VIII.

Der tiefe kirchlich-volksthümliche Grund, auf welchem Bachs Passionen beruhen, trägt auch dessen große Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrts-Musiken. Indessen ist die Art der Beziehungen auf denselben eine etwas andre. Daß in der mittelalterlichen Kirche Evangelienlectionen mit vertheilten Rollen zu Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt eben so stattfanden wie in der Passionszeit, ist sicher bezeugt. Die protestantische Kirche hat aber von denselben nicht in gleicher Weise Gebrauch gemacht. Ich habe wenigstens für Weihnachten und Himmelfahrt kein Beispiel gefunden, daß sie in den ersten anderthalb Jahrhunderten der Reformation in protestantischen Ländern geübt worden seien. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts kommen sie in Thüringen vor1 und ein bewußtes Wiederanknüpfen [400] an den altkirchlichen Gebrauch dürfte ihre Erscheinung jetzt kaum bedeuten, man wird vielmehr nur eine Rückwirkung der altbeliebten Passionsform in ihr erkennen müssen. Hieraus erklärt sich dann, warum Bach seine betreffenden Werke mit dem fremdländischen Titel »Oratorium« versah. Es fehlte ihm eben eine durch die kirchliche Praxis überlieferte Bezeichnung, und er borgte den Namen von derjenigen Form, die ihm verhältnißmäßig die nächste Verwandtschaft mit dem was er gestalten wollte zu haben schien. Der Zusammenhang mit den Liturgien der drei Feste ist demnach in dieser einen Hinsicht kein so tiefgewurzelter wie bei den Passionen. Dagegen treten die Beziehungen zu gewissen andern kirchlich-volksthümlichen Gebräuchen theilweise um so deutlicher hervor. Das geistliche Volksschauspiel, insofern es sich mit dem Erlösungswerk Christi befaßte, ging wohl noch über die Menschwerdung zurück in die alttestamentliche Vorbereitung zu demselben; es ging aber nicht über die Himmelfahrt hinaus, die Pfingstvorgänge also ließ es unberücksichtigt. Bach hat ebenfalls kein Pfingst-»Oratorium« hinterlassen und schon hierin dürfte eine Beobachtung der volksthümlichen Tradition offenbar werden. Doch wird man sich vor der allzusichern Annahme einer Absichtlichkeit hüten müssen, da am Ende des 17. Jahrhunderts selbst Pfingstmusiken in der Form der Passionen nicht ohne Beispiel sind.2

Es ist oben (S. 329) bemerkt worden, daß aus den dramatisirten Lectionen der Passionsgeschichte sich die mittelalterlichen Passionsschauspiele entwickelten, deren Schauplatz anfänglich noch die Kirche blieb. Die Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsspiele haben denselben Ursprung. Da aber die zu ihrer dramatischen Versinnlichung erforderlichen Ceremonien und Aufzüge der Beschaffenheit [401] der Handlungen gemäß viel einfachere waren, so ist es begreiflich, daß diese sich auch vollständiger in der Liturgie erhalten konnten, während man die Passionsliturgien, um sich der Ausartung der außerkirchlichen Schauspiele entgegen zu stellen, wieder auf die nothwendigsten dramatischen Andeutungen beschränkte. Die Weihnachtserzählung bietet nur vier Vorgänge dar: die Geburt, die Verkündigung der Engel an die Hirten, der Gang der Hirten nach Bethlehem und die Anbetung der heiligen drei Könige. Die symbolisch-dramatische Darstellung derselben ist denn auch der protestantischen Liturgie lange Zeit hindurch ganz oder theilweise verblieben. Was von ihr im Leipziger Cultus zu Bachs Zeit noch lebendig war, ist zum Theil schon bei Gelegenheit des Magnificat (S. 201) in Betracht gezogen. Neben der Sitte des Kindleinwiegens muß man in Leipzig auch eine symbolische Ceremonie zur Darstellung der Engelbotschaft gekannt haben. Sie bestand darin, daß Knaben als Engel verkleidet in vier Chören sich an vier Stellen der Kirche (beispielsweise vor dem Altar, auf der Kanzel, im Beamten-Stuhl und auf dem Orgelchor) aufstellten und den ChristgesangQuem pastores laudavere Zeile um Zeile unter einander abwechselnd vortrugen.3 Daß dieses auch in Leipzig geschehen ist, lehrt uns das Gesangbuch des Vopelius, es bleibt freilich unerwiesen, ob noch während Bachs Zeit.4 Nun liefen aber neben diesen liturgischen Vorgängen die außerkirchlichen Weihnachtsspiele her, welche sich gleichfalls um jene vier Haupthandlungen mit volksthümlicher Freiheit und Naivetät bewegten. Da das Weihnachtsfest sich mit urgermanischen heidnischen Gebräuchen und Anschauungen verschmolzen hatte, so wurzelten auch die Weihnachtsspiele viel tiefer und zäher noch im Volksleben, als die Passionsspiele; sie blühten demnach auch noch viel frischer als diese und waren dem Sohne des Thüringerstammes etwas von Jugend her vertrautes. So waren auch hier die Umstände günstig für die Gestaltung eines liturgischen Weihnachts-Mysteriums, das Anschauung und Empfindung des Volkes mit reichsten Kunstmitteln und in höchster künstlerischer Vollendung erschöpfend zum Ausdrucke bringen sollte.

[402] Das Weihnachts-Oratorium hat Bach im Jahre 1734 geschrieben.5 Der biblische Text findet sich Lucas 2, v. 1 und v. 3–21, sodann Matthäus 2, v. 1–12. Dieser Text ist nicht, wie bei den Passionen, nach Art des italiänischen Oratoriums in zwei Hälften zerlegt, sondern nach Maßgabe der Perikopen für die drei Christtage, den Neujahrstag, den Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest in sechs Theile. Es bildet somit jeder Theil zugleich eine abgeschlossene Festmusik für einen der sechs Feiertage, und wurde auch als solche in der gewöhnlichen Weise aufgeführt. Man hat daraufhin wohl gemeint, das Weihnachtsoratorium sei nur eine Reihe äußerlich zusammengesetzter selbständiger Cantaten. In unserer der Kirche entfremdeten Zeit kann allerdings ein solches Urtheil nicht überraschen und überdies ist der von Bach selbst gegebene Noth-Titel »Oratorium« irreleitend. Aber die Kirche faßte die Zeit der Zwölfnächte (vom 1. Christtag bis zum Dreikönigsfest), welche schon dem germanischen Heidenthum eine geheiligte war, zu einer Festperiode zusammen, deren Mittelpunkt Christi Geburt bildete. Wenn die katholische Kirche in diese Zeit auch die Feier einiger Aposteltage verlegt hatte, so bemühte man, sich protestantischerseits, dieselben wieder auszumerzen, um nur allein mit der Person Jesu sich zu beschäftigen. So war es auch in Leipzig. An den drei Weihnachtstagen wurde über die Geburt gepredigt, am Neujahrstage über die Beschneidung, an dem Sonntage nach Neujahr und dem Epiphaniastage von den Nachstellungen des Herodes und den morgenländischen Weisen. Auch wurden an allen diesen Tagen die Weihnachtslieder gesungen.6 Abgesehen also davon, daß die sechs Theile des Weihnachts-Oratoriums eine fortlaufende Begebenheit behandeln, mußten sie der kirchlichen Anschauung schon durch ihre Bestimmung auf die sechs zusammengehörigen Feiertage als ein Ganzes sich darstellen. Freilich diese kirchliche Anschauung ist für das Verständniß des Werkes nothwendig, ihm so wenig wie den Passionen darf man mit den Ansprüchen an ein Concert-Oratorium gegenübertreten. [403] Was Bach hier für Weihnachten that, war andern Orts auch für die Passionszeit Brauch, wie oben (S. 357 f.) bemerkt worden ist.7

