7.

[69] La Clemenza di Tito.

Opera seria in zwei Acten.


Metastasio's Gedicht war seiner ursprünglichen Form nach dem Rahmen und den Verhältnissen einer modernen Oper nur wenig entsprechend, indem es wenig Handlung durch drei Acte hindurch schleppte, und Nichts als eine Reihenfolge von Arien und Recitativen enthielt. Mozart sah die Nothwendigkeit ein, daß das Libretto umgearbeitet werden müsse, ehe er es componiren könne. Der Signor Marroli, Hofpoet des Kurfürsten von Sachsen, wurde mit dieser Arbeit beauftragt, welche er nach dem Gedanken und unter der unmittelbaren Leitung des Musikers ausführte. Man unterdrückte den zweiten Act als für die Handlung unnöthig; knüpfte den ersten an den dritten mit einigen Bruchstücken dessen an, der ausgemerzt worden war; und um die Einförmigkeit der auf einander folgenden Recitative und Arien zu unterbrechen, vereinigte man mehrere Scenen in dem Final-Quintette des ersten Actes, dem Hauptstücke des Werkes, welches wir Mozart zweifach verdanken, weil er es war, welcher den poetischen Stoff vorbereitete und die Partitur desselben schrieb. Mittelst dieser Abkürzung gewann die Fabel an Schnelligkeit und Interesse; die kreuzenden Partieen der vier Liebenden, welche sich stets [70] bei Metastasio vorfinden, wurden weniger schleppend, und was das Wesentlichste ist, man führte in das Libretto die Ensemble-Scenen ein, die immer so günstig für die Entwickelung der großen Effecte der Bühnenmusik sind. Allein obschon der Rahmen auf diese Weise sehr verengt worden war, so blieb er dennoch ziemlich weit, und Mozart hatte nur achtzehn Tage, um ihn auszufüllen. Seine immer mehr abnehmenden Kräfte machten es ihm klar, daß die Sache für ihn unmöglich wäre, wenn er es unternehmen wollte, das ganze Werk im Mozart'schen Style zu schreiben. Zwischen diese traurige Ueberzeugung und gebieterische Verpflichtungen eingeengt, sah er sich in die Alternative versetzt, entweder ein mittelmäßiges Ganzes zu liefern, oder die Zeit und die Kräfte, die ihm geblieben waren, für einige auserwählte Scenen aufzusparen, und den übrigen Theil des Geschäftes im laufenden Style der italienischen Musik abzufertigen. Die Wahl war nicht schwierig. Mozart schrieb con amore fünf oder sechs Piecen, welche Meisterwerke sind; bei den anderen Scenen, die er nur skizzirte, verwandte er verschwenderisch den Firniß des Zeitgeschmacks; und in Betracht des Drängens eines fast fabelhaften Termins beauftragte er Süß maier, die nicht obligaten Recitative zu schreiben, und behielt sich nur deren Durchsicht vor. Die Sage schreibt Süßmaier selbst die beiden Numern des ersten Actes, die Arie der Vitellia: Deh si piacer mi vuoi und das Duett des Sextus mit Annius: Deh prendi un dolce amplesso, zu.

Diese vorläufigen Bemerkungen schienen mir für Jemand, der die letzten dramatischen Arbeiten Mozart's richtig beurtheilen will, unumgänglich nothwendig. Sie erklären und rechtfertigen die Widersprüche, zu welchen die Clemenza di Tito Veranlassung gegeben hat, je nachdem die Kritiker das Werk im Ganzen oder in seinen Einzelnheiten in's Auge gefaßt haben. In ihrem [71] Ganzen ist sie unstreitig die wenigst vollkommene unter den sieben classischen Opern des Verfassers. Man hat bemerkt, daß im Allgemeinen die Instrumentation im Titus sehr arm im Vergleich mit den anderen Meisterwerken Mozart's erscheine, was sehr wahr ist, und man hat hinzugesetzt, um die augenscheinliche Schwäche der beiden Tenor-Arien zu entschuldigen (die des Titus), daß sie für einen Sänger ohne Stimmen geschrieben worden seien, was mir aber durchaus nicht erwiesen erscheint. Ich sehe im Gegen-theil, daß eine dieser Arien: se all' Impero amici Dei sehr schwierig zu singen ist, und daß alle drei für einen hohen Tenor geschrieben worden sind, folglich für einen Sänger, der Stimme und Mittel besitzen mußte. Die Kritik hat ferner die abgekürzten Dimensionen mehrerer Stücke hervorgehoben, wodurch sich eine ungestüme Ungeduld kundgebe, eine Arbeit zu beendigen, welche man nicht, so wie es sein sollte, an's Ziel führen kann. Diese Bemerkungen meiner Vorgänger werde ich durch folgende zu vervollständigen suchen.

Bis dahin hatte Mozart in seinem Kopfe ein System für sich befolgt, welches die richtige und sehr schwierige Mitte hinsichtlich dessen, was man die lyrisch-dramatische Wahrheit nennt, zwischen den Italienern und Gluck einhält. Obgleich er so viel als möglich die Interessen des Dramas mit denen der Ausführung in Einklang zu bringen suchte, so setzte er nichtsdestoweniger sein Interesse als Meister, oder den Werth und die Bedeutung der Musik an und für sich selbst über alles Andere. Weder Gluck noch die Italiener hätten damals die Intention eines Stückes begriffen, wie z.B. das Allegro des Sertetts in Don Juan. Diese richtige Mitte und diese Suprematie, welche den speciellen Interessen des Componisten eingeräumt gewesen war, finden sich nur noch in einer ganz kleinen Anzahl von Scenen in La Clemenza. [72] Die meisten Arien dieser Oper wurden nach den Kräften der Sänger gemessen, und zwar so, daß diese nicht thun, was sie sollten, sondern nur, was sie konnten. Was das Orchester anbelangt, so sehen wir dasselbe nur zu oft auf eine rein begleitende Harmonie beschränkt; die Gegensätze und Verbindungen der Figuren, welche die Instrumentation unseres Heros auszeichnen, finden sich selten darin. Dagegen trifft man in Titus zwei Arien mit obligaten oder concertirenden Stimmen, des Clarinetts und des Bassethorns. Diese Arten von Duetten zwischen dem Sänger und einem Instrumente bringen zuweilen großen Effect hervor, aber sie sind bei der Bühnenmusik von keiner Bedeutung, wenn nicht die obligate Orchesterstimme in einem klaren und directen Rapport mit der Situation steht, welche sie nur in Art einer Anspielung, einer formellen oder im Texte mit imbegriffener dramatischer Intention anzudeuten dient, und auf diese Weise sich den allgemeinen Regeln des Accompagnements anschließt. Dann aber wird das Instrumental-Solo nie mit der Stimme zum Duett, wie in der Arie des Sextus: Parto; sondern es entwickelt sich auf einer melodischen Anlage, welche jeden Gedanken an Concurrenz oder Nebenbuhlerschaft mit der Singstimme ausschließt. Dieser Art ist z.B. die Rolle, welche dem Clarinett in einer lieblichen Scene der Schweizerfamilie, der Viole in einer bewunderungswürdigen Romanze im Freischütz, und dem Violoncello in der Arie der Zerlina: batti, batti, angewiesen ist.

Das, was wir so eben bemerkt haben, will mit anderen Worten sagen, daß die in der Eile entworfenen und ausgeführten Theile des Werkes nichts Anderes als die musica seria des letzten Jahrhunderts sind, eine Musik, welche nicht die Gedanken des Libretto festknüpfte, sondern sie nur mit weichen Contouren umgab, und folglich ebensowohl auf etwas Anderes angewendet [73] und mit ebenso viel Vergnügen im Concert als im Theater gehört werden konnte. Aber der Musiker hat nicht allein mehrere wahrhaft tragische Scenen des Stückes geschwächt, sondern er ist sogar so weit gegangen, da angenehm und süßlich zu werden, wo er pathetisch und furchtbar hätte sein sollen; er hat sich bis zum formellen Widersinn hinreißen lassen. Eine so schwere Anschuldigung darf man nicht ohne Beweise machen. Die Arie des Sextus, an die man erinnert hat, liefert schon einen. Ich werde einen noch viel stärkern geben. Eben dieser Sextus wird vor Titus, seinen Freund, seinen Wohlthäter und seinen Richter geführt, den er hatte ermorden wollen. Der Schuldige spricht die furchtbaren Gewissensbisse aus, die ihn zerfleischen, und verlangt als letzte Gnade eine schnelle Hinrichtung. Es gibt sicher nichts weniger Zweideutiges, als eine Situation dieser Art. Nun, wenn Sextus, dessen Schwester der Kaiser im ersten Acte heirathen will, der mit so vieler kaiserlicher Gunst überhäufte Sextus seinem Herrn für di tante grazie (so viele Gnade) zu danken gehabt hätte, würde er wohl ein anderes Motiv gewählt haben, als: Tanto affanno soffre un cuore ne si muove di dolor? An was dachte aber Mozart, als er dasselbe wählte? Er dachte aller Wahrscheinlichkeit nach an die Signora Perini, eine gute Sängerin vielleicht, aber schlechte Schauspielerin, jedenfalls aber eine Frau, welcher die Rolle des Sextus bestimmt war. Auf Helden und tragische Verliebte, auf Verschwörer und Königsmörder, deren Partie im Contralt-Schlüssel geschrieben ist, sollten die Regeln der musikalischen Kritik nicht so streng angewendet werden, wenn es sich um dramatische Wahrheiten handelt, und so steht hier also Mozart außerhalb der Ursache.

Die Güte des Titus ist eigentlich im Grunde die Güte des Augustus, welche unter anderem Namen für die lyrische Scene [74] arrangirt worden war. Titus, Sextus und Vitellia entsprechen genau Augustus, Cinna und Aemilia. Es fehlen dem italienischen Gedichte nur die Schönheiten der französischen Tragödie, ohne welche die Aehnlichkeit vollständig wäre. Die Geschichte ist für die Musiker eine ziemlich unproductive Mine, eine Wahrheit, welche in der Theorie auf eine so überzeugende Art bewiesen und in der Praxis so vollkommen anerkannt ist, daß heut' zu Tage die Oper Nichts mehr mit der Geschichte zu thun haben will, oder höchstens Namen und Episoden von ihr entlehnt, wie es Walter Scott in seinen Romanen gehalten hat. Es ist in der That klar, daß Revolutionen, Eroberungen, Veränderungen der Dynastieen, Hofintriguen sich eben so wenig mit der musikalischen Kunst vertragen, als Ehrgeiz und politische Interessen, die Hebel dieser Ereignisse. Man hat überdieß noch das Unpassende hervorgehoben, die großen Männer der Geschichte singend auf der Scene einzuführen; das ist allerdings und zwar in hohem Grade der Fall; aber warum? Warum sollen eben diese Männer, ohne gegen die Vernunft anzustoßen, das Recht haben, in Hexametern und Jamben zu sprechen? Große Schriftsteller, welche Nichts von Musik verstanden, scheinen mir diese Frage nicht schlecht beantwortet zu haben. So behauptet unter Anderen Laharpe, daß der Sänger sich nie zu der Würde einer historischen Person erheben, noch sich mit derselben in der Einbildungskraft des Zuhörers indentificiren könne, weil seine Kunst stets an seinen Stand erinnere. Dagegen wäre kein Wort zu erinnern, wenn Alexander durch eine Frau und Cäsar durch einen Castraten, im Cabalettenstyl, mit vielen Rouladen und Fermaten ad libitum gesungen würde. Wenn man aber Sänger gehört hat, welche aus der Höhe ihrer Rolle stehen, so wird man zugeben, daß ein großer Tragöde, welcher die Musik wahrhaft tragisch singt, durchaus nicht mehr an seinen Stand [75] erinnert, und daß er eben so viele, ja sogar noch mehr Illusionen hervorbringt, als der große Tragöde, der die schönsten Tiraden declamirt. Nach unserer Ansicht dürften die hervorragenden Personen der Geschichte darum in Versen sprechen, weil den Heroen der Handlung und des Gedankens die Verse diese doppelte moralische Ueberlegenheit bewahren können. In der Musik tritt aber nicht derselbe Fall ein, und zwar aus dem Grunde, weil diese sich nicht direct an die Intelligenz und das Gedächtniß; der Zuhörer wendet, und folglich eben diese Männer nur in Gefühlshelden zu verwandeln vