam herausgeschleudert wird. Hier macht sich bereits ein dramatisches Element geltend, das in voller Stärke bei der Wiederholung des Chors hervortritt. Die Worte des Evangelisten »Sie schrieen aber noch mehr und sprachen« fordern eine Steigerung. Im Oratorienstil, wo das musikalische Princip überwiegt, müßte diese innerlich, durch complicirtere, intensiver wirkende Tonmittel zu Stande gebracht werden. Bach wiederholt einfach den Chor, aber um eine Tonstufe höher. Er schildert wirklich das Volk in seiner natürlichen Erregtheit: der Inhalt ihrer Äußerungen bleibt derselbe, sie schreien nur in gellenderem Tone; mit H anhebend, über dem das erste Mal geendigt war, schließt nun der Chor auf Cis (Dominante von Fis moll). Für diese Stelle ist die Vergleichung mit der Johannes-Passion besonders lehrreich. Auch in ihr kommt der Chor »Kreuzige ihn« zweimal vor. Der Tonsatz ist beide Male ziemlich der gleiche, aber das erste Mal steht er in G moll, das zweite Mal einen halben Ton tiefer in Fis moll. Von einer Steigerung ist hier in jeder Beziehung abgesehen. Der Grund des befremdenden Verfahrens liegt in der Modulationsordnung des gesammten zweiten Theils der Johannespassion. Einem allgemeinsten musikalischen Gestaltungsgesetz zu Liebe hat Bach nicht nur auf die dramatische Verschärfung ganz verzichtet, sondern ihr sogar entgegen gearbeitet, ebenso wie er kurz vorher auch den Chor »Wir haben ein Gesetz« zu andern Worten um eine halbe Tonstufe tiefer wiederholt. [377] Der Einfluß der dramatischen Anschauung läßt sich in einer gewissen Art der Chorschlüsse an noch andern Stellen der Matthäus- Passion außer den Kreuzigungschören wahrnehmen. Ziemlich häufig endigen sie ohne daß der Text eine Frage enthielte auf der Dominante ihrer Tonart und bringen dadurch den Eindruck des Unvollendeten, nach einer Fortsetzung Drängenden hervor. Dieses Mittels hat sich allerdings Bach auch in der Johannes-Passion schon fast durchgehends bedient. Darüber hinaus aber finden sich in der Matthäus-Passion Chöre, in welchen die Modulations-Entwicklung nicht in sich zurück, sondern einem neuen Ziele zuführt, in welchen also nicht die in sich ruhende Empfindung, sondern ein psychologischer Process dargestellt wird. Der Chor »Sein Blut komme über uns und unsre Kinder« führt aus den trüb wogenden Affecten des Hasses und der blinden Mordgier endlich zur frechen Überhebung über das Gesetz göttlicher Wiedervergeltung. In dem Chorsatze »Herr, wir haben gedacht« hat die Vorstellung der sich in immer größeren Eifer hineinredenden Hohenpriester und Pharisäer Bach veranlaßt, sich aus der unzweifelhaft festgestellten Grundtonart Es-dur endlich ganz hinauszucomponiren. Jene Mischung von Breite und Gedrängtheit, welche den Chören der Johannes-Passion eigen ist, mußten wir als eine nicht völlig gelungene Ausgleichung des oratorienhaften und dramatischen Stiles bezeichnen. In der Matthäuspassion ist die schwierige Aufgabe überall siegreich gelöst. Breite musikalische Anlage ist in den dramatischen Chören nirgends bemerkbar. Wo sie eine gewisse Länge haben, wird sie durch die Fülle der Textworte bedingt. Größeste Concentrirtheit, aber gepaart mit einer Strenge und Kunst der musikalischen Textur, welche zu der Wichtigkeit des poetischen Inhalts stets im richtigen Verhältniß steht, und beides getragen durch eine kirchliche Grundempfindung, das sind überall ihre Charakterzeichen. Was die besonderen nach Personen und Situationen verschiedenen Empfindungsäußerungen betrifft, so muß man sie, um sie recht zu würdigen, durch das doppelte Medium der kirchlichen und einer zwischen Oratorienhaftem und Dramatischem die Mitte haltenden Anschauung betrachten. Sie erscheinen auch so noch in einer sehr bestimmt wahrnehmbaren Abtönung. Die Chöre der Jünger zeichnen sich mehrfach durch ein Gefühl demüthiger Hingebung aus, das an der Stelle wo sie ihrem [378] Herrn das Osterlamm bereiten wollen, einen Beisatz von Feierlichkeit, als sie erfahren, daß ein Verräther unter ihnen sei, einen Zug ängstlicher Betrübniß erhält. In den Chören der Verfolger waltet der fanatische Haß in seinen verschiedenfachsten Schattirungen. Er steigert sich zu entsetzlicher Wuth, wenn sie Christi Kreuzigung fordern, nur ein übermächtiges Genie vermochte es, der Naturwahrheit so nahe zu kommen ohne doch aus den Gränzen, welche der Stil des ganzen Werkes zog, herauszutreten.100 Als die Juden ihres Opfers gewiß sind, schlägt die Wuth in eine dämonische Wildheit um. Eine feierliche Überzeugtheit redet aus dem kurzen Chorsatz der Heiden »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«.

Wie in den Passionen nach Lucas und Johannes so hat Bach auch in derjenigen nach Matthäus einen der eingefügten Choräle durch besonders häufige Wiederholung vor den übrigen hervorgehoben und in den Mittelpunkt des kirchlichen Empfindens gestellt. Unter den vierzehn einfach gesetzten Chorälen des Werkes in seiner ursprünglichen Fassung kommt die Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden« fünfmal vor, eine Lieblingsmelodie Bachs, denn keine andre hat er während seines langen Lebens gleich häufig und mit [379] gründlicherer Erschöpfung aller harmonischen Möglichkeiten für die verschiedenartigsten Zwecke gesetzt. Dreimal tritt sie im zweiten Theile auf, zuerst als Jesus im Verhör des Pilatus sich seinem Schicksal schweigend unterwirft. Hier verbindet sie sich aber mit der ersten Strophe des Gerhardtschen Liedes »Befiehl du deine Wege« – eine der wenigen Stellen des unvergleichlichen Werkes, gegen die vielleicht ein Bedenken erhoben werden könnte. Es ist ein schöner Gedanke, an die fromme Ergebung Jesu die Gemeinde ihre Betrachtung anknüpfen zu lassen. Allein der milde und gemüthvolle Ton des Gerhardtschen Liedes, seine Ermahnung zur Geduld in menschlicher Trübsal will zu dem tiefen Ernst der Lage und dem Ungeheuren was der Gottessohn erleiden soll, nicht recht passen. Wahrscheinlich kam es Bach vor allem darauf an, die Melodie wieder zu bringen. In dem Gedichte »O Haupt voll Blut und Wunden« fand sich keine geeignete Strophe und er griff, nicht ganz glücklich, zu einem andern allbekannten Liede desselben Verfassers. Das zweite Mal erscheint die Melodie im zweiten Theile unmittelbar vor dem Beginn des Kreuzesganges, als die Kriegsknechte des Erlösers Haupt mit Dornen gekrönt, verunehrt und zerschlagen haben, und zwar mit den ersten beiden Strophen des an das Haupt Jesu gerichteten Liedes. Angemesseneres konnte hier gar nicht gefunden werden und so ist auch die Wirkung eine volle und herzergreifende. Zum dritten Male und zugleich als der letzte Choralgesang des Werkes überhaupt ertönt sie dann nach den Worten »Aber Jesus schriee abermal laut, und verschied« mit der neunten Strophe: »Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir«. Von jeher gilt dieser Moment mit Recht als einer der erschütterndsten des Werkes. Durch nichts konnte die unermeßliche Bedeutung des Opfertodes einfacher, umfassender und überzeugender ausgesprochen werden, als durch dieses wunderbare Gebet. Bach hat für dasselbe eine besonders tiefe Tonlage gewählt, und während er die Weise sonst als eine ionische auffaßte, was sie auch ursprünglich war, behandelt er sie hier, sicherlich mit vollem Bedacht, in der ernsten, verdämmernden phrygischen Tonart.101 Es [380] sind drei einschneidende Momente in der Handlung des zweiten Theils, welche durch den Eintritt und die Wiederkehr dieser Melodie markirt werden. Die Stellen des ersten Theils, an denen sie eingesetzt ist, befinden sich in der Scene am Ölberg. Jesus sagt: »In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir. Denn es stehet geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Heerde werden sich zerstreuen«. Anknüpfend an das Gleichniß vom Hirten heißt es nun mit der fünften Strophe: »Erkenne mich, mein Hüter, Mein Hirte nimm mich an«. Dann folgt die Vorhersagung von Petri Verleugnung und Petri sowie der übrigen Jünger Verwahrung dagegen. Hieran schließt sich sofort die sechste Strophe: »Ich will hier bei dir stehen, Verachte mich doch nicht, Von dir will ich nicht gehen, Wenn dir dein Herze bricht«. In der Johannes-Passion wird an die Erzählung, daß Petrus dem gefangenen Jesu in den Palast des Hohenpriesters nachfolgte, wo er ihn hernach schmählich verleugnen sollte, die Arie geknüpft: »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten, Ich lasse dich nicht, Mein Leben, mein Licht.« Was an dieser Combination nicht befriedigen kann, ist oben auseinander gesetzt. Aus der Vergleichung mit der analogen Partie der Matthäus- Passion scheint aber hervorzugehen, was Bach schon dort vorschwebte und aus Mangel an geeigneter Dichtung von ihm nur nicht durchgeführt werden konnte. Nicht die an den einzelnen Vorgang sich hängende, sondern die über dem Verlauf der ganzen Handlung schwebende Betrachtung soll ausgedrückt werden. Ganz klar wird die Absicht durch den ursprünglichen Schlußchoral des ersten Theils, der nach der Erzählung: »Da verließen ihn alle Jünger und flohen« mit den Zeilen anhebt: »Jesum laß ich nicht von mir, Geh ihm ewig an der Seiten«.102 Die christliche Gemeinde tritt mit Bewußtsein zu [381] den Jüngern in Gegensatz: diese werden abtrünnig, sie bleibt unentwegt bei Jesu stehen. Durch die gesammte Ölberg-Scene zieht sich so der versöhnende Gedanke, daß selbst dasjenige, was Jesus bitteres erfahren mußte von denen die ihn liebten und verehrten, seine Gemeinde nur um so inniger an ihn bindet. Nun erst wird auch verständlich, was es bedeuten soll, wenn der Choral beim zweiten Eintritt genau denselben Tonsatz aufweist, wie beim ersten, und nur um eine halbe Stufe tiefer (Es dur nach E dur) ertönt. Die Voraussicht der an den Jüngern sich offenbarenden menschlichen Schwäche stimmt die Gemeinde selbst zur Demuth. Aber auch demüthig bleibt sie fest.

Nächst dem Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« spielt die hervortretendste Rolle Johannes Heermanns Lied »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?« Es kommt dreimal vor, mit der ersten, dritten und vierten Strophe, daneben noch Gerhardts Gesang »O Welt, sieh hier dein Leben« zweimal, mit der fünften und dritten Strophe. Die übrigen drei Choräle sind ebenso wie der ursprüngliche Schlußchoral des ersten Theils keine Passionslieder, sondern allgemeineren Inhalts, aber sämmtlich mit Feinfühligkeit gewählt.103 Ans Ende des ersten Theils setzte Bach später den anfänglichen Einleitungschor der Johannes-Passion. Der Zweck der im ersten Theile vorkommenden beiden Strophen des Chorales »O Haupt voll Blut und Wunden« wird dadurch freilich etwas weniger augenscheinlich. Indessen mußten die gewaltigen Verhältnisse des ganzen Werkes einen nachdrücklicheren Schlußsatz fordern, und Bach überhaupt wohl daran gelegen sein, in einer Composition so erschöpfenden Charakters an einem der bekanntesten und monumentalsten Passionsgesänge nicht vorüberzugehen. Ein solcher aber war Sebaldus Heydens »O Mensch bewein dein Sünde groß«, er wurde vielerwärts sogar an Stelle der alten choralischen Passionen gesungen, wenn er gleich zu Bachs Zeit in den Leipziger Hauptkirchen am Charfreitage als Gemeindelied nicht im festen Gebrauch war. Das Tonstück, welches Bach über die erste Strophe desselben gesetzt hat, ist kein einfach [382] vierstimmiger Choral mehr, sondern eine Choralfantasie größter Ausdehnung und reichsten Inhalts. Das instrumentale Tonbild ist aus einem Motiv gewoben, welches der Vorstellung des »Weinens« sein Dasein zu verdanken scheint. Während es mehr die allgemeine Empfindungsphäre feststellt, beschäftigen sich Alt, Tenor und Bass der vereinigten Chöre mit der Ausführung der einzelnen Empfindungsnuancen; der Cantus firmus liegt im Sopran. Das gewaltige, mit intensivster Passionsstimmung gesättigte Stück als einen integrirenden Theil der Matthäuspassion zu betrachten, hat sich die Welt so sehr gewöhnt, und es paßt musikalisch auch so wohl zu dem Werke, rundet insbesondere den ersten Theil so herrlich ab, daß man es kaum gewahr wird, wie es doch in einer Beziehung seinen ursprünglichen Zweck nicht verleugnen kann. Der poetische Inhalt bezieht sich nämlich durchaus nur auf Dinge, welche der eigentlichen Passionsgeschichte vorhergehen. Die Strophe soll zu einer versificirten Darstellung derselben die Einleitung bilden, und insofern ist ihre Benutzung hier, wo wir uns schon im Verlaufe der Geschichte sehen, nicht am Platze. Der Widerspruch mußte in jener Zeit, wo jedermann Bestimmung und Inhalt des Heydenschen Liedes kannte, noch fühlbarer sein als jetzt. Bach hat den Chor auch nicht direct aus der Johannespassion herübergenommen, sondern ihn zuvor wahrscheinlich für seine fünfte, gänzlich verloren gegangene Passion benutzt. Erst gegen Ende seiner Laufbahn verlieh er seinem größten protestantisch-kirchlichen Werke durch denselben noch einen neuen Schmuck und umrahmte somit dessen ersten Theil durch zwei Choralchöre allergrößesten Stiles. Denn auch der Eingangschor ist auf seine musikalische Gestalt angesehen nichts anderes als eine Bearbeitung des Chorals »O Lamm Gottes unschuldig«. Freilich eine Bearbeitung, in welcher die Contrapunctirung durch zwei Chöre mit eignem Text und zwei Orchester ausgeführt wird, während ein einstimmiger dritter Chor den Cantus firmus singt. Wenn man gegen sie den über dieselbe Melodie gebauten 27 Takte langen Choral des Orgelbüchleins hält, so ist kein Wort der Bewunderung zu stark für die kolossale Kraft, der eine solche Formerweiterung möglich war, und die innerhalb des eignen Entwicklungslaufes vollbrachte, wozu es in andern Fällen – man denke an die Entwicklung der Sinfonie – der Arbeit von Generationen bedurfte. Dieser Chor wird noch [383] einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. Zunächst möge er uns von den Choral-Sätzen zu den madrigalischen hinüberführen, da er beide Elemente in sich vereinigt.

Die madrigalische Dichtung hat Picander der Tochter Zion und den Gläubigen in den Mund gelegt. Es mag hierin noch eine Anlehnung an Brockes zu erkennen sein. Durchgeführt indessen wie bei diesem und auch noch in Picanders eigner Passion von 1725 ist die Vorstellung nicht. Nur in sechs allerdings hervorragenden Abschnitten bleibt sie deutlich; sie würde hier für das Tonwerk einen bestimmt hervortretenden oratorienhaften Zug zur Folge gehabt haben, wenn Bach, wie Händel in der Brockes-Passion, die Worte der Tochter Zion, dieser allegorisch-biblischen Figur, immer auch einer Solostimme zuertheilt hätte. Aber er bildet aus ihnen nicht nur Gesänge für eine Stimme, sondern behandelt sie auch in Chor- und Duettform, und in den Einzelgesängen läßt er die Stimmen abwechseln; er verallgemeinert also das persönlich gedachte. Aus ein paar kleinen Änderungen, die er sonst noch im Texte vornahm, läßt sich erkennen, wie er überall geneigter war, aus der Mitte der Gemeinde heraus zu empfinden.104 Poetisch angesehen besteht auch keine Trennung oder Gegensatz zwischen den Gläubigen und der christlichen Kirche,105 denn die Gläubigen haben neben freier Poesie auch Kirchenlied (»O Lamm Gottes, unschuldig«, »Herzliebster Jesu«) zu singen; nur musikalisch ist ein solcher vorhanden. Über den Stil der madrigalischen Chöre ist oben schon eine allgemeine Bemerkung gemacht. Während in den dramatischen Chorstücken Knappheit und complicirte Setzkunst sich vereinigen, haben hier Breite und Einfachheit einen Bund geschlossen. Diese Chöre sollen geistliche Arien sein und werden im Texte auch so genannt. Sie strophisch zu gestalten war freilich in einem solchen Werke unmöglich und deshalb hat schon der Dichter hiervon ganz abgesehen; sie zeigen die italiänische Arienform auf. Den formellen Zusammenhang mit der älteren [384] geistlichen Arie hat Bach dennoch festzuhalten gewußt durch Anwendung des homophonen Tonsatzes und einfachste Periodisirung. So ist auch auf diesem Gebiete ein neuer Stil entstanden, der wiederum von Bachs unermeßlicher Begabung Zeugniß ablegt. Auf dem Gebiete der Kirchenmusik giebt es nichts, was mit diesen Chören verglichen werden könnte, welche die weiten Dimensionen der Bachschen Cantatenchöre haben, und zugleich eine fast liedhafte Schlichtheit und Verständlichkeit. Zum ersten Male begegnen wir einem solchen Chore als Jesus in Gethsemane betet. Ihm geht als Einleitung ein Tenor-Recitativ des ersten Chores vorauf, das Jesu Herzensangst tief mitempfindet und unterbrochen wird durch die vom zweiten Chor gesungenen Choralzeilen: »Was ist die Ursach aller solcher Plagen? Ach meine Sünden haben dich geschlagen! Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet, Was du erduldet.« Dann löst sich der herbe Schmerz in den frommen Vorsatz, allzeit an Jesu festhalten zu wollen, um dadurch von dem quälenden Sündenbewußtsein Ruhe zu finden. Auch hier concertirt ein Tenor mit den mild wiegenden, vom »Einschlafen der Sünden« hergenommenen Gängen des zweiten Chors. Entzückt lauscht man den strömenden, langathmigen Melodien der Oberstimme und wird es kaum gewahr, wie derselbe melodische Zauber auch allen übrigen Stimmen eigen ist. Sie könnten ebensowohl Oberstimmen sein, und durch mehrfache Versetzungen im doppelten Contrapunct werden sie es wirklich. Als Jesus gefangen genommen ist, tritt abermals ein großes madrigalisches Chorstück ein. Zwei Stimmen des ersten Chors beginnen zu klagen: »So ist mein Jesus nun gefangen«. Es trägt sie eine Unterstimme der vereinigten Geigen und Bratschen, welche durch Syncopen und alsdann langsam wandelnde Achtelgänge ihren Zusammenhang mit den Vorstellungen der Fesselung und Fortführung bekundet – eines der zahlreichen Beispiele für Bachs Manier, aus irgend einem hervortretenden Moment einer innerlich geschauten Handlung einen musikalischen Gedanken zu gewinnen, sich dann aber von der Einwirkung derselben frei zu machen und nur seinem lyrischen Zuge folgend weiter zu gestalten. In die tiefe Traurigkeit der vereinsamten beiden Stimmen tönen kurze, heftige Rufe des vollen zweiten Chors: »Laßt ihn, haltet, bindet nicht!« Dann brechen beide Chöre in einem Vivace los, und fordern in heiliger Empörung des Himmels Blitz und Donner [385] auf den Verräther und seine Mordgesellen herab. Wie in Sturm und Gewitter tobt es und braust; dennoch ist die Form eine ganz einfache, eine Arie, deren zweiter und dritter Theil in eins zusammen gedrängt sind; die Chorbehandlung abgesehen von dem fugirten Anfang durchaus homophon; die Chöre concertiren als compacte Massen gegeneinander und vereinigen sich am Schluß. Wer Bach nur aus seinen Cantaten kennt, würde es ihm nicht zutrauen, daß er mit solch einfachen Combinationen eine Wirkung hervorzubringen vermocht hätte, die zu den erschütterndsten gehört, welche es im Bereich der Tonkunst giebt. Und welch eine Rolle spielt das unwürdige Geschelte, das in andern Passionsmusiken an derselben Stelle eine Solostimme auszuführen hat, gegen dieses mit Flammenzügen entworfene Bild!106 Das dritte madrigalische Chorstück der Matthäus-Passion ist der Schlußgesang »am Grabe Christi«. Auch er hat seine Einleitung: kurze Recitative der einander ablösenden Solostimmen, dazwischen kurze Chorsätze, liebetief und jener Empfindung voll, die am Grabe nur gedämpfte Worte zu reden gestattet. Die innere Verwandtschaft des Schlußchors mit dem der Johannes-Passion springt in die Augen. Die Haltung ist aber noch bedeutend ruhiger und einfacher geworden, der Stilgegensatz gegen die dramatischen Chöre ein entschiedenerer, die Trauerempfindung frömmer und im Bewußtsein von Christi Erlösungsthat beruhigter – eine Mischung von Seligkeit und Schmerz, welche nur Bach zu Gebote stand und die am greifbarsten wohl heraustritt zu den Worten »höchst vergnügt schlummern da die Augen ein«.107 Ungeachtet man von diesem Chor den Eindruck einer Breite empfängt, welche zu dem ganzen Werke im richtigen Verhältniß steht, ist er doch bedeutend kürzer als der entsprechende der Johannes-Passion. Die Unersättlichkeit der Klage läßt dort noch einen Rest von Unbefriedigtheit zurück, welcher erst durch den nachfolgenden Choral gehoben wird. In der Matthäus-Passion bedarf es dessen nicht: in den feststehenden Gränzen [386] der Arienform schwingt das Gefühl langsam aber voll befriedigend aus. Die Passion nicht mit einem Choral sondern mit einer Arie zu schließen, war dem Herkommen gänzlich entgegen, und man wolle diesen Umstand nicht unterschätzen. Er trägt ein bedeutendes dazu bei, der Matthäus-Passion jenen menschlich – milden Gesammtcharakter zu sichern, durch den sie sich von der Johannes-Passion unterscheidet. Wenn mir die Form-Einfachheit aller dieser madrigalischen Chöre nicht nur durch das allgemeine Bedürfniß nach musikalischem Contrast bedingt erscheint, sondern ich darin ein Zeichen sehe, daß Bach sie als erweiterte geistliche Arien aufgefaßt wissen und wirken lassen wollte, so liefert für diese Ansicht einen neuen, schlagenden Beweis die Einleitung des zweiten Theils der Matthäus-Passion. Der Solo-Alt des ersten Chors und der gesammte zweite Chor concertiren; nur jener singt madrigalischen Text, dieser Bibelworte.108 Sofort macht sich ein andrer Chorstil bemerkbar: motettenartig fugirte, schön abgerundete Sätze stellen sich mit tröstender Theilnahme dem Gesang der Tochter Zion entgegen, deren Melodien wie heiße Thränentropfen abwärts sinken, ganz verschiedenen Ausdrucks von der tiefen, thränenleeren Trauer, mit welcher sie im ersten Theile dem gebunden fortgeführten Jesu nachblickt.

Unter der bedeutenden Anzahl von Solo-Arien, welche die Matthäus-Passion enthält, nimmt noch eine die Mitwirkung des Chors in Anspruch. In dem am Kreuze ausgespannt hängenden Jesus sieht die Tochter Zion das Bild der Liebe, welche die Arme ausbreitet, um die Erlösungsbedürftigen erbarmend zu umfassen. Sie fordert »die verlassenen Küchlein«109 auf, sich zu ihm zu retten; kurze fragende Rufe der Gläubigen unterbrechen sie. Es ist ein ähnliches Tonbild wie in der Johannes-Passion die Bassarie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen«. Brockes hatte diese Art aufgebracht und viele Nachahmer gefunden, unter ihnen Rambach110 und in der Matthäus-Passion [387] mehrfach auch Picander. Doch haben im Eingangschore und nach Jesu Gefangennahme die kurzen Chorrufe endlich eine zusammenhängende Betheiligung des Chors an der Entwicklung und Vollendung des Tonstückes zur Folge. Hier wirkt der Chor nicht sowohl als musikalisches sondern nur als dramatisches Organ, und die Beziehung der Passionsform zu der Oper tritt an diesem Beispiele am deutlichsten hervor. Wären nicht von Anfang her in der Passion und der ihr eignen Behandlung des Bibelwortes dramatische Elemente vorhanden gewesen, so müßte man das hier von Bach gewählte Verfahren als befremdlich und stillos bezeichnen. So aber hat er, was beim Bibelwort längst bestand, nur auf die madrigalischen Partien ausgedehnt. Der Eindruck ist, wenn man ihn nur auf sein musikalisches Wesen prüft – und dieses ist bei einer Kunstform, die ohne Action wirken soll, doch unerläßlich – ein sehnsüchtig drängender, ganz wie derjenige der Bassarie aus der Johannes-Passion. Das ganze Tonbild nebst dem einleitenden Recitativ »Ach Golgatha!« wird durch eine halb schwebende, halb wiegende Bewegung beherrscht, die zum Theil durch das Bild des am Kreuze hängenden Heilandes, zum Theil auch wohl durch die Vorstellung mütterlicher Hut und Besänftigung bedingt erscheint. Die Stufenleiter der Empfindungen, welche Bach in den Sologesängen der Matthäus-Passion durchläuft, imponirt um so mehr, als Affecte der Freude mit ihren verschiedenartigen Nuancen ganz ausgeschlossen sind, und sie alle von der Grundempfindung der Trauer getragen werden. Innigste Theilnahme an dem bis zum höchsten Grade sich steigernden Leiden des Gottmenschen, kindlich vertrauensvolle, männlich ernste und liebessehnsüchtige Hingabe an den Erlöser, Reue über die eignen Sünden, die sein Leiden zu sühnen hat, und inbrünstiges Flehen um Erbarmung, die gefaßtere Betrachtung des in Jesu Leiden gegebenen Vorbildes und das feierliche über seiner Leiche abgelegte Gelöbniß ihn nimmer aus dem Herzen zu lassen – das sind die Objecte, welche Bach zu behandeln hatte. Mit dem unerschöpflichen [388] Reichthume, der ihm gerade zur Darstellung trüber Affecte zu Gebote stand, hat er die schwierige Aufgabe wie spielend gelöst. In keinem andern der Werke Bachs, es müßte denn das Weihnachts-Oratorium sein, ist eine solche Menge schöner und mannigfaltiger Sologesänge zusammengespeichert. Faßlichere, überzeugendere Melodien, als sie in den Arien der Matthäuspassion sich finden, hat Bach nie geschrieben. Fließt einmal der Strom der Melodie etwas weniger voll, wie in der Tenor-Arie »Geduld!«, so gab der betrachtende Charakter des Textes hierzu Veranlassung. Eine kritische Bemerkung fordert nur die Bass-Arie »Gebt mir meinen Jesum wieder« heraus. Sie tritt ein, nachdem Judas den Verrätherlohn an die Hohenpriester zurückgebracht und bezeugt hat, das Jesus unschuldig sei. Der Text drückt die Bitte aus, Jesum frei zu geben, da selbst ein Judas seine Schuldlosigkeit anerkennen müsse. Sämmtliche übrigen Madrigaltexte enthalten Empfindungen und Betrachtungen, welche zwar auch an gewisse Momente der Leidensgeschichte anknüpfen, aber doch immergültige christliche Wahrheiten zum Inhalt haben. Aus dieser Arie allein redet nicht ein Glied der christlichen Gemeinde, welcher Christus durch seine Gefangennahme und Tödtung nicht geraubt, sondern vielmehr erst wahrhaft zu eigen gemacht worden ist. Es ist die Äußerung einer Person, welche der Handlung zur Zeit ihres Geschehens nahe stand, eines Jüngers etwa oder sonstigen Anhängers Jesu. Der Einfluß des dramatisirten Oratoriums tritt hier in einer nicht ganz unbedenklichen Weise hervor. Der Hörer wird gezwungen, den Standpunkt zu wechseln: in den übrigen Arien findet er die eigne christliche, auf die Gesammtbedeutung des Erlösungswerkes gegründete, hier dagegen eine fremde, an den einzelnen Fall anknüpfende, beschränkte Empfindung.

Sämmtliche madrigalische Recitative haben obligate Begleitung, wobei wie schon bemerkt wurde den Blas-Instrumenten vor den Saiten-Instrumenten der Vorzug gegeben worden ist, um sie von den biblischen Recitativen Christi bemerklichst abzutönen. Alle malerischen Züge und geistvollen Wendungen, an denen sie reich sind, vorzulegen kann hier nicht der Ort sein; wenn es die Sache zu fordern schien, ist Bach auch vor den kühnsten Mitteln nicht zurückgeschreckt, wie die frappante enharmonische Modulation am Schlusse des Recitativs »Erbarm es Gott« beweist. Eine genauere Beleuchtung [389] verlangt indessen das nach dem Franckschen Vorbilde gedichtete Recitativ »Am Abend da es kühle war«. Bekanntlich ist es ein Zug germanischen Wesens, in der außermenschlichen Natur eine Theilnehmerin an der Menschen Lust und Leid zu erkennen, und deren Erscheinungen mit der menschlichen Seele zu durchdringen. Die antiken Völker und die von ihnen innerlich am meisten abhängigen Romanen kannten diesen Zug nicht, ihre Beziehungen zur Natur wurden allein durch die Annehmlichkeiten oder Beschwerden bedingt, welche sie ihnen bereitete. In der deutschen Dichtung tritt der Zug hervor oder zurück, je nachdem dieselbe überwiegend auf eigenthümlicher oder auf fremder Grundlage sich bewegt. Während die mittelalterlichen Dichtungen, namentlich der Minnesänger von jener natursymbolischen Empfindung erfüllt sind, während sie im Volksgesange sich fortdauernd erhält, schwindet sie in der Kunstdichtung des 17. Jahrhunderts mehr und mehr, um erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zwar eben aus dem Boden des Volkliedes mit Macht wieder emporzuschießen. Ein ähnlicher Wandel läßt sich in der Tonkunst beobachten. So lange italiänische Anschauungen in der europäischen Musik die herrschenden waren, findet sich kaum ein Versuch romantische Naturstimmungen musikalisch auszudrücken. Ansätze dazu finden sich bei Gluck (in Orpheus und Armida), dann bei dem an deutsches Wesen sich anlehnenden Cherubini (in der Oper Elisa), voll zur Erscheinung bringen diesen Zug in der begleiteten Gesangsmusik erst Weber und Schubert, wogegen selbst in Haydns Oratorien die antike Naturanschauung noch deutlich fühlbar ist. Um so mehr verdient es Beachtung, daß hier und da schon bei Bach romantische Naturstimmungen unverkennbar zu Tage kommen, ja daß solches selbst von seinen Vorfahren behauptet werden mußte.111 Ein Beispiel solcher Tonbilder, in denen sich Bachs grunddeutsche Natur verräth, bietet das genannte Recitativ. Wie zarte Dämmerungsschleier schweben und ziehen die dunklen Violinen, keine Generalbassaccorde verdichten das traumhafte Gespinnst, nur die langgezogenen Töne des Orgel- und Streichbasses gewähren ihm Halt. Was aus diesen Tonreihen uns anhaucht ist nicht zunächst die religiöse Empfindung des Friedens und der Erlösung, [390] mit welcher der Text sich beschäftigt. Es ist Abendstimmung; jene Empfindung kommt erst durch Vermittlung derselben musikalisch zur Geltung, in das Naturbild wird hineingefühlt, was an dieser Stelle die christlichen Herzen bewegt. Eine in manchem Betracht ähnliche Erscheinung bietet der Anfangschor der Cantate »Bleib bei uns, denn es will Abend werden«112, in welchem die tiefdunklen Töne der vereinigten Geigen und Bratschen oder abwechselnd der drei Oboen, welche sich durch viele Takte hindurch erst nur schwach bewegen und dann gehalten verklingen, wie langgestreckte Abendschatten anmuthen. Nur ist es hier weniger die friedevolle Stimmung abendlicher Ruhe, als jenes unheimliche Bangen, welches das allmählige Schwinden des Tageslichtes begleitet. Auf andere Beispiele dieser Art ist schon gelegentlich hingedeutet worden. Eine Cantate zum fünften Trinitatis-Sonntage beginnt mit den Bibelversen »Siehe, ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr, die sollen sie fischen. Und darnach will ich viel Jäger aussenden, die sollen sie fahen auf allen Bergen«. Bach hat diese Worte nicht, wie er sonst zu thun pflegt, für ein einfach würdiges Arioso benutzt. Er hat sie zu einem großen zweitheiligen Tonbilde ausgesponnen, in welchem wir auf die schaukelnde Fläche des Sees und in den hörnerdurchschallten Wald hinaus geführt werden. Die Naturvorstellungen gewähren ihm nicht nur gewisse musikalische Motive, sie bilden vielmehr die farbige romantische Grundstimmung der auszudrückenden Empfindung.113 In der Tenorarie der Pfingstcantate »Erschallet ihr Lieder«114, der Sopranarie der Pfingstcantate »Also hat Gott die Welt geliebt« (übertragen aus der weltlichen Cantate »Was mir behagt«)115 weht etwas wie Maienluft. Auch die Oster-Cantate »Der Himmel lacht« enthält einige Stellen, in denen man den Frühlingshauch zu merken glaubt.116 Eine gewitterdrohende Stimmung athmet in der Cantate »Schauet doch und sehet« die Bass-Arie »Dein Wetter zog sich auf von weitem«.117 Selbst in manchen Instrumentalstücken fühlt sich eine romantische Stimmung dieser Art hindurch; ganz deutlich wird sie in der Hirten-Sinfonie des Weihnachts-Oratoriums. [391] Da sie ihrem Wesen nach etwas pantheistisches hat, so begreift es sich, warum ihr in Werken, die auf dem Grunde der altlutherischen Lehre beruhen, doch nur ein ganz beschränkter Raum gegönnt sein kann. Die Fälle sind aber zahlreich genug, daß sie nicht übersehen werden können. Sie constatiren wieder einmal eine tiefgehende Verschiedenheit der Welt- und Kunstanschauungen zwischen Bach und Händel. Ein Gedicht wie Allegro e Pensieroso, das in seinen schönsten Theilen das harmonische Zusammenstimmen von Natur und Mensch zum Gegenstande nimmt, hätte auch auf musikalischem Gebiete eine romantische Auffassung unbedingt hervorrufen müssen, wenn anders eine solche überhaupt in dem Ideenkreise Händels gelegen hätte. Aber Händel fußte zu fest auf italiänischer Kunst, als daß dieses möglich gewesen wäre. Er gewinnt aus den Naturbildern eine Menge musikalischer Motive, aber sie zu einem geheimnißvollen Widerspiel des menschlichen Wesens zu beleben, steht ihm fern. Seine schöne Musik entwickelt sich in classisch klaren Linien, mit überlegnem ruhigem Blick als Herr, nicht als Theil der Schöpfung steht der Künstler der Natur gegenüber; von jener mystischen Versenkung in die Seele des Alls, welche der Naturromantik wesentlich ist, findet sich keine Spur. Dergleichen Stimmungen musikalisch auszudrücken bedarf es gewundenerer Linien, als sie Händel liebte, vor allem aber eines größeren Farbenreichthums. Bei Händel herrscht überall ein blühender, gesättigter aber nicht sehr wechselreicher Wohlklang. Bach ist mehr als Händel Colorist, und die Wirkung seiner Stücke in höherem Grade auch von der ihnen gegebenen Farbe abhängig.

Diese Betrachtung führt zu jenem großen madrigalischen Tonbilde des ersten Theils zurück, welches sich an die Gefangennahme Jesu anschließt. Es heißt dort:


So ist mein Jesus nun gefangen.

Mond und Licht,

Ist vor Schmerzen untergangen.


Da das Ereigniß am Tage des Passah-Festes stattfand, so schien der Vollmond als Jesus zur Nacht am Ölberg betete. Die Gefangennahme haben wir uns gegen Ende der Nacht zu denken, da der Mond bereits niedergegangen war. Indem Picander hierauf Bezug nahm, hat er einen volksthümlichen Zug seiner Dichtung eingewoben. In [392] dem zufälligen Zusammentreffen des Naturereignisses mit den bedeutungsschweren Begebenheiten in Gethsemane erkannte das germanische Gemüth einen tieferen Zusammenhang: die Natur trauert um Jesu Leiden. Das Motiv oder ein ähnliches erfuhr in der deutschen Dichtung mehrfache Ausführung. Bekannt ist das schöne Volkslied:


Christus, der Herr im Garten ging,

Sein bittres Leiden bald anfing,

Da trauert Laub und grünes Gras,

Weil Judas seiner bald vergaß.118


Friedrich Spee (1592–1635) läßt in einem »Trauergesang von der Noth Christi am Ölberg in dem Garten« den Heiland selber sprechen:


Der schöne Mond will untergehn,

Für Leid nicht mehr mag scheinen,

Die Sterne lan ihr Glitzen stahn,

Mit mir sie wollen weinen.


Kein Vogelsang noch Freudenklang

Man höret in den Lüften,

Die wilden Thier traurn auch mit mir

In Steinen und in Klüften.119


Ob der traurige einsame Ton des Bachschen Stückes durch diese Vorstellung mit bedingt worden ist, möchte ich nicht geradezu behaupten. Eher könnte man schon in der poetischen Benutzung des volkstümlichen Motivs Bachs Einfluß vermuthen. Unverkennbar spiegelt auch der Eingangschor der Matthäus-Passion einen volksthümlichen Brauch zurück. Der Text, in dem es sich um den Gang zur Kreuzigung handelt, auf welchem Jesus unter dem Klagen und Weinen der Töchter Jerusalems (Evang. Luc. 23, 27) sein Kreuz selber trug, erscheint für eine Einleitung in die volle Passionsdarstellung nicht eben geeignet. Er hebt ein einziges Moment der reich bewegten Handlung, und nicht einmal das wichtigste: die Kreuztragung, heraus, dann werden uns durch anderthalb lange Theile [393] hindurch Ereignisse vorgeführt, welche dem Kreuzesgange voraus liegen. Gewöhnlich wurden die Passionsmusiken mit einem Choral eröffnet, oder auch wohl mit einer versificirten Aufforderung, das Leiden Christi zu betrachten. Ein Text obigen Inhalts aber müßte befremdlich erscheinen, wenn er sich nicht durch den alten Brauch der Charfreitags-Processionen erklärte. Die Passionsspiele wurden in vielen Gegenden Deutschlands in der Weise aufgeführt, daß nur ein vorbereitender Theil in der Kirche stattfand, der eigentliche Kern derselben aber in einem Aufzuge enthalten war, welcher nach einem erhöhten Platze außerhalb der Kirche, dem sogenannten Calvarien-oder Kreuzberge, veranstaltet wurde. Diese Procession war im Ganzen dem Muster der biblischen Erzählung vom Kreuzesgange nachgebildet: die verschiedenen biblischen Personen, durch Kleidung oder Embleme kenntlich gemacht (unter ihnen der Darsteller Christi mit dem Kreuz), zogen in festgesetzter Reihenfolge einher, klagende Gesänge ertönten. An bestimmten Stellen wurde angehalten und es spielten sich dann die einzelnen dramatischen Scenen ab. Hierbei wurde indessen auch auf Ereignisse Rücksicht genommen, welche sich vor dem Kreuzesgang zugetragen hatten, so daß das Ganze als eine concentrirte Darstellung der Leidensgeschichte gelten konnte, welche mit der auf dem Calvarienberge vorgenommenen Kreuzigung, beziehungsweise mit der Grablegung ihren Abschluß fand. Reste dieser Processionen haben sich in Schlesien bis in den Anfang unseres Jahrhunderts, am Niederrhein bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erhalten.120 In wieweit die Erinnerung an die Charfreitagsaufzüge noch in Thüringen und Sachsen fortlebte, darüber fehlen sonst die Nachrichten. Aber es ist klar, daß der Text zum Einleitungschore der Matthäuspassion nur aus einer Anschauung hervorgehen konnte, welche alles wesentliche der Passionsgeschichte in den Kreuzesgang und seinen weiteren Verlauf verlegte. Was Bach musikalisch gestaltete, ist ein großartiges Bild einer sich unter Klagegesängen fortbewegenden, wogenden Menge. Aber er hat zugleich auch an der Sitte festgehalten, die Passionsmusik mit einem Choral [394] zu eröffnen. Ein dritter einstimmiger Chor fügt in das verschlungene Stimmengewebe der beiden andern Chöre und des doppelten Orchesters den Choral »O Lamm Gottes, unschuldig«. Bei der Vorliebe, welche man in Leipzig für das Zusammenwirken mehrer an verschiedenen Stellen der Kirche aufgestellter Chöre hatte, ist es äußerst wahrscheinlich, daß der Choral von dem kleinen der Hauptorgel gegenüber gelegenen höheren Chore her gesungen wurde.121 Man muß es auch Picander nachrühmen, daß er die einzelnen Abschnitte des madrigalischen Textes sehr geschickt zu der jedesmaligen Choralzeile in Beziehung gesetzt hat. So erschien denn der Choral äußerlich und innerlich als die das Ganze dominirende Macht, und hiermit war das gewaltige Tonbild in die Gränzen des protestantischen Kirchenstiles verständlichst eingeschlossen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Picander, wie er sich für andre Theile seiner Dichtung Franck und Brockes zum Muster nahm, in diesen Partien gewisse Volksgesänge gradezu nachahmte. Wenn man von der respondirenden Form absieht so hat der Text des Eingangschors ganz die Art der die Charfreitags-Processionen begleitenden Gesänge.122 Er enthält außer dem noch einen Ausdruck, welcher seine urvolksthümliche Quelle deutlich verräth. Es war nach altdeutscher Sitte Pflicht der Verwandten bei dem üblichen Klagegeschrei über einen Todten zu »helfen«. Der Ausdruck ist im Bereich der Passionsdichtungen besonders in den sogenannten Marienklagen häufig.123 Picander läßt die Tochter Zion singen: »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«. Daß ihm hierbei irgend eine Marienklage vorschwebte halte ich um so mehr für sicher, als eine solche auch den Text der Arie »Blute nur, du liebes Herz« dem Dichter[395] vielleicht kaum bewußt aber doch unzweifelhaft beeinflußt hat. Picander ist in seinen Versen immer klar und durchsichtig, nur wo er nachbildet oder umdichtet, wird er nicht selten verworren. In dem Texte


Blute nur, du liebes Herz!

Ach ein Kind, das du erzogen,

Das aus deiner Brust gesogen,

Droht den Pfleger zu ermorden,

Denn es ist zur Schlange worden


herrscht nun wirklich eine arge Verworrenheit. Weiß man doch sogleich nicht, ob von dem Herzen des gläubigen Christen, oder der Tochter Zion, oder Jesu die Rede ist. Den letzten Zeilen und dem ganzen Zusammenhange nach kann Picander nur das Herz Jesu gemeint haben, obgleich die Ausdrücke der zweiten und dritten Zeile zu dieser Annahme durchaus nicht passen. Die Phraseologie ist eben größtentheils diejenige einer Marienklage und in diesem Sinne von Picander selbst in dem Soliloquium verwendet, das er in der Passion von 1725 die Maria singen läßt. Die Frage läßt sich schwer beantworten, was wohl Bach mit seinem scharf durchdringenden Verstande bei dieser ganz unverständigen Reimerei sich gedacht haben mag, aus der er trotzdem eine seiner schönsten Arien entwickelte.

Noch eine Stelle von naiver Volkstümlichkeit findet sich in der Matthäuspassion, die indessen ausschließlich auf die Rechnung des Componisten kommt. Nachdem Petrus den Herrn verleugnet hat, erzählt der Evangelist: »Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen«, und bringt zu dem entsprechenden Worte eine Tonfigur, welche das Krähen des Hahns nachahmen soll. Auch in der Ölbergscene, auf welche obige Worte zurückweisen, findet sich ein ähnlicher malender Gang, und an der analogen Stelle der Johannes-Passion124 steht in den Bässen eine Sechzehntelfigur, die unerklärlich ist, wenn man sie nicht auf das Krähen des Hahns deuten will. Die Absicht ist demnach unverkennbar. Denen, die in einer solchen Deutung eine Entwürdigung des Bachschen Genius sehen,125 könnte man zunächst zu bedenken geben, daß auch Schütz in seiner Matthäus-, Lucas- und Johannes-Passion und ebenso Sebastiani eine [396] ähnliche wenngleich bescheidenere Malerei angebracht haben. Man könnte sie ferner fragen ob es weniger äußerlich sei, wenn Bach das Wort »Hochpflaster« ja selbst das Wort »Hohepriester« durch hochgelegte Töne »malt«, und endlich auf das Wesen der Bachschen Recitative, wie wir es oben zu fassen gesucht haben, im allgemeinen hinweisen. Bei alledem müßte man doch zugeben, daß in der Nachahmung eines Thierlautes etwas besonders befremdliches liegt, das durch den Contrast, in dem es zu dem tiefen Ernst des ganzen Werkes steht, ins Komische überzuschlagen droht. Aber die Anknüpfung an volksthümliche Kunstgewohnheiten giebt dem Verfahren einen tieferen Sinn und bei richtiger Erfassung der Grundlagen, auf welche Bach sein Werk stellte, endlich auch eine gewisse Berechtigung. Das Krähen des Hahnes bildete in den geistlichen Schauspielen ein wegen seiner platten Natürlichkeit in den Kreisen des Volkes jedenfalls besonders beliebtes Moment.126 Kein Wunder, daß man es auch in den Passionsmusiken ungern vermißte. Scheibe, um zu gewissen »altfränkischen« Ausdrucksarten ein Beispiel zu geben, theilt die Erzählung eines Musikers aus Schlesien mit: »derselbe führte einst eine Passionsmusik auf, und um das Krähen des Hahnes recht sinnreich und natürlich auszudrücken, hatte er einen seiner Musikanten hinter der Orgel versteckt, der zu gehöriger Zeit auf dem bloßen Rohre der Hoboe das Krähen des Hahnes mit solcher Natürlichkeit vorstellte, daß alle Zuhörer in die größte Verwunderung gesetzt wurden und seinem glücklichen Einfalle das gebührende Lob ertheilten.«127 In Sachsen existirten bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts als Überreste der Passionsspiele gewisse Aufführungen der Leidensgeschichte, welche von wandernden Singchören gemacht wurden, und bei denen namentlich das dreimalige Krähen des Hahns, von einem der Sänger durch die Fistel nachgeahmt, ein mit besonderer Spannung erwartetes und mit großem Jubel aufgenommenes Moment bildete.128

Bachs Matthäuspassion ist auch als Ganzes ein im seltenen Grade [397] volksthümliches Werk. Nicht nur in der starken Accentuirung des Chorals, nicht nur in der Anknüpfung an gewisse volksthümliche Anschauungen oder in der treuen Wahrung liebgewordener kirchlicher Gebräuche liegt diese Eigenschaft begründet. Sie beruht auf dem gesammten Charakter der Musik, die bei all ihrer Tiefe, Weite und Fülle und trotz aller an sie gewendeten Kunst dennoch nirgends die Eingänglichkeit und Einfachheit als ihren Grundzug verleugnet, die zugleich mit bewundernswerther Sicherheit diejenige Hauptempfindung trifft und festhält, welche die ganze Geschichte von Christi Leiden und Sterben durchdringt: die versöhnende Liebe. Mögen auch heftige und erschütternde Affecte in der Matthäuspassion nicht fehlen, sie dienen nur dazu, den milden Grundton hernach desto voller und eindringlicher wieder hervortreten zu lassen. Der Gegensatz, welchen sie namentlich in dieser Beziehung zu der düstern Johannespassion bildet, ist ein scharfer. Daß sie dieselbe auch in vielen andern Dingen überragt, daß in ihr auf meisterliche Art alle den Ansprüchen der verschiedenartigsten Bestandtheile dieser denkbarst verwickelten Kunstform Genüge geschieht, dieses zusammenfassend noch einmal vorzuführen, dürfte unnöthig sein. Begünstigt durch ein glückliches Zusammentreffen der Umstände hat Bach in der Matthäuspassion ein überragendes Meisterwerk geschaffen, wie es im Laufe der Jahrhunderte nur selten den Menschen zu erleben gegönnt ist, ein Denkmal zugleich des deutschen Wesens, das nur mit diesem selber untergehen kann.

Die erste Aufführung der Matthäus-Passion fand Charfreitags den 15. April 1729 im Nachmittags-Gottesdienste statt. Daß die Zuhörer das Werk sofort in seiner ganzen Bedeutung hätten erfassen sollen, wäre eine unbillige Zumuthung gewesen. Indessen scheint die Aufnahme auch hinter Bachs berechtigten Erwartungen zurückgeblieben zu sein, da der Rath der Stadt sich unmittelbar darauf nicht einmal bewogen fühlte, dem Componisten einige bescheidene musikalische Wünsche zu erfüllen (s. S. 68). Erst mit der Zeit fand die Matthäus-Passion die ihr gebührende Bewunderung, und wenn sie sich auch nicht grade weit verbreitet haben mag – was die Schwierigkeit ihrer Ausführung und die unzulänglichen Mittel der meisten damaligen Kirchenchöre verhindert haben werden – so faßte sie doch im Leipziger Musikleben festen Boden und ist bis [398] gegen Ende des Jahrhunderts von den Thomascantoren aufgeführt worden.129 Der Vesper-Gottesdienst begann 11/4 Uhr und dauerte unter normalen Verhältnissen bis um 3 Uhr, da 31/4 Uhr schon wieder der Universitäts-Gottesdienst seinen Anfang nahm. Mit der Matthäus-Passion aber mußte sich die Charfreitags-Vesper auf mehr als 4 Stunden ausdehnen, da das Tonwerk allein schon gegen drittehalb Stunden beanspruchte. Durch diese abnorme Ausdehnung wurde das Verhältniß, in welchem sich die Passionsmusik zum Gottesdienste eigentlich befinden sollte, umgekehrt. Während die ursprüngliche und im Wesen der Sache begründete Idee auf einen Gottesdienst mit ausschmückender Musik abzielte, kam hier ein Kirchenconcert mit gottesdienstlichem Apparat zu Tage. Wirklich steht die Matthäuspassion hart an der Gränze wo die Kirchenmusik aufhört und die Concertmusik beginnt. Sie thut dies nicht vermöge ihres musikalisches Stiles, der durchaus noch ein kirchlicher ist, sondern durch die in ihr sich offenbarende Selbstgenügsamkeit der Kunst, die ihr Object durch eigne Mittel möglichst erschöpft und abrundet, und zur Erreichung der gewollten Wirkung der Kirche nunmehr fast nur als stimmunggebenden Hintergrundes noch bedarf. Daß die verwälschten Passionsoratorien der Zeitgenossen lieber in Musiksälen als in der Kirche gehört wurden, kann nicht wunder nehmen. Aber selbst Bachs Werk stand aus dem genannten Grunde der außerkirchlichen Musik wenigstens so nahe, daß der Versuch, sie gelegentlich auch im Locale des Musikvereins oder sogar in Bachs geräumiger Wohnung aufzuführen wohl einmal gemacht sein dürfte.130 Es bildet dieses Verhältniß einen neuen Beleg für den Erfahrungsatz, daß Kunstwerke, in welchen die Idee einer Kunstgattung in ihrer höchsten Vollendung erscheint, immer zugleich schon den Keim in sich tragen, der die Zerstörung der Gattung herbeiführen soll. Beiläufig wolle man sich erinnern daß, abgesehen von den in der Neuen Kirche längst bestehenden Passionsaufführungen131, seit 1728 Görner [399] auch in der Vesper der Universitätskirche eine Charfreitagsmusik eingerichtet hatte. Es ergiebt sich, daß dieselbe bei der Länge der Matthäuspassion mit dieser nothwendig zusammenfallen mußte, sowie daß seit 1730, da Görner Organist der Thomaskirche wurde, derselbe bei allen hernach dort stattfindenden großen Passions-Aufführungen nicht für das Orgelaccompagnement benutzt werden konnte. In die Thomaskirche aber verlegte Bach der geeigneteren Räumlichkeiten wegen so viel wie möglich die Aufführung seiner eignen großen Werke. So trat er 1731 mit der Marcus-Passion hervor, dann wahrscheinlich 1734 mit der aufgefrischten Lucas-Passion, und vermuthlich 1736 mit einer dritten Aufführung der Johannespassion.132 In der veränderten und zugleich erweiterten Gestalt, in welcher wir die Matthäuspassion besitzen, kann sie frühestens im Jahre 1740 zu Gehör gebracht worden sein.133

Fußnoten

1 Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes. 1526. S. 243 im 22. Band von Luthers sämmtlichen Werken. Erlangen, Heyder. 1833.


2 O. Kade, Der neuaufgefundene Luther-Codex vom Jahre 1530. Dresden, Klemm. 1871. S. 126 und 127.


3 S.R. Eitner in den Monatsheften für Musikgeschichte 1872. S. 59 ff. der Beilage.


4 In einer Handschrift auf der Hofbibliothek in Wien, welche aus Meißen dorthin gekommen ist. S. Ambros, Geschichte der Musik, Bd. III, S. 416 f.


5 Gleichfalls nach Matthäus, componirt von Clemens Stephani, gedruckt zu Nürnberg. S. Chrysander, Händel, Band I, S. 427.


6 In den Gesangbüchern von Keuchenthal und Selneccer; s. Winterfeld Ev. K. Band I, S. 311 f.


7 Die Originaldrucke der Passionen von Vulpius und Schultz sind in meinem Besitz. Die Passionen des Mancinus erschienen in der Mvsica Divina (Wolffenbüttel, 1620) und finden sich wieder abgedruckt bei Schöberlein, Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesangs. Zweiter Theil, S. 362 ff.


8 Sie befinden sich in einer von Johann Zacharias Grundig vermuthlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts gefertigten Abschrift auf der Stadtbibliothek zu Leipzig. Die auf dem Titel der Matthäuspassion stehende Jahreszahl 1666 bezieht sich jedenfalls nur auf dieses eine Werk. Denn die noch im Autograph vorhandene Johannespassion trägt das Datum 10. April 1665; s. Chrysander, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft. Erster Band. S. 172.


9 Das Autograph der Kramerschen Passion besitzt Herr Stadtcantor Stade zu Arnstadt. – Der genannte Passionstext nach Matthäus steht im arnstädtischen Gesang-Buch. 1745. S. 679 ff.


10 Die Walthersche Passion habe ich nicht selbst gesehen. In ihr soll auch die Person des Hohenpriesters im Discant singen (s. Eitner a.a.O. S. 61); mir scheint hier ein Versehen vorzuliegen.


11 Auf der königlichen und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg. Sie ist fünfstimmig, dem Königsberger Exemplar fehlt jedoch die Altstimme.


12 Walther, Lexicon S. 119, führt eine deutsche Passion Burcks an, die 1550 zu Erfurt gedruckt sei. Da Burck 1540 oder 1541 geboren ist, kann diese Angabe nicht richtig sein. Schreibt man statt 1550 aber 1590, so paßt das Jahr auf die von Machold erwähnte Musik. Eine Passion Burcks soll sich auf der Rathsbibliothek zu Löbau befinden; ich habe mich vergeblich bemüht, sie von dort zu erlangen.


13 Befindlich auf der Kirchenbibliothek zu Pirna. Leider fehlt die Bass-Stimme.


14 Secundus tomus Musici operis Authore Jacobo Händl. Pragae, Anno MDLXXXVII. Ein Exemplar auf der Universitäts-Bibliothek zu Königsberg. Vrgl. Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Zweiter Theil, S. 204 f.


15 Herausgegeben von Franz Commer, Musica sacra Band VI, S. 88 ff. Berlin, Trautwein.


16 In Stimmen auf der Bibliothek zu Cassel.


17 S. Band I, S. 464.


18 Textbuch derselben auf der Bibliothek des Gymnasium Johanneum zu Lüneburg.


19 Text auf der fürstlichen Bibliothek zu Sondershausen. Auf dem Titel heißt es »Wie solche die H. Marter Woche durch von Tag zu Tage pflegt musicirt zu werden.


20 Ein Exemplar dieses seit Winterfelds Forschungen wieder viel genannten Werkes bewahrt die königl. Bibliothek zu Königsberg.


21 »Auserlesene | Passions- | Gesänge, | wie auch | Die Historie vom blutigen Leiden und Sterben | unsers Heylandes Christi | JEsu, | und wie solche von dem Chor, | nach dem MATTHÆO, MARCO, LUCA und JOHANNE, | abgesungen wird.« Merseburg, 1709. Auf der gräflichen Bibliothek zur Wernigerode.


22 Ebenso wie in der Leipziger Matthäuspassion bei Vopelius.


23 Gerber, Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen. S. 284.


24 Befindlich auf der königlichen Bibliothek zu Königsberg.


25 Gerber, a.a.O. S. 283 »Bisher aber hat man gar angefangen die Passions-Historia, die sonst so fein de simplici et plano, schlecht und andächtig abgesungen wurde, mit vielerley Instrumenten auf das künstlichste zu musiciren, und bisweilen ein Gesetzgen aus einem Passions-Liede einzumischen, da die gantze Gemeinde mitsinget, alsdenn gehen die Instrumente wieder mit Hauffen.«


26 In der Rudolstädter Passion von 1688 heißt es am Beginn von Actus III: »Zum Anfange Paul GerhardsAria.«


27 In der Vorrede eines Jahrgangs von Cantatentexten, welche unter dem Titel »Erbauliche Uebereinstimmung der Sonn- und Fest-Tags-Evangelien« 1696 für die Hofcapelle zu Gotha gedruckt und von Witt componirt wurden (auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode) und die vorzugsweise Choräle und Bibelsprüche enthalten, heißt es: »so nöthig ist auch, daß diejenigen, so musiciren, selbst andächtig erwegen was sie singen, die Zuhörer aber nicht nur allein auf die liebliche Music, sondern auch vornemlich auf die herrlichen Materien Achtung geben mögen.«


28 Im Autograph in der Bibliothek der fürstlichen Schloßcapelle zu Sondershausen. Der Paraphrase liegt das gewöhnliche »Nun ich danke dir von Herzen« zu Grunde.


29 S. Band I, S. 468.


30 S. Chrysander, Händel I, S. 89.


31 Der »Weinende Petrus« muß 1711 oder spätestens 1712 entstanden sein, da im dritten Acte auf den Kaiser Joseph I. in einer Weise angespielt wird, aus der hervorgeht, daß derselbe kurz vorher gestorben sein muß. Joseph I. starb im Frühjahr 1711. Gedruckt erschien die Dichtung erst als Anhang zur »Andachts Ubung | Zur Kirchen Music. | In Cantaten, Oden und | Arien. Franckfurt und Leipzig, 1721.« 8. (befindlich auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode).


32 »Theatralische, geistliche, vermischte und galante Gedichte von König«. Hamburg und Leipzig, 1713. S. 307 ff. »Thränen Unter dem Creutze JESU, In einem ORATORIO Montags, Dienstags und Mittwochs zur Vesper-Zeit In der stillen Woche Musicalisch aufgeführt. M.DCC.XI.« Auf der Leipziger Stadtbibliothek, Soc. Teut. 8. Nr. 376. –Winterfeld erwähnt (Ev. K. III, S. 63) einen »verurtheilten und gekreuzigtens Jesu« Johann Ulrich Königs, der mit Keisers Musik 1714 in Hamburg aufgeführt sei. Diese Dichtung habe ich nicht gesehen.


33 Beccau, Zuläßige Verkürtzung müßiger Stunden | Hamburg 1719. S. 83 ff. »Heilige Fastenlust | oder: das Leyden und Sterben unsers Herrn JEsu Christi | nach der Historie der Vier Evangelisten.« Königl. öffentliche Bibliothek zu Dresden. Lit. Germ. rec. B. 349.


34 Johann Georg Seebach, Der leidende und sterbende JESVS ... In einem ORATORIO und in geistlichen Liedern zur Erweckung heiliger Andacht ans Licht gestellet. Gotha, 1714. 8. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode.


35 Im Autograph auf der königl. Bibliothek zu Königsberg. Stölzel hat sein Werk in vier Theile zerlegt; leider fehlt der zweite und vierte Theil.


36 Von Winterfeld, Ev. K. III, S. 128 ff.; von Chrysander, Händel I, S. 429 ff.


37 Diese Passion ist in einer 1729 von J.P. Hasse gefertigten Abschrift in meinem Besitz.


38 ORATORIUM | Welches, | nach Anleitung | derer Sonn- und Fest- | tägigen | Evangelien, | zu Erweckung | einer Christlichen Andacht, | aufgeführt wird | In der Schloß-Capelle | zu Schleitz. | Schleitz, s.a. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode.


39 Gottfried Behrndt, Zitt. Lusat., Poetische Sonn-und Fest-Tags- | Betrachtungen | über die verordneten Evangelien | durch das gantze Jahr, | In so genandten Oratorien | bestehend. Magdeburg. 1731. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode. – Zur Erklärung des obgenannten Mißverständnisses mag übrigens auch der Umstand noch erwähnt werden, daß oratorienhafte Werke in jener Zeit nicht selten bei den regelmäßigen Gymnasial-Redeacten durch den Schülerchor aufgeführt wurden. So z.B. eine Dichtung und Composition Constantin Bellermanns »Die himmlischen Heerschaaren« 1726 im Gymnasium zu Göttingen (s. Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst. Dritter Band, S. 13). Von ähnlichen Aufführungen berichtet Heiland, Programm des Gymnasiums zu Weimar. 1858. S. 16 f.


40 Text zur Passionsmusik nach Anleitung der biblischen Geschichte in der Thomaskirche zu Leipzig im Jahre 1759 aufgeführt. Leipzig, Gedruckt bey J.G.J. Breitkopf. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode.


41 Reinhold Zöllner, Das deutsche Kirchenlied in der Oberlausitz. Dresden, Burdach. 1871. S. 31 f.


42 Dies hat Chrysander richtig erkannt, s. dessen Händel I, S. 78. Desgl. Weinhold, Weihnacht-Spiele und Lieder. S. 290.


43 Ministerialbibliothek zu Sondershausen, Sammelband »E biblioth. Treiber. A 96a.«


44 Zuckmantler Passionsspiel herausgegeben und erläutert von Anton Peter. Troppau 1868 und 1869.


45 S. 168.


46 Forkel, S. 61.


47 Er findet sich im dritten Theil seiner Gedichte S. 49. ff. mit der Überschrift: »TEXTE Zur Paßions-Music nach dem Evangelisten Marco am Char-Freytage 1731.«


48 Das Verhältniß zwischen Trauerode und Marcuspassion zuerst erkannt zu haben ist eines der zahlreichen Verdienste Rusts; s.B.-G. XX2, S. VIII ff. – In Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 18 findet sich angeführt: »Anonymo, Paßions-Cantate, secundum Marcum. Geh Jesu, geh zu deiner Pein.« Der Textanfang stimmt, auch die Besetzung ist dieselbe, wie in der Trauerode, bis auf die zweite Gambe und die Laute.


49 Sammlung Erbaulicher Gedancken über und auf die gewöhnlichen Sonn- und Fest-Tage. Leipzig 1725. S. 293 ff. – Der vollständige Text ist mitgetheilt Anhang B, X, 1.


50 S. Anhang A, Nr. 46.


51 Im Besitz des großherzoglichen Kammersängers Herrn Joseph Hauser zu Carlsruhe. – S. Anhang A, Nr. 44.


52 So steht z.B. gleich auf S. 20 bei der Cantate »O Wunderkraft der Liebe« (»Herr Christ der einge Gott'ssohn« B.-G. XXII, Nr. 96) à 3 Voci verdruckt statt à 4 Voci.


53 S. Anhang A, Nr. 45.


54 Er findet sich mit zwei Strophen auch verwendet in der Rudolstädter Passion von 1688.


55 Dretzel, Des Evangelischen Zions Musicalische Harmonie (Nürnberg, 1731) giebt die Dur-Gestalt in dreierlei Formen, die Moll-Gestalt in zweierlei (S. 316 ff.). In Mühlhausen war zu Joh. Rud. Ahles Zeit die Melodie in Moll gebräuchlich (Winterfeld, Ev. K. II, S. 467), desgleichen in Gotha, wie aus Witts Cantional von 1715, S. 203 hervorgeht, desgleichen in Sondershausen nach Ausweis des Gerberschen Choralbuches, welches nicht im Druck erschienen, aber in einer Handschrift von 1745 in meinem Besitz ist. Dagegen bietet Freylinghausens Gesangbuch (Halle, 1741; noch nicht die Ausgabe von 1710) die Dur-Melodie. Bach selbst hat im Naumburg-Zeitzer (dem sogenannten Schemellischen) Gesangbuche von 1736 unter Nr. 696 die Moll-Melodie, dagegen in seinen Choralgesängen (III, 264, im Jahre 1786 herausgegeben) die Dur Melodie. In keiner von allen diesen Quellen stimmen die Melodien vollständig überein.


56 S. hierüber Band I, S. 309 f. und 583 ff.


57 B.-G. I, S. 124. – Die ausdrucksvollen Melismen, mit denen Bach seine Choräle zu zieren liebte, kommen hier natürlich nicht in Betracht, da sie die Grundgestalt der Melodie nicht abändern sondern nur umhüllen.


58 S. Band I, S. 451 ff.


59 Der Gebrauch dieser Melodie in Thüringen wird nicht nur durch Witts Cantional constatirt, sondern auch durch Michael Bachs Motette »Unser Leben ist ein Schatten«. Darin, daß sie Bach benutzte, sieht Rust (B.-G. XXIII, S. XL f.) mit Recht einen neuen Beweis für die Entstehung der Cantate »Gottes Zeit« in Weimar. Die Melodieform der Lucas-Passion bietet Freylinghausens Gesangbuch von 1741; in der Tenorarie weicht aber Bach an einer Stellen wieder von ihr ab.


60 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst. Vierter Band, S. 282 f.: »ich aber habe, als Knabe, unter Doles, nur drei [Passionen] kennen gelernt und ausführen helfen«. Dies sagt Rochlitz in einer Besprechung der Johannes-Passion, welche sich demnach unter jenen dreien befunden hat. Von der Matthäus-Passion, dem größesten und berühmtesten Werke, versteht sich solches von selbst. Die Lucas-Passion war wenigstens noch in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts im Leipziger Musikalienhandel ein gangbarer Artikel; s. die oben angeführte Stelle aus Breitkopfs Verzeichniß.


61 S. Anhang, B, IX.


62 Brockes hat hier wohl hauptsächlich den 79. Psalm im Auge gehabt, welcher dem Assaph zugeschrieben wird und die dem Volke Gottes durch die Heiden zugefügten Mißhandlungen behandelt.


63 Psalm 55, 7: »O hätte ich Flügel wie Tauben, daß ich flöge und etwa bliebe«.


64 S. S. 64 dieses Bandes.


65 So heißt es z.B. am Schluß der Schleizer Passion:


Ruht, ihr heiligsten Gebeine,

Ruhet unter diesem Steine,

Bis zum frohen Oster-Tag,

Da ich euch empfangen mag,

Wo ich nachmals nicht mehr weine;

Ruht, ihr heiligsten Gebeine.


66 Der Arie »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel« könnte folgende Francksche Strophe zum Vorbilde gedient haben:


Ihr Felsen! reißt! ihr Berge fallt!

Ihr Klüfte gebt mir Aufenthalt!

Wie kann ich doch entgehen

O Jesu deiner starken Hand?

Zög ich gleich über Meer und Land

Und über Berg und Höhen,

Führ ich gleich in den Abgrund ein,

Du würdest doch zugegen sein.


(S. Arnstädter Gesangbuch von 1745, Anhang des andern Theils, S. 66.)


67 Gelegentlich der weltlichen Cantate »Vergnügte Pleißenstadt«.


68 Der Text des vorhergehenden Arioso ist übrigens in der Ausgabe der B.-G. (XII1, S. 55 f.) zum Theil falsch edirt. Wie Originalstimmen und Originalpartitur ausweisen, heißt es nicht »mit bittren Lasten hart beklemmt von Herzen« sondern »mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen« und hernach »wie dir aus Dornen, so ihn stechen, die Himmelsschlüsselblumen blühn«. Auch bei Winterfeld, E.K. III, S. 368 steht der Text falsch.


69 S. Anhang A, Nr. 46.


70 S. B.-G. XII1, S. 29, 31, 83, 102 und 104.


71 B.-G. XII1, S. 25 ff.


72 B.-G. XII1, S. 31 und 135 ff.


73 B.-G. XII1, S. 34 ff. und 149 ff.


74 Die »Worte Jesu« sind: »In dieser Nacht, ehe der Hahn krähet, wirst du mich dreimal verleugnen«. Sie fehlen im Johannes-Evangelium ebenfalls, und da Bach es unterlassen hat, auch sie dem Matthäus zu entnehmen, fehlt dem eingefügten Satze Beziehung und Verständlichkeit.


75 In sechs Theile (Actus) zerfällt z.B. die Rudolstädter Passion von 1688. Graf Heinrich XII. führte in Schleiz eine zwölftheilige Passion ein, deren erster Abschnitt am Sonntage Invocavit und deren letzter am Charfreitage abgesungen wurde. Der Text befindet sich auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode (H b, 417). Beides sind sogenannte Passionsharmonien, die aus den vier Evangelisten zusammengestellt waren.


76 S. Israël, Frankfurter Concert-Chronik von 1713–1780. Frankfurt a.M. 1876. S. 33 (eine Concert-Anzeige vom 26. März 1743).


77 B.-G. XII1, S. 53, T. 9.


78 B.-G. XII1, S. 33, 54, 119, 122.


79 S. 78, T. 4–5 der Partitur der B.-G.


80 S. 33 und 54.


81 Vgl. Band I, S. 492.


82 S. 52 und 95.


83 Winterfeld. E.K. III, S. 364.


84 »Ersteres wird durch zwei Viole d'amore, Laute und Bass begleitet. In Ermangelung einer Laute hat Bach den Part durch ein Cembalo ausführen lassen, wozu eine autographe Stimme vorliegt. Später – nach 1730 – übertrug er die Aufgabe der obligaten Orgel; eine autographe Stimme dafür ist vorhanden, steht in Des dur und trägt von Bachs Hand die Überschrift: Wird auf der Orgel mit 8 und 4 Fus Gedackt gespielet.« Die Cembalostimme steht in Es dur.


85 Um doch Gelegenheit zu einer solchen Vergleichung zu geben, ist die Composition des Textes »Mich vom Stricke meiner Sünden« aus Telemanns Marcus-Passion (B dur) als Musikbeilage 2 mitgetheilt. Ich wähle sie, da in den übrigen Passionen dieser Text als Chor componirt ist, also mit Bachs Arie nicht wohl verglichen werden kann. Außerdem wäre über den Gegenstand zu vergleichen Winterfeld, E.K. III, S. 368 ff.


86 S. S. 232 f. dieses Bandes.


87 S. Band I, S. 526.


88 S. S. 257 dieses Bandes.


89 Auch Winterfeld, E.K. III, 366 hat diesen Zug an dem Einleitungschore der Johannes-Passion hervorgehoben, und überhaupt demselben eine sehr verständnißvolle Besprechung zu Theil werden lassen. Seine Einwendungen gegen Rochlitz scheinen mir jedoch nicht begründet; beider Ansichten lassen sich recht wohl vereinigen.


90 Von der Marcus-Passion hat er Bibelwort und Choräle mit drucken lassen, obgleich anzunehmen ist, daß Bach die Auswahl der Choräle in ihr ebenfalls selber getroffen hat. Aber hier war Picanders madrigalische Zuthat so unbedeutend, daß es sich nicht der Mühe gelohnt hätte, sie allein zu drucken. In die Gesammtausgabe der Picanderschen Gedichte ist die Marcus-Passion nicht aufgenommen.


91 Vgl. S. 175 f. dieses Bandes.


92 Franck, Madrigalische Seelen-Lust (Arnstadt, 1697) S. 8:


»Auf die Salbung JEsu mit Narden-Wasser.


Hast du es jenem Weibe

Du Menschen-Freund mein JEsu wohlgesprochen,

Daß sie aus Lieb ein Glaß vor dir zubrochen,

Draus Narden-Wasser floß,

Und deinen Leib begoß;

So laß du Liebster du

Auch mir, daß ich dich geistlich salbe, zu!

Ich wil kein Glaß, vielmehr mein Hertz zubrechen,

Diß nimm du höchstes Gut,

Hab' ich nicht Narden-Fluth,

So netz' ich dich mit meinen Thränen-Bächen.«


Picander in der Matthäus-Passion:


»Du lieber Heyland du,

Wenn deine Jünger thöricht streiten,

Daß dieses fromme Weib

Mit Salben deinen Leib

Zum Grabe will bereiten,

So lasse mir inzwischen zu,

Von meiner Augen Thränen-Flüssen

Ein Wasser auf dein Haupt zu giessen.«


93 Die Matthäus-Passion ist herausgegeben im vierten Bande der B.-G.


94 Mosewius, Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, musikalischästhetisch dargestellt. Berlin, 1852, S. 70.


95 H.-G. XV, S. 134.


96 Winterfeld, E.K. III, S. 372.


97 Der Orgel hat Bach zu dieser Stelle ausgehaltene Accorde gegeben, was, da sie sonst nur mit kurz angeschlagenen Accorden zu begleiten hat, von sehr feierlicher Wirkung ist. Daß übrigens die Secco-Recitative der Matthäus-Passion nicht auf der Orgel, sondern nur auf dem Cembalo accompagnirt seien, ist eine ungegründete Vermuthung von Julius Rietz (B.-G. IV. S. XXII), da die vorliegenden originalen Orgelstimmen das vollständige Recitativ-Accompagnement enthalten. Darüber, daß die Vermuthung auch auf einer unzweifelhaft falschen Voraussetzung beruht, bedarf es wohl nur der Verweisung auf S. 131 ff. dieses Bandes.


98 Die Grundsätze, durch welche sich Telemann leiten ließ, erhellen deutlicher noch aus seiner Marcus-Passion von 1759 (G dur), in welcher er nicht sämmtliche Reden Christi, sondern nur einzelne bedeutungsvolle Stellen aus denselben durch Streichquartett begleiten läßt.


99 Marx (Kompositionslehre II, S. 276) findet hierin die Feierlichkeit des Volksgerichts ausgedrückt. Feierlichkeit gewiß, aber diejenige protestantischkirchlicher Tonkunst.


100 Daß die verrenkte Gestalt des Themas und die Kreuzungen der Stimmen in der Durchführung auch einen malerischen Zweck haben dürften, ist längst vermuthet worden. Auffallen muß die Ähnlichkeit des Themas mit dem der Kreuzigungschöre in der Johannes-Passion. Die Neigung zur Tonmalerei äußerte sich in jener Zeit zuweilen auch in einer Art von Augenmusik; so versinnlicht Mattheson einmal die »Regenbögen« auf dem Rücken des gegeißelten Jesu durch Tongruppen, die auf dem Papier in Bogenform erscheinen (s. Winterfeld, E.K. III, S. 179). Der Haupttheil des Bachschen Kreuzigungsthemas:


7.

oder


7.

bildet, wenn man die äußersten und mittleren Noten durch Linien verbindet, das Zeichen des Kreuzes. Auch in dem Recitativ auf S. 92 der Johannespassion ergiebt sich durch die Tonfolge


7.

diese Figur. Eine Spielerei, die sich etwa dem Bilde des Fisches auf mittelalterlichen Kirchenbauwerken vergleichen läßt. Sie hat hier nichts verletzendes, da sie von einem bedeutenden musikalischen Gedanken getragen wird.


101 Es ist eine üble aber fast allgemein gewordene Sitte, diesen Choralsatz a cappella singen zu lassen. Abgesehen von der Untreue gegen das Original, welcher man sich hierdurch schuldig macht, putzt man die Stelle durch ein ganz unbachisches Effectmittel auf und giebt ihr einen Anstrich von Sentimentalität, welcher nirgends unangebrachter ist, als hier. Bachs Choralsätze thun ihre eigenthümliche Wirkung nur in jenem aus Menschengesang, Orgel- und Instrumentenklang gemischten Colorit, das durch nichts anderes zu ersetzen ist. Die Instrumente haben bei Bach soviel individuelles zu sagen, daß es außerdem eine greifbare Symbolik hat, wenn sie in solchen Chorälen sich dem Gange der vier Singstimmen einmüthig anschließen.


102 Dieser bisher nirgends veröffentlichte Tonsatz ist mitgetheilt als Musikbeilage 3.


103 »Was mein Gott will, das g'scheh allzeit«, 1. Strophe; »In dich hab ich gehoffet Herr«, 5. Strophe (»Mir hat die Welt trüglich gericht't«); »Werde munter, mein Gemüthe«, 6. Strophe (»Bin ich gleich von dir gewichen«).


104 Im Anfange des zweiten Recitativs: »Wiewohl mein Hertz in Thränen schwimmt, Daß JEsus von mir Abschied nimmt«, hat Bach »mir« in »uns« verwandelt. Im ersten Recitativ des zweiten Theils schreibt Picander: »Mein JESUS schweigt Zu falschen Lügen stille, Um damit anzuzeigen« u.s.w.; Bach componirt »Um uns damit zu zeigen«.


105 Winterfeld, E.K. III, S. 372 nimmt dieses an.


106 Daß Picander den Text der Arie des Petrus in Brockes' Passion nachbildete, ist augenscheinlich.


107 »Vergnügtsein« ist nach dem Sprachgebrauch damaliger Zeit soviel wie »volles Genügen haben«. Picander gebraucht den Ausdruck in diesem Sinne häufig.


108 Hoheslied Salomonis Cap. 6, v. 1.


109 Vgl. Ev. Matth. Cap. 23, v. 37: »Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel.«


110 Rambach, Geistliche Poesien, S. 96:


»Zion. Weint nicht mehr, betrübte Seelen!

Flieht aus euren Trauer-Höhlen.

Kommt. Chor. Wohin? Zion: an Christi Grab.

Euer Bräutgam lebet wieder.

Singet. Chor. Was denn? Zion: Freuden-Lieder.

Wischt die bangen Thränen ab.

Kommt. Chor. Wohin? Zion: an Christi Grab.«


111 Vgl. Band I, S. 69 ff.


112 B.-G. I, Nr, 6.


113 S. S. 302 dieses Bandes.


114 S. S. 228 dieses Bandes.


115 S. Band I, S. 560.


116 S. Band I, S. 534 ff.


117 S. S. 259 f. dieses Bandes.


118 S. Des Knaben Wunderhorn. Erster Theil. 2. Aufl. Heidelberg, 1819. S. 142. Vrgl. L. Erk, Deutscher Liederhort. Berlin, Enslin. 1856. S. 415 f.


119 Trutz Nachtigal. Cöllen, 1649. S. 227. Die erste Zeile eigentlich: »Der schöne Mon, wil vndergohn«. Vgl. auch A. Freybes sinnige kleine Schrift Der Karfreitag in der deutschen Dichtung. Gütersloh, Bertelsmann. 1877. S. 112 ff.


120 S. Peter, Zuckmantler Passionsspiel. Troppau 1868. S. 10. – Rein, Vier geistliche Spiele des 17. Jahrhunderts für Charfreitag und Fronleichnamsfest. Crefeld, 1853, S. 9.


121 S. S. 115 f. und 203 dieses Bandes.


122 Vergl. das bei Rein, S. 20 abgedruckte Lied »Schaue Sion deinen König«.


123 »Maria cantat: Johannes lieber öhen min Hilf mir wainen min leit und daz din«; aus einer St. Gallener Handschrift des 15. Jahrhunderts mitgetheilt von Mone, Schauspiele des Mittelalters, Erster Band, S. 200. »Wenet gy truwen swesteren, un helpet my armen trôvich sîn, helpet my klagen mîn leid, mîn nôt, de is worden breit unde mînes herten pîn«; in der niederdeutschen Marienklage einer Wolfenbüttler Handschrift herausgegeben von Schönemann, Hannover. 1855. S. 131. Beispiele aus dem Nibelungenliede führt an Freybe a.a.O. S. 2.


124 B.-G. XII1, S. 33.


125 Mit Mosewius, Johann Sebastian Bach's Matthäus-Passion. S. 6.


126 Mone, Schauspiele des Mittelalters. Erster Band. S. 108.


127 Scheibe, Critischer Musikus. S. 58.


128 Nach den Mittheilungen von Th. Kriebitzsch, welcher dergleichen noch selbst erlebt hat (Musikalisches Wochenblatt, Jahrgang 1870. S. 337.)


129 S. S. 347 Anmerk. – Bei Mizler, Musikalische Bibliothek, Bd. IV, S. 109 wird von einer unvergleichlichen Passions-Musik gesprochen, welche wegen der allzu heftigen in ihr ausgedrückten Affecte in der Kammer eine gute, in der Kirche aber eine widrige Wirkung gehabt habe. Möglich, daß hiermit die Matthäus-Passion gemeint ist.


130 S. Anmerkung 129.


131 S. S. 31 dieses Bandes.


132 S. Anhang A, Nr. 44 und Nr. 46 gegen Ende.


133 S. Anhang A, Nr. 47.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880..
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