Die madrigalischen Stücke sind größeren Theils Übertragungen aus weltlichen Gelegenheitsmusiken. Ein Drama per musica, das Bach zum Geburtstage der Königin am 8. December 1733 im Musikverein aufführte, hat zu den Anfangs-Chören des ersten und dritten Theils, und zu zwei Arien die Musik hergegeben. Einem Werke gleicher Gattung, welches zum 5. September desselben Jahres um den Geburtstag des Thronfolgers zu feiern componirt wurde, sind vier Arien, ein Duett und ein Chor, und einer dem 5. October 1734 bestimmten Gratulationscantate für den Leipzig besuchenden König Friedrich August III. eine Arie entnommen. Auch von den noch übrigen sechs Stücken ist es bei vieren wahrscheinlich, daß sie Übertragungen nicht mehr vorhandener Originalcompositionen sind.8 Den Text für den Geburtstag der Königin hat Bach augenscheinlich selbst gemacht.9 Dichter der Cantate auf den Geburtstag des Churprinzen war Picander, und bei der Gratulationscantate darf man dasselbe vermuthen.10 Hiernach ist es fast selbstverständlich, daß Bach und Picander ein jeder an seinem Textantheile auch die für das Weihnachts-Oratorium erforderlichen Umdichtungen besorgten. Bestätigt wird diese Annahme durch den Text des ersten Chors; [404] derselbe ist theils nach Psalm 100, v. 2 gebildet, theils klingt er vernehmlich an zwei Arien Johann Georg Ahles an, welche Picander kaum bekannt sein konnten, wohl aber Bach, dem unmittelbaren Nachfolger Ahles in Mühlhausen.11 Ob die weltlichen Gesangstücke, die in das Weihnachts-Oratorium eingegangen sind, nicht auch ihrerseits wieder, wenigstens zum Theil, auf älteren Compositionen beruhen, ist eine nicht unbedingt zu verneinende Frage. Jedenfalls kommt der Schlußchor des Drama für den Churprinzen, der freilich im Weihnachts-Oratorium keine Verwendung gefunden hat, schon in der Cantate »Erwünschtes Freudenlicht« vor, natürlich mit anderm Text, und selbst hier wird er keine Originalarbeit sein.12

Es könnte unter solchen Umständen scheinen als müßte dem Weihnachts-Oratorium die Einheitlichkeit fehlen. Soviel muß man zugeben: manche Einzelheiten der madrigalischen Musikstücke verrathen, daß sie ursprünglich über einen andern Text gesetzt worden sind. Die Worte des ersten Chors lauteten eigentlich: »Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten!«; hiernach ist der Anfang der Musik, die allein beginnende Pauke, die gleich darauf einfallende Trompetenfanfare, eingerichtet, dagegen paßt zu den Worten: »Jauchzet, frohlocket, auf! preiset die Tage« dieser Anfang nicht mehr. Der Eingangschor des vierten Theils hatte den Text: »Laßt uns sorgen, laßt uns wachen«, und der Begriff »wachen« wurde durch zwei kurzgestoßene Achtel versinnlicht; durch das Wort der Parodie »loben« erscheint dies Ausdrucksmittel weniger bedingt. »Auf meinen Flügeln sollst du schweben, Auf meinem Fittich steigest du Den Sternen wie ein Adler zu« lautet es in der Cantate für den Churprinzen. Der Musik, die das Schweben und Aufsteigen in edler Plastik darstellt, ist im vierten Theile des Weihnachts-Oratoriums der Text untergelegt: »Ich will nur dir zu Ehren leben, Mein Heiland gieb mir Kraft und Muth, Daß es mein Herz recht eifrig thut.« In derselben Cantate singt Hercules: »Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen, Verworfene Wollust, ich kenne dich nicht. Denn die Schlangen, So mich wollten wiegend fangen, Hab ich schon lange zerdrücket, [405] zerrissen«. Die Begleitung malt an den betreffenden Stellen die Windungen der Schlangen; zu den parodirten Worten: »Deine Wangen Müssen heut viel schöner prangen« wird die Bedeutung dieser Tonreihen unverständlich. Aber daß Bach sich an solchen kleinen Incongruenzen nicht stieß, ist auch wieder für die richtige Auffassung seiner Musik äußerst belehrend. Wie gern er auch malerische Züge einstreute, er that es nicht in Folge einer auf musikalische Plastik gerichteten Grundanschauung. Jene Züge sind flüchtigen Anregungen entsprungene Witze, deren Vorhandensein oder Fehlen Werth und Verständlichkeit des Tonstückes in seinem eigentlichen Wesen nicht ändert. Man ist bei Bach zu leicht bereit, irgend eine scharf hervortretende melodische Linie, eine frappante harmonische Wendung und irgend ein bezeichnendes oder affectvolles Wort, das mit jenen musikalischen Gestaltungen zusammentrifft, in eine innigere und tiefere Beziehung zu bringen, als sie im Sinne des Componisten gelegen haben kann. Ist schon in Bachs Recitativen die Übereinstimmung von Wort und Ton manchmal etwas nebensächliches, fast zufälliges zu nennen, wie viel mehr in den gebundenen Musikstücken. Wer je die erste Alt-Arie des Weihnachts-Oratoriums hörte, wird sich über den zärtlichen Ausdruck der vereinzelten Ausrufe »den Schönsten«, »den Liebsten« gefreut haben. Es scheint als gehörten Text und Musik untrennbar zusammen. Aber im Original fallen auf dieselben musikalischen Wendungen die Worte: »ich will nicht!« »ich mag nicht!«, und sie passen auch ganz gut. Oft ist die Herstellung solcher tieferen Übereinstimmungen nur der Gestaltungskraft des Sängers anheimgegeben; Bachs Musik weist sie nicht ab, fordert sie aber auch nicht.13 Ja selbst die Einwirkung der im Text gegebenen poetischen Empfindung auf die Gestaltung des Musikstückes im Ganzen ist bei Bach durchschnittlich eine viel mehr verallgemeinerte, als bei irgend einem andern Meister seiner und der späteren Zeit. Die angeführte Arie dient in der weltlichen Cantate dem Hercules, seine Verachtung der Freuden der Wollust auszudrücken, im Weihnachts-Oratorium wird sie eine Aufforderung an die Tochter Zion, den ersehnten Bräutigam liebend zu empfangen. Dabei wird man dennoch einstimmig sein, daß es kaum [406] ein charaktervolleres Musikstück giebt als dieses, nur liegt der Charakter größtenteils in der Musik an sich. Übertrug nun Bach vollständige abgeschlossene Tonstücke aus einem Werke in ein anderes, so wird es sich zumeist darum handeln, ob sie in den musikalischen Zusammenhang passen und, wenn die anfängliche Bestimmung eine weltliche war, ob ihr Stil dem kirchlichen Werke nicht widerspricht. Hinsichtlich der letzteren Frage darf ich auf früher Gesagtes zurückweisen.14 Bachs gesammte Ausdrucksweise hat sich auf kirchlichem Grunde gebildet. Ob er geistliche oder weltliche Musik componirt, ob er Orgelfugen oder Kammersonaten schreibt, der kirchliche Grundton, der aus dem Wesen der Orgel entwickelte Stil durchdringt alle seine Werke. Er konnte demnach kaum etwas unkirchliches schreiben. Seine weltlichen Gelegenheitsmusiken waren vielmehr unweltlich, als solche erfüllten sie ihren Zweck nicht und der Componist gab sie ihrer eigentlichen Heimath zurück, wenn er sie zu Kirchenmusiken umwandelte. Angesichts des unermessenen schöpferischen Reichthums und des tiefen Künstlerernstes, von welchem Bachs Werke zeugen, wird man nicht behaupten dürfen, derartige Übertragungen seien aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel geschehen. Sie erfolgten aus dem richtigen Gefühle, daß die betreffenden Stücke erst durch eine kirchliche Bestimmung völlig stilgemäß erscheinen würden. Damit soll nicht zugleich jeder Unterschied zwischen Bachs geistlicher und weltlicher Schreibweise geleugnet werden. Abgesehen von der ihn beim Schaffen überhaupt beherrschenden Grundstimmung mußte sich Bach natürlich in verschiedener Weise angeregt fühlen, wenn er zur Ergötzung seines Musikvereins und zur Erbauung der christlichen Gemeinde componiren, wenn er die Churfürstin von Sachsen besingen und das Christuskind feiern wollte. Der Charakter der weltlichen Cantaten ist verhältnißmäßig leichter und spielender. Aber es fehlten auch im kirchlichen Leben nicht die passenden Veranlassungen diesen Ton anzuschlagen, und die Weihnachtsfeier war vor allen eine solche. Die festliche Heiterkeit und kindliche Lieblichkeit, welche den Grundzug des Weihnachts-Oratoriums bildet und dem Charakter des Christfestes einen erschöpfenden Ausdruck giebt, ist aufs glücklichste [407] durch jene Übertragung weltlicher Gesangsstücke erreicht worden. Allerdings fehlt es bei Bach auch nicht an Musikstücken, deren Haltung durch den Text schärfer bestimmt erscheint. Bei ihrer Übertragung ist aber auch immer mit Vorsicht verfahren und der parodirte Text der charakteristischen Musik geschickt angepaßt. Das Wiegenlied des zweiten Theils ist auch in der älteren Conception der Geburtstagscantate für den Churprinzen ein Schlummergesang.

Kein anderes Werk Bachs birgt einen reicheren Schatz reizender, leicht eingänglicher Melodien, als das Weihnachts-Oratorium. Doch nicht im musikalischen allein liegt der volksthümliche Zug desselben. Wo es nur anging, ist auch im poetischen Theile auf die Anschauungen der weihnachtlichen Volks-Schauspiele und -Lieder und die mit ihnen zusammenhängenden Ceremonien Rücksicht genommen. Die Sitte des Kindleinwiegens wird durch das Schlummerlied des zweiten Theiles »Schlafe, mein Liebster« zurückgespiegelt, ein Stück von bestrickendem Wohllaut und süßester Melodik.15 Es steht freilich nicht an der ihm eigentlich gebührenden Stelle: diese wäre im dritten Theile gewesen. Musikalische Gründe müssen Bach abgehalten haben es dort einzusetzen. Im zweiten wird sein Eintritt so motivirt, daß eine Bassstimme die Aufforderung an die Hirten fortsetzt und ihnen aufträgt, wenn sie nach Bethlehem gekommen seien, dem Gottessohne »in einem süßen Ton16 und mit gesammtem Chor« das folgende Lied zu singen, welches allerdings für einen chorischen Vortrag keineswegs geeignet ist. Es kam hier nur darauf an, eine Veranlassung zu finden, die Arie selbst hat sich Bach wohl eher im Munde der Maria gedacht, da sie einer Altstimme zuertheilt ist, während sie in der Cantate auf den Geburtstag des Churprinzen von einer Sopranstimme um eine kleine Terz höher vorgetragen wird. In den Weihnachtsspielen und Weihnachte-Hirtenliedern ist es ein stereotyper Zug, daß die Hirten nach Empfang der Engelbotschaft zum Gange nach Bethlehem ermuntert werden. In einem schlesischen Spiele heißt es:


[408] Laufet ihr Hirten, lauft alle zugleich,

Nehmet Schalmeien und Pfeifen mit euch,

Lauft alle zumal

Mit freudigem Schall

Auf Bethlehem zum Kindlein im Stall.


In einem Hirtenliede:


Auf, ihr Hirten, nicht verweilet,

Lauft nur hin in jenen Stall,

Nur zum Jesukindlein eilet,

Ihme nur zu Füßen fall.17


Wenn man damit den Text der Tenorarie im zweiten Theile des Weihnachts-Oratoriums vergleicht:


Frohe Hirten, eilt, ach eilet

Eh' ihr euch zu lang verweilet,

Eilt, das holde Kind zu sehn,


so wird man nicht zweifeln, daß hier ein Zusammenhang besteht. Die Sache ist deshalb besonders wichtig, weil den Text der aus der Cantate für die Königin entnommenen Arie Bach selbst gemacht hat und folglich auch die Umdichtung besorgt haben wird; er selbst ist es also gewesen, dem die Einfügung dieser Reminiscenz aus dem Volksleben zugeschrieben werden muß. Derselben Cantate gehörte die Bassarie des ersten Theils zu, in welcher Jesus als der »große Herr und starke König« besungen wird; auch hier dürften demnach die Worte vom Componisten herrühren. Der Armuth in welcher Jesus auf Erden erscheint, seine göttliche Herrschermacht gegenüber zu stellen mußte schon im allgemeinen nahe liegen. Es scheint indessen, als habe Bach noch mehr beabsichtigt. Die heiligen drei Könige, deren Einherziehen schon in der altkirchlichen Liturgie dramatisch versinnlicht wurde, und die nachher als volksthümliche Figuren auch in außerkirchlichen Umzügen sehr beliebt waren, bringen bekanntlich dem Christkinde dreierlei Gaben: Gold, Weihrauch und Myrrhen. Das Gold gilt dem Könige, der Weihrauch dem Gotte, die Myrrhen dem zu Leiden und Kreuzestod bestimmten Erlöser.18 Im ersten Theile des Weihnachts-Oratoriums ist allerdings von den Drei Königen noch nicht die Rede. Wir sahen aber oben schon, daß es Bach [409] mehr darauf angekommen zu sein scheint, gewisse volksthümlich-kirchliche Anschauungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, als gerade an den ihnen eigentlich zukommenden Stellen. Die Vorausdeutung auf Christi Leiden gleich bei seiner Geburt hat nun wirklich im ersten Theile des Werks eine ergreifende Gestalt gewonnen durch die Anwendung der Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden« zu dem Begrüßungsliede »Wie soll ich dich empfangen«, die in die helle Feststimmung einen düstern Schatten fallen läßt. Die Göttlichkeit Christi noch durch einen besondern Satz hervorzuheben mußte unnöthig erscheinen. Aber sein königliches Wesen zu betonen, lag nun um so mehr nahe, und dazu war auch im Raum des Ganzen immerhin Platz. Zwar nicht mit Unrecht hat man als die Grundanschauung des ersten Theiles das apostolische Wort bezeichnet: »er äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an«. In dem Rahmen der Festfreude ist es allerdings vorzugsweise das Bild demüthiger Erniedrigung, was uns entgegentritt. Der Vorwurf aber als passe deshalb die Bassarie nicht hinein, wird wohl durch den Nachweis der Beziehung entkräftet, welche auf Grund einer volksthümlichen Anschauung zwischen ihr und dem ersten Choral besteht.19 Wenn im zweiten Theile der Engel die Geburt verkündigt hat, wird die oben erwähnte Arie »Frohe Hirten, eilt, ach eilet« durch folgendes Bass-Recitativ eingeleitet:


Was Gott dem Abraham verheißen,

Das läßt er nun dem Hirtenchor

Erfüllt erweisen.

[410] Ein Hirt hat alles das zuvor

Von Gott erfahren müssen,

Und nun muß auch ein Hirt die That,

Was er damals versprochen hat,

Zuerst erfüllet wissen.


Auch dieser Text scheint eine verborgenere Beziehung zu enthalten. Die frostige Antithese von Abraham dem Hirten und den bethlehemitischen Hirten war schwerlich das Motiv der Dichtung; es dürfte vielmehr dem Verfasser etwas vom Lobe des Hirtenstandes vorgeschwebt haben. In Weihnachtsspielen kam es vor, daß die in der Nacht wachenden Hirten, um sich die Zeit zu vertreiben, eine Cantilena de laude pastorum anstimmten. Eine solche findet sich in einem bairischen Weihnachtsspiele, sie beginnt:


Laßt uns singen von den Hirten,

Was sie genießen für große Würden,


und geht dann die Hirten des alten Testamentes durch.20 Daß dieses Motiv bis in die neue Zeit ein populäres blieb, zeigt noch Johannes Falks bekannter Hirtenreigen:


Was kann schöner sein,

Was kann edler sein,

Als von Hirten abzustammen.


Um für die Instrumentalsinfonie, mit welcher der zweite Theil beginnt, recht empfänglich zu werden, wird man auch gut thun sich mit der Stimmung zu erfüllen, aus welcher grade in den Weihnachtsspielen die nächtlichen Hirtenscenen geschaffen sind. Die in der naiven Anschauung des Volkes sich ohne Schwierigkeit vereinigenden Gegensätze: die Lieblichkeit der orientalischen Idylle und der Ernst der sternklaren nordischen Winternacht bilden auch für die Sinfonie den Stimmungsuntergrund. Dieses wunderbare, wie aus Silberfäden gewobene und durch seinen Farbenschmelz bezaubernde Stück ist von einer stillen Heiterkeit und doch unaussprechlich feierlich, es ist kindlich und dennoch übervoll von schwellender Sehnsucht. Die Natur-Romantik, welche es unverkennbar athmet, webt auch noch in dem großartigen Engelchore »Ehre sei Gott in der Höhe«, bei dessen glitzernder Begleitung man in den Sternenraum aufzublicken meint.

[411] Der Bericht des Weihnachts-Evangeliums ist von viel geringerem Umfange, an Ereignissen ärmer und auch weit weniger lebendig, als die Passionsgeschichte. Dadurch kommt der lyrische Theil ins Übergewicht und das Ganze neigt sich entschiedener zum Stil der Kirchencantate hinüber. Bach hat dies selbst sehr wohl gemerkt, ja er hat aus freien Stücken das lyrische Element stärker noch hervorgehoben, als die Umstände erforderten. Selbst zusammengehörige Abschnitte des Evangeliums, die Bach auch als solche behandelte, werden nicht selten von madrigalischen Betrachtungen durchzogen, was in den Passionen nirgends vorkommt. Die im Evangelium gebotenen Gelegenheiten zum Wechsel der recitirenden Stimmen und zur Einführung von Chören hat Bach garnicht einmal immer benutzt. Im zweiten Theil läßt er einmal die Partie des Engels (Sopran) von dem Evangelisten (Tenor) fortsetzen. Es geschieht allerdings, nachdem die Verkündigung des Engels durch ein Recitativ und eine Arie unterbrochen worden ist.21 Hiernach den Engel ohne Vermittlung des Evangelisten noch einmal wieder einsetzen zu lassen, mochte Bach für bedenklich halten. Aber wenn ihm an der Durchführung der dramatischen Fiction viel gelegen gewesen wäre, hätte er die einzelnen Stücke wohl überhaupt anders geordnet. Im fünften Theile läßt Herodes die Hohenpriester und Schriftgelehrten versammeln und befragt sie um Christi Geburtsort. Sie antworten: »Zu Bethlehem im jüdischen Lande. Denn also stehet geschrieben durch den Propheten: Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mit nichten die kleinste unter den Fürsten Judas«, u.s.w. Nach der Regel hätte aus diesen Worten ein Chor gemacht werden müssen; es singt sie aber der Evangelist.22 Der Grund liegt hier, wie ich glaube, nicht in einer Geringschätzung des dramatischen Elements. Die populären Personen der Weihnachtsgeschichte waren, außer Maria und Joseph mit dem Kinde: der verkündigende Engel, die lobsingenden Engelschaaren, die Hirten, die Drei Könige und Herodes. Sie hat auch Bach, soweit es der Text des Evangeliums zuließ, dramatisch eingeführt. Von einem Chor der Hohenpriester und Schriftgelehrten mußte er einen befremdenden und verwirrenden Eindruck befürchten, da diese Personen als solche für die Ereignisse bei Christi [412] Geburt nichts bedeuten; und er wollte sich eben ganz im Anschauungskreise des Volkes halten. Allerdings ließ er so ein Mittel zu größerer dramatischer Lebendigkeit unbenutzt. Aus der vorwiegend lyrischen Haltung des Werks begreift sich endlich auch die Unbekümmertheit, mit welcher Bach Stücke wie das Wiegenlied oder den Preisgesang auf Christus den König an Stellen einsetzte, wohin sie dem Verlaufe der Handlung nach nicht gehörten. Er stellte sich mehr auf den Standpunkt der Kirchencantate, bei welcher die Begebenheiten des Evangeliums als bekannt vorausgesetzt und die daher gewonnenen Anregungen nach rein musikalischen oder sonstigen Rücksichten ausgenutzt werden.

Nach der Beschaffenheit des Stoffes muß man das Weihnachts-Oratorium in drei Abschnitte zerlegen. Die Erzählung von der Geburt und deren Verkündigung, die eigentliche Weihnachtsgeschichte, wird in den ersten drei Theilen behandelt. Der vierte gilt dem Namenstage Jesu, der fünfte und sechste den Drei Königen. Bach hat das ganze Werk in kenntlicher Weise dadurch zu einer Einheit zusammengeschlossen, daß er den ersten Choral des ersten Theiles am Schluß des letzten in der Form einer glänzenden und festlichen Choralfantasie wiederkehren läßt. Übrigens haben die Abschnitte doch ihren besonderen Charakter. In den ersten drei Theilen waltet die Weihnachtsstimmung am intensivsten. Dies wird zu einem erheblichen Theile durch die Choräle bewirkt, die weit zahlreicher eingestreut sind als in den letzten drei Theilen und fast alle sich als die bekanntesten Weihnachtslieder darstellen. Die Melodie »Gelobet seist du, Jesu Christ« kommt zweimal vor, »Vom Himmel hoch« dreimal, »Fröhlich soll mein Herze springen« und »Wir Christenleut« je einmal; außerdem noch das Adventslied »Wie soll ich dich empfangen«, mit der Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden« tiefsinnig vermählt, und die neunte Strophe von »Ermuntre dich, mein schwacher Geist«.23 Die Mehrzahl ist einfach vierstimmig gesetzt, aber mit sinnreicher Verwendung der Kirchentonarten. Die Melodie [413] »O Haupt voll Blut und Wunden« hat Bach phrygisch harmonisirt und hierdurch jeden Zweifel über die Absicht ihrer Einführung ausgeschlossen. Wenn im zweiten Theil die Melodie »Vom Himmel hoch« mit der achten Strophe des Gerhardtschen Liedes »Schaut, schaut, was ist für Wunder das?« auftritt, zeigen ihre Harmonien mixolydische Anklänge und der letzten Strophe des Liedes »Fröhlich soll mein Herze springen«, welche als vorletzter Choralsatz des dritten Theiles zu einer theilweise gewiß von Bach selbst herstammenden Umbildung der Melodie »Warum sollt ich mich denn grämen« gesungen wird, ist das mixolydische Gepräge in deutlichst erkennbarer Weise gegeben. Beide Male aber zeigt sich der Charakter demüthiger Innigkeit, welchen die Choräle durch diese Behandlung erhalten, durch den Zusammenhang aufs schönste bedingt und ist von tiefer Wirkung.24 Im Gegensatze zu der Matthäus-Passion kommt indessen einmal im Weihnachts-Oratorium auch ein einstimmiger Choralgesang vor. Als der Evangelist erzählt hat: »Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge« entwickeln zwei Oboen mit den Bässen und der Orgel ein reizendes Tonbild zärtlicher, schüchterner Innigkeit, in welches der Sopran die sechste Strophe von »Gelobet seist du, Jesu Christ« still hineinfügt, während zwischen die einzelnen Zeilen recitativische Betrachtungen des Basses treten.25 Choralsätze wie man sie sonst bei Bach nicht zu finden pflegt schließen den ersten und zweiten Theil. Die Choräle treten auch hier im einfach vierstimmigen Satze auf, aber mit Zwischen- und Nachspielen der Instrumente, welche auf Motiven oder doch Anklängen des ersten Stücks des jedesmaligen Theiles beruhen. Dort ist es die dreizehnte Strophe des Liedes »Vom Himmel hoch«, hier die zweite Strophe des Gerhardtschen Gedichts »Wir singen dir, Immanuel« zu welcher aber nicht die ursprüngliche Melodie »Erschienen ist der herrlich Tag« benutzt ist, sondern ebenfalls die Melodie »Vom Himmel hoch«: um den Text anzupassen mußte [414] Bach das abschließende »Hallelujah« weglassen. Die Absicht, Anfang und Ende auch musikalisch auf einander zu beziehen, tritt auch im dritten Theil zu Tage; hier bildet nicht ein Choral das Ende, sondern der Anfangschor wird – ein bei Bach seltener Fall – wiederholt. Der fünfte und sechste Theil, der Geschichte von den heiligen drei Königen gewidmet, steht an musikalischem Werthe hinter den ersten drei Theilen nicht zurück. Die lyrischen Chöre sind kunst- und schwungvoll. Unter den Sologesängen ist ein Terzett im dramatischen Stil (»Ach, wann wird die Zeit erscheinen«), und ein vierstimmiges fugirtes Recitativ (»Was will der Hölle Schrecken nun«) von hervorragender Bedeutung. Dagegen hat es Bach unterlassen, die zu Grunde liegende Begebenheit in der Weise seiner Passionen gründlich auszunutzen. Der cantatenhafte Charakter tritt mehr noch, als in den ersten drei Theilen hervor. Auch liegt das eigenthümlich Weihnachtliche mehr nur in der allgemeinen Haltung der Musik, als in den Chorälen. Die beiden hauptsächlichen Weihnachts-Lieder der Leipziger Gemeinde »Vom Himmel hoch« und »Gelobet seist du, Jesu Christ«26 kommen nicht wieder vor. Unter vier Chorälen ist überhaupt nur einer (Gerhardts »Ich steh an deiner Krippen hier«) ein wirkliches Weihnachtslied, einer (»Dein Glanz all Finsterniß verzehrt«) ein Epiphanias-Gesang, die andern beiden sind ohne bestimmt ausgeprägten festlichen Text und auch ihre Melodien (»Gott des Himmels und der Erden« und »O Haupt voll Blut und Wunden«) keine Weihnachtsmelodien. In dem Epiphanias-Gesange hat es Bach für zweckdienlich gehalten, den Text, in dem Choral »Zwar ist solche Herzensstube« die Melodie etwas abzuändern.27 Am wenigsten vom Charakter einer kirchlichen Festmusik besitzt der vierte Theil. Der biblische Kern besteht nur aus einem einzigen Verse des Lucas-Evangeliums (2, 21), welcher von der Beschneidung und Namengebung Jesu berichtet. Aus ihm unmittelbar ließ sich nicht viel Stoff gewinnen. Aber auch auf die Vermittlung der Liturgie [415] hat Bach fast verzichtet. Kein Weihnachtslied, ja überhaupt kein wirklicher Choral kommt vor. Allerdings sind dem Texte zwei Strophen Ristscher Kirchenlieder eingefügt: die fünfzehnte Strophe des Liedes »Hilf, Herr Jesu, laß gelingen« als Schlußgesang in derselben Form, welche die ersten beiden Theile an dieser Stelle haben; die erste Strophe des Liedes »Jesu du mein liebstes Leben« als ein in zwei selbständige Sätze zerschnittenes Sopranarioso mit contrapunctirendem Bass-Recitativ.28 Beide Male hat Bach aber nicht die gebräuchlichen Kirchenmelodien, sondern andere, arienhaften Charakters, benutzt, die man, da sie sonst nirgends vorkommen, längst und mit Grund für Bachs eigne Erfindungen hält.29 Dieser Theil trägt daher mehr nur das Gepräge einer religiösen Composition, er ist von hoher Anmuth und Lieblichkeit, muß aber eine bestimmte kirchliche Haltung erst durch seine Stellung im Zusammenhange des ganzen Werkes empfangen. Ich habe schon mehre Male darauf hinzuweisen gehabt, daß Bach in der mittleren Leipziger Periode die Neigung zeigt, seine Kirchenmusik in eine Art religiöser Hausmusik hinüber zu leiten, oder, wie man zuweilen auch umgekehrt sagen kann, die von ihm geübte und geliebte geistliche Hausmusik zur Höhe kirchlichen Stiles zu erheben.30 Der vierte Theil des Weihnachts-Oratoriums ist ein neues Zeugniß für diese Tendenz. Ein Zug, durch welchen sie auch im Einzelnen hervortritt, ist trotz seiner Unscheinbarkeit bemerkenswerth. In der Strophe des Schlußgesanges beginnt Rist sämmtliche Zeilen mit demjenigen Namen, den zu feiern der Tag bestimmt ist: »Jesu, richte mein Beginnen, Jesu, bleibe stets bei mir« u.s.w. Bach ändert »Jesu« in »Jesus«. Rist redet den Heiland betend an, Bach spricht einen frommen Wunsch aus und geht erst in der letzten Zeile ebenfalls zum Gebet über. Man sieht, es ist dasselbe Verfahren wie in der Umdichtung der früher besprochenen Cantate »Ich bin vergnügt«31. Spuren eines freieren Schaltens mit kirchlichem Gut, worin eben bei Bach die Hinneigung zu einer häuslich-erbaulichen Empfindung merkbar wird, [416] finden sich übrigens im Weihnachts-Oratorium auch sonst: absichtlich habe ich deshalb auf die kleinen oder größeren Freiheiten aufmerksam gemacht, die er sich bei den Choralsätzen »Ich will dich mit Fleiß bewahren«, »Wir singen dir mit deinem Heer«, »Dein Glanz all Finsterniß verzehrt« und »Zwar ist solche Herzensstube« erlaubt hat. Ob aber Bach einem andern als dem eigenthümlich beschaffenen vierten Theile ein Stück hätte einfügen mögen, wie die Sopranarie »Flößt mein Heiland« mit dem doppelten Echo einer zweiten Sopranstimme und einer Oboe, darf man bezweifeln. Zwar hat, wenn irgend, am Weihnachtsfest die kindliche Naivetät ihr Recht, und es ist rührend zu sehen, wie der ernste, gedankenvolle Meister sich so ganz von dieser Festempfindung hinnehmen läßt, daß er einer solchen Spielerei in seinem Werke Platz gönnt. Auch hat er das Echo nicht in seiner natürlichen Erscheinung einfach copirt, sondern es in freierer Weise als Kunstmotiv aufgefaßt. Er wechselt nicht nur zwischen dem Echo der Singstimme, das auch die Worte wiedergiebt, und dem der Oboe, welches nur tönt, also zwischen dem näheren und ferneren Widerhall, sondern er läßt sie auch die Rollen tauschen, so daß diese zuerst, jene hernach antwortet, ja an den Hauptschlüssen verstummt die Hauptstimme und das Echo redet unaufgefordert. Aber dennoch hat die Composition einen traulich gemüthvollen Zug, ähnlich der durch eine Campanella begleiteten Arie »Schlage doch, gewünschte Stunde«32, und gehört deshalb mehr in die Hausandacht. Befremden könnte die Idee des Echos auch wohl außerdem noch erregen. Mit einem Widerhall unterhält man sich im Freien, aber an welchem Orte sollen wir uns die in der Arie beschlossene Unterhaltung mit Jesus vorstellen? Anfänglich stand die Arie in der Gelegenheitscantate zum Geburtstage des Churprinzen. Dieses Drama per musica behandelt die Erzählung von Hercules am Scheidewege. Nachdem Wollust und Tugend ihre Überredung begonnen haben, singt Hercules, der einstweilen noch nicht weiß, was er thun soll:


Treues Echo dieser Orten,

Sollt ich bei den Schmeichelworten

[417] Süßer Leitung irrig sein?

Gieb mir doch zur Antwort: Nein!

Echo: Nein!


Oder sollte das Ermahnen,

Das so mancher Arbeit nah,

Mir die Wege besser bahnen?

Ach so sage lieber Ja!

Echo: Ja!


Hier ist die Situation eine solche, daß an das Vorhandensein eines Echo gedacht werden kann. Hätte Bach die Arie nur um ihrer anmuthigen Musik willen in das Weihnachts-Oratorium übertragen und dabei aus der sie bedingenden Scenerie herausgelöst, so wäre das unzweifelhaft eine Geschmacklosigkeit gewesen. Er hat dieselbe aber nicht begangen. Die Person der Kirchenarie ist die Braut des Hohenliedes, welche herausgegangen ist ihren Geliebten zu suchen. Um sich über die Richtigkeit dieser Deutung zu vergewissern, muß man auf den Ursprung solcher Echo-Gedichte zurückgehen. Er findet sich in Friedrich Spees »Trutz Nachtigall«. In einem der lieblichsten Gedichte dieser Sammlung »spielet die Gespons Jesu im Wald mit einer Echo oder Widerschall«:33


Der schöne Frühling schon begunnt,

Es war im halben Märzen,

Da seufzet ich von Seelengrund,

Der Brand mir schlug vom Herzen.

Ich Jesum rief

Aus Herzen tief,

Ach Jesu! thät ich klagen:

Da hört ich bald

Auch aus dem Wald

Ach Jesu! deutlich sagen.


Durch eine Menge von Ausrufen und Fragen wird dieses Spiel in anmuthigster Weise durchgeführt, bis es dann endlich heißt:


Wohlan, wohlan, o Widerschall,

Weil einmal dich hab funden,

Ich spielen will mit dir im Ball

Hinfürder manche Stunden.

[418] Der Ball, so dir

Dann kommt von mir,

Soll heißen JESUS Name,

Der Ball, so du

Sollt schlagen zu,

Soll sein auch JESUS Name.


Die Echo-Spielerei wurde alsdann unter den Dichtern beliebt. Auch Franck hat das Motiv mehrmals benutzt; in einem »Geistlichen Echo mit der girrenden Turteltaube«34 ist die Anlehnung an Spee augenscheinlich. Was oben von den Bestandtheilen der weltlichen Cantaten Bachs gesagt wurde, daß sie durch Übertragung ins geistliche Gebiet ihrer eigentlichen Heimath zurückgegeben seien, bewahrheitet sich an der Echo-Arie des Weihnachts-Oratoriums auch noch in andrer Weise: die Quelle für derartige Gebilde fließt auf dem Gebiete geistlicher Poesie. Daß Bach und wer den Text der Arie zu einem geistlichen parodirte Spees Gedicht gekannt und sich mit Bewußtsein an dasselbe angeschlossen haben, halte ich für wahrscheinlich, schon deshalb, weil es auf eine Verherrlichung des Namens Jesu hinausführt und um diesen eben sich der vierte Theil des Weihnachts-Oratoriums bewegt. Sicherlich bildet zu ihm die Bachsche Composition ein ebenbürtiges Gegenstück. –

Am Osterfeste hatten in der protestantischen Kirche die dramatisirten Evangelienlectionen, wenngleich sie viel weniger allgemein geworden waren als in der Passionszeit, doch einen bescheidenen Platz von Alters her gehabt. Dies erklärt sich daraus, daß das Osterevangelium die unmittelbare Fortsetzung der Passionsgeschichte bildet. Wir besitzen Oster-Compositionen in dem Stil der älteren Passionen von den Dresdener Capellmeistern Scandelli und Schütz, auch in Vopelius' Leipziger Gesangbuch von 1681 befindet sich eine solche, die also um jene Zeit in Leipzig noch gesungen sein muß, aber um ein bedeutendes früher entstanden ist. Der Text ist harmonistisch, die musikalische Behandlung bemerkenswerth, indem der Evangelist nicht durch einen Tenor, sondern einen Bariton dargestellt wird und die Reden der einzelnen Personen mehrstimmig sind: [419] Christus singt vierstimmig die übrigen zweistimmig.35 Aber schon zu Kuhnaus Zeit war diese Osterlection nicht mehr im Gebrauch, ebensowenig ist zusagen an welcher Stelle des Gottesdienstes man sie eingefügt gehabt hatte. Dagegen entwickelte sich in dem sogenannten geistlichen Concert des 17. Jahrhunderts eine Form, welche durch Ausscheidung aller erzählenden Partien sich der musikalisch-dramatischen Scene näherte. Schütz und Hammerschmidt haben diese Form erfolgreich gepflegt. Von Hammerschmidt giebt es ein kleines Osterdrama, Dialogus betitelt, welches aus Worten der Evangelisten zusammengestellt ist und die Hauptmomente der Auferstehungsgeschichte vorführt.36 Maria Magdalena, Maria Jacobi und Salome (Marc. 16, 1) sind zum Grabe Christi gekommen, um den Leichnam zu salben. Nach einer Einleitungssinfonie beginnt ihr dreistimmiger Gesang: »Wer wälzet uns den Stein von des Grabes Thür, denn er ist sehr groß?« Darauf die zwei Männer in glänzenden Kleidern: »Was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Er ist auferstanden und ist nicht hier« (Luc. 24, 5 und 6). Die Frauen klagen: »Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grabe, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben« (Joh. 20, 2). Die Antwort giebt ein Chor mit dem Oster-Hymnus: Surrexit Christus hodie Humano pro solamine. Alleluja. Dies ist gleichsam die erste Scene; die andere spielt zwischen Maria Magdalena und Christus (Joh. 20, 13 und 15–17). Sie klagt und bittet nun allein: »Sie haben meinen Herren weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingeleget haben. Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mirs, wo hast du ihn hingeleget, so will ich ihn suchen«. Der auferstandene Jesus gesellt zu diesen Worten seine Fragen: »Weib, was weinest du? wen suchest du?«, und singt dann langsam und bedeutungsvoll: »Maria!« Nun erkennt sie ihn und bricht in den Ausruf »Rabbuni« aus, den sie viele Male wiederholt, während er ihr den Auftrag giebt, den Jüngern seine Auferstehung und bevorstehende Himmelfahrt zu verkünden. Mit dem wiederkehrenden Chore Surrexit Christus schließt das kleine Werk. Es gehört zu der Zahl derjenigen, mit welchen sich in[420] Deutschland das Oratorium vorbildete. Obgleich zuverlässig für den kirchlichen Gebrauch geschrieben, hat es doch kaum etwas speciell kirchliches in sich; das Surrexit ist nicht mit der ihm eignen, sondern einer neugeschaffenen Weise eingeführt, also mehr nur als geeigneter Text aufgefaßt, wie solches Hammerschmidt und Schütz häufig thun; bedeutsame Polyphonie wird nirgends bemerkbar, abgerundete Melodien ebenfalls nicht, wohl aber mancherlei scharfe, dramatische Accente. Dieses Stück ist in manchem Betracht dem Bachschen Oster-Oratorium nahe verwandt. Auch in diesem fehlen die erzählenden Zwischenglieder, nur die Personen Maria Jacobi, Maria Magdalena, Petrus und Johannes treten selbstredend auf. Choral fehlt ebenfalls, und was der Chor zu singen hat, ist mit Bachschem Maße gemessen von auffallender Simplicität. Aber der Text besteht nicht aus Bibelworten sondern nur aus madrigalischer Dichtung. Der Zuschnitt des ganzen Werks nach italiänischer Art ist in die Augen springend. Auf den Titel »Oratorium« – freilich nicht im Händelschen Sinne – hat unter allen Bachschen Compositionen diese das größeste Anrecht.

Der Text, dessen Verfasser wir nicht kennen, ist dürftig. Das Schönste und Bedeutungsvollste des Auferstehungsberichts, alles das was wir als Inhalt des Hammerschmidtschen Dialogus eben mitgetheilt haben, hat in ihm keine Verwendung gefunden. Er beginnt mit einem Duett des Petrus und Johannes, die durch die Frauen von Christi Auferstehung in Kenntniß gesetzt sind und nun voll Freude zum Grabe laufen um sich selbst zu überzeugen (nach Joh. 20, 3 und 4). Dort machen ihnen Maria Jacobi und Maria Magdalena Vorwürfe, daß nicht auch sie den Leichnam hätten salben wollen, um dadurch ihrer Liebe zum Heilande Ausdruck zu geben. Die Männer entschuldigen sich: ihre Salbung habe in »gesalzenen Thränen und wehmuthsvollem Sehnen« bestanden. Beides, erklären die Frauen, sei nun glücklicherweise unnöthig. Darauf singt Maria Jacobi:


Seele, deine Specereien

Sollen nicht mehr Myrrhen sein,

Denn allein

Sich mit Lorbeerkränzen schmücken

Schicket sich für dein Erquicken.37


[421] Sie betrachten die leere Gruft. Johannes fragt, wo der Heiland sein möge, worauf Maria Magdalena etwas sagt, was die Männer längst wissen:


Er ist vom Tode auferweckt.

Wir trafen einen Engel an,

Der hat uns solches kund gethan.


Petrus richtet seine Aufmerksamkeit auf das Schweißtuch (nach Joh. 20, 7) und knüpft daran unter Erinnerung an die bitteren Thränen, die er wegen seiner Verleugnung Jesu geweint hat, eine geschmacklose Betrachtung. Dann äußern die Frauen ihre Sehnsucht, Jesus baldigst selbst zu sehen. Johannes freut sich, daß der Heiland wieder lebt; Schlußchor:


Preis und Dank

Bleibe Herr dein Lobgesang.

Höll und Teufel sind bezwungen,

Ihre Pforten sind zerstört,

Jauchzet, ihr erlösten Zungen,

Daß man es im Himmel hört.

Eröffnet, ihr Himmel, die prächtigen Bogen,

Der Löwe von Juda kommt siegend gezogen.


Daß Bach sich einen solchen Text gefallen ließ, erregt Befremden. Die Passionsgeschichte hatte er in monumentalen Werken verkörpert, er wußte daß die »Auferstehung« in altkirchlicher Weise früher in Leipzig gesungen war, denn er kannte und benutzte Vopelius' Gesangbuch.38 Man sollte meinen, dies wäre Grund genug für ihn gewesen, auch seinerseits die Auferstehungsgeschichte nach den Worten der Evangelisten in entsprechender, würdiger Weise zu behandeln. Ein Jugendwerk liegt nicht vor, die Formen zeigen den vollgereiften Meister, es läßt sich auch aus den Handschriften erkennen, daß das Werk etwa um 1736 componirt sein muß.39 Ich finde nur in der Ordnung des Leipziger Gottesdienstes eine Erklärung. Für ein umfassendes Werk im Stile der Johannes- und Matthäuspassion ließ er keinen Raum. In der Vesper wurde das Magnificat aufgeführt, des Vormittags war nur zur einer Musik im Umfang einer Cantate Zeit, die auch nicht zweitheilig sein durfte, [422] da nach der Predigt immer noch das Sanctus musicirt werden mußte. Augenscheinlich wollte Bach, der Weihnachts-, Passions- und Himmelfahrts-Mysterien schrieb, das Osterfest nicht übergehen. Da er den evangelischen Bericht in der Ausdehnung wie es ihm wünschenswerth erschienen sein wird und wie er bei Vopelius behandelt ist, nicht componiren konnte, mag er, statt ein Fragment daraus zu nehmen, die Form eines italiänischen Oratoriums vorgezogen haben, an welche man von vom herein mit andern Ansprüchen herantrat.

In den Osterspielen war der Wettlauf des Petrus und Johannes zum Grabe, von dem im Johannes-Evangelium 20, 4 berichtet wird, ein mit Behagen ausgeführtes Moment; Petrus tritt in dieser Situation als der schwächere, unbedeutendere auf. Ich halte es nicht für zufällig, daß Bachs Werk mit einem weit ausgesponnenen Duett der zum Grabe laufenden Jünger beginnt, auch nicht für zufällig, daß dem Petrus der Tenor und dem Johannes der Bass zuertheilt ist, während doch in der Johannes- und Matthäuspassion Petrus Bass singt. Die volksthümliche Anschauung, durch welche diese hauptsächlichste Handlung des Werkes getragen wird, hat Bach später dadurch etwas verdunkelt, daß er das Duett zum vierstimmigen Chor umarbeitete; der Vorgang an sich erlaubt freilich zu denken, daß mit den beiden Jüngern und den beiden Marien auch noch andre Anhänger Jesu zum Grabe eilen.40 Was die Kirchlichkeit des Bibelwort und Choral verschmähenden Textes anbelangt, so beruht sie freilich nur darauf, daß er sich mit einem für die Kirche sehr bedeutungsvollen Ereignisse beschäftigt. Hier mußte Bachs Musik das meiste und beste hinzuthun. Großartigkeit und Tiefsinn, wie in der Cantate »Christ lag in Todesbanden«, oder auch nur jenen schwungvollen Frühlingsjubel der weimarischen Cantate »Der Himmel lacht« darf man natürlich nicht erwarten, da hierzu im Texte alle und jede Veranlassung fehlte. Bach hat dem Ganzen einen jugendlich fröhlichen Charakter zugeeignet, wie ihn etwa die Worte [423] »Lachen und Scherzen Begleitet die Herzen Denn unser Heil ist auferweckt« an die Hand gaben. Eine Sinfonie aus zwei Instrumentalsätzen bestehend, bietet mit dem ersten Gesangstücke zusammen die complete Form eines Instrumentalconcerts dar. Unter den Arien zeichnet sich die des Petrus aus, ein mild wiegender Schlummergesang, wie sie Bach gern schrieb. Merkwürdiger Weise stimmt ihr Hauptgedanke mit dem Anfange des Schlußgesanges der Caffee-Cantate überein, die Bach gegen 1732 componirte. Für die heitere Grundstimmung, in welcher er das Oster-Oratorium verfaßte, dürfte dieses immerhin bezeichnend sein. Der Schlußchor, frei in der Form der französischen Ouvertüre gehalten, fesselt durch seinen breiten und prächtigen ersten Theil; hiernach ist das Fugato von einer befremdlichen Kürze und vermag eine tiefere Wirkung nicht hervorzubringen.41

Im Himmelfahrts-Oratorium ist dagegen Bach der altliturgischen Form treu geblieben. Der geschichtliche Stoff war hier von so geringem Umfange, daß er sich in den knappen Rahmen, den die Ordnung des Gottesdienstes am Himmelfahrtstage gewährte, bequem einfügen ließ. Die biblische Erzählung ist nach Luc. 24, 50–52, Apostelgeschichte 1, 9–12 und Marc. 16, 19 harmonistisch zusammengesetzt. Die feststehenden Gemeindelieder »Nun freut euch, lieben Christen g'mein« und »Christ fuhr gen Himmel«42 hat Bach nicht benutzt; nachdem Christi Himmelfahrt erzählt ist, tritt die vierte Strophe des Ristschen Liedes »Du Lebensfürst, Herr Jesu Christ« ein, und am Schlusse die letzte Strophe von Sacers »Gott fähret auf gen Himmel«. Wer die madrigalischen Texte: einen Chor, zwei Recitative, zwei Arien, gemacht hat, ist unbekannt. Auch über die Zeit der Entstehung des Werkes läßt sich genaues nicht sagen. Der Stil zeigt den Meister in seiner vollsten Reife, man darf also annehmen daß das Himmelfahrts-Oratorium mit denen für Weihnachten und Ostern zusammen in die dreißiger Jahre des Jahrhunderts fällt.43 Ähnlich wie im Weihnachts-Oratorium steht [424] am Anfang ein madrigalischer Chor in italiänischer Arienform, am Ende eine Choralfantasie. Der Anfangschor, welcher auch hier eine Übertragung aus einer Gelegenheitsmusik sein dürfte44, ist in seiner Verbindung von liedhaft einfachem und polyphon complicirtem Stil ein Musterstück: ununterbrochen strömen in der Oberstimme die jubelnden Melodien in übersichtlichster Periodisirung dahin, und doch entfalten die tieferen Stimmen das reichste selbständige Leben. An den madrigalischen Sologesängen fällt es auf, daß sie nicht kirchlich betrachtend sondern dramatisch gedacht sind. In der Altarie und dem vorhergehenden Bassrecitativ wird Jesus gebeten, noch nicht aus dem Kreise der Seinigen zu scheiden, in der Sopranarie tröstet man sich damit, daß Jesus, obgleich gen Himmel aufgefahren, den Seinigen doch geistig nahe bleibe. In der Matthäus-Passion machte sich an einer einzigen Stelle nur (»Gebt mir meinen Jesum wieder«) dieselbe Anschauung geltend und erschien dort nicht ganz gerechtfertigt. Die Arien des Weihnachtsoratoriums »Frohe Hirten eilt, ach eilet« und »Schlafe, mein Liebster« hatten in volksthümlichen Bräuchen ihren Grund. Eine dramatische Erweiterung des einfachen evangelischen Berichts im Sinne der geistlichen Spiele muß man auch in diesen Sologesängen des Himmelfahrts-Oratoriums erkennen. Wirklich findet sich eine solche Erweiterung in einem mittelalterlichen Himmelfahrtsspiele, wo erst Petrus (vrgl. das Bassrecitativ bei Bach) und dann Maria die Mutter Jesu (vrgl. die Altarie bei Bach) über den Abschied des Erlösers klagen.45 Beide Arien sind von herrlichem Wohlklang gesättigt; mit ergreifender Inbrunst redet die erste, eine zauberisch-lichte Verklärtheit athmet die zweite. In dem zwischen dieser und dem ersten Choral bestehenden Gegensatze offenbart sich Bach wieder als poesievoller Colorist. Der Choral »Nun lieget alles unter dir« bewegt sich in möglichst tiefer Tonlage, die Arie, welche der Bassinstrumente entbehrend nur von Flöten, Oboe, Violinen und Bratschen begleitet [425] wird, schwebt hoch im lichten Raum – dort das Bild der zurückbleibenden Erdenkinder. hier die verklärte Gestalt des aufschwebenden Gottessohnes.

Fußnoten

1 »Rudolphstädtischer | Christ Abend, | Das ist, | Die Hocherfreuliche Geschicht | der | Menschwerdung und Geburt | unsers HErrn und Heylandes | JESU CHristi, | aus | denen Evangelisten Matthäo und Luca | zusammengetragen | und mit dienlichen Liedern | untermenget, | Wie solche in der Christlichen Fest- Vor-|bereitungs-Versammlung, | in der Hochgräfl. Schwartzb. Hof Kappelle | zu Rudolphstadt, | musicirt wird. | Rudolphstadt, | Druckts daselbst Heinrich Urban. | Im Jahr 1698.|« 4. Auf der fürstlichen Ministerialbibliothek zu Sondershausen. Aus dem Titel geht hervor, daß es sich nicht um eine einzelne Aufführung, sondern um eine Sitte handelt.


2 »Die Hocherfreuliche Geschicht | der | Himmelfahrt Christi | und | Sendung des heiligen | Geistes, | Aus denen Heil, Evangelisten | zusammen getragen | Und mit zur Application diensamen | Arien und Liedern | durchzogen, | Wie solche | in der Hochgräfl. Schwartzb. Rudolph-|städtischen Hof Cappelle | Die heilige Fest Zeit über, | Zu unterschiedenen Malen |musiciret wird. | Rudolphstadt, | Druckts Johann Rudolph Löwe, | Im Jahre 1690.|« 4. Auf der fürstlichen Ministerialbibliothek zu Sondershausen.


3 1589 aus dem Brandenburgischen überliefert; s. Schöberlein, II, S. 52.f. Respondirend mit dem verdeutschten Hymnus Nunc angelorum gloria noch im Arnstädter Gesangbuch von 1745, S. 22 f.


4 Vopelius, Neu Leipziger Gesang-Buch. 1681. S. 44 ff.


5 B.-G. V2 ist es veröffentlicht.


6 S. S. 107 dieses Bandes. Daß man dann auch noch zu Mariä Reinigung (2. Febr.) die Weihnachtslieder sang, ist als letzter Rückblick auf die Christzeit zu verstehen.


7 Da das Weihnachts-Oratorium für ein Kirchenjahr componirt war, in dem der Sonntag nach Weihnachten ausfiel und der Sonntag nach Neujahr vorkam, so konnte es in der Folgezeit, so lange Bach lebte, auch nur in solchen Kirchenjahren vollständig wieder aufgeführt werden, wo dieses ebenfalls geschah, also in den drei Jahren 1739–40, 1744–45, 1745–46.


8 Keine Übertragung ist zuverlässig die Alt-Arie des dritten Theils. Sie kennzeichnet sich im Autograph schon durch die Menge der Correcturen als Originalconception; daß es in Bachs Absicht lag an dieser Stelle etwas ganz neues zu bringen sieht man außerdem aus einem der Arie vorhergehenden Entwurf einer andern Arie in H moll (3/8 Takt), der aber fragmentarisch blieb und hernach von Bach durchstrichen wurde. Auch der Anfangschor des fünften Theils »Ehre sei dir Gott gesungen« hat im Autograph nicht das Aussehen einer Übertragung. Sonst vrgl. Rusts Vorwort zu B.-G V2.


9 Der nähere Nachweis unten, wo von den Gelegenheits-Cantaten im gesammten gehandelt wird.


10 Obgleich ihr Text nicht, wie doch der andere, in Picanders Gedichten steht. Bach selbst für den Dichter zu halten verbietet der Stil.


11 Auf diese Anlehnung hat schon Winterfeld, Ev. K. III, S. 344 hingewiesen.


12 S. S. 229 dieses Bandes.


13 Vgl. S. 140 dieses Bandes.


14 Band I, S. 560.


15 Der Vorläufer dieser wunderschönen Composition findet sich in der weimarischen Cantate »Tritt auf die Glaubensbahn«; s. Band I, S. 554.


16 Anklang an Luthers


»Das rechte Susannine schon

Mit Herzens Lust den süßen Ton.«


17 Weinhold, Weihnacht-Spiele und Lieder. S. 119 und 434.


18 In dem Weihnachts-Hymnus »O quam dignis celebranda« heißt es:


Tres adorant reges unum, triplex est oblatio,

Aurum primo, thus secundo, myrrham dante tertio,

Aurum regem, thus coelestem, mori notat unctio.


In deutscher Version in einem Liede des Andernacher Gesangbuches von 1608, mitgetheilt von F.M. Böhme, Altdeutsches Liederbuch (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1877) S. 640:


Als ein könig brachten Gold,

weihrauch daß er opfern solt

myrrhen daß er sterben wolt.


19 Winterfeld (Ev. K. III, S. 347) erhebt diesen Vorwurf und findet den Grund der Unangemessenheit darin, daß die Arie eine entlehnte sei. Seine Vermuthung wie Bach zu dieser Unangemessenheit gekommen sei, wird überflüssig, wenn mit obigen Bemerkungen das richtige getroffen ist.


20 Weinhold, a.a.O., S. 176.


21 B.-G. V2, S. 66.


22 B.-G. V2, S. 197.


23 B.-G. V2, S. 37 und 110, S. 47, 66 und 90, S, 124, S. 126, S. 36, S. 59. Daß die Strophe »Brich an, du schönes Morgenlicht« zu dem Ristschen Liede »Ermuntre dich, mein schwacher Geist« gehört, hat L. Erk bemerkt (Bachs mehrstimmige Choralgesänge. Erster Theil. S. 115. Nr. 27).


24 S. hierüber Winterfelds sinnige Auseinandersetzungen Ev. K. III, S. 348, 350 und 302 ff. Es verschlägt nichts, daß er zu dem ersten der beiden Gesänge einen falschen Text annahm.


25 Der Anfang des Textes derselben lautet übrigens: »Wer will die Liebe recht erhöhn«.


26 S. S. 106 f. dieses Bandes.


27 Ersterer ist die sechste Strophe von Arnschwangers »Nun liebe Seel, nun ist es Zeit«; das Original lautet: »Dein Glanz all Finsterniß verzehr, Die trübe Nacht in Lichtverkehr«. In letzterem mußte Bach die Schlußtöne der beiden letzten Zeilen des Abgesanges wiederholen, um Text und Musik zusammenzupassen.


28 B.-G. V2, S. 150 ff. und S. 158 f.


29 Seit Winterfeld; s. dessen E.K. III, S. 354 f.


30 S. S. 304 f. dieses Bandes; vergl. 270 ff. und 285 ff.


31 S. S. 274 f. dieses Bandes.


32 S. S. 305 dieses Bandes.


33 Trutz Nachtigal. Cöllen, 1649. S. 10 ff. – Die folgende Strophe ist die zweite, im ganzen zählt das Gedicht zwanzig Strophen.


34 Geist- und weltliche Poesien. Erster Theil. S. 80 f. Man vergl. Hoheslied Salomonis 2, 14: »Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme.«


35 Vopelius, S. 311–365. Über das muthmaßliche Alter dieser »Auferstehung« macht Mittheilungen Winterfeld Ev. K. II, S. 556.


36 Hammerschmidt, Musikalische Andachten. Freiberg 1646. Nr. 7.


37 So lautete der Text in seiner anfänglichen und verständlicheren Fassung.


38 S. S. 108 und 15 dieses Bandes.


39 S. Anhang A, Nr. 48.


40 Daraus daß Bach in den später geschriebenen Stimmen, welche diese Umarbeitung enthalten, und auch in der Partitur die Namen der vier Personen nicht anmerkte, sondern dieses nur in den älteren Stimmen gethan hat, darf man nicht schließen, er habe die dramatische Fiction nachher aufgegeben. Ohne sie sind das erste und zweite Recitativ absolut unverständlich.


41 Das Oster-Oratorium ist herausgegeben B.-G. XXI3.


42 S. S. 107 dieses Bandes.


43 Das Autograph zeigt die Züge von Bachs späterer Handschrift, giebt aber weiter keine Anhaltepunkte zur chronologischen Bestimmung. Herausgegeben ist das Werk B.-G. II, Nr. 11. Ich bemerke, daß die königl. Bibliothek zu Berlin auch eine autographe, bezifferte Orgelstimme aufbewahrt, welche bei der Herausgabe unbenutzt geblieben ist.


44 Ich schließe dies aus Takt 89–91 und 121–123 der Sopranstimme. Die Syncopen scheinen einem malerischen Zwecke haben dienen zu sollen, der dann durch die Parodirung des Textes undeutlich geworden ist.


45 Mone, Schauspiele des Mittelalters. Erster Band. S. 261 f.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880..
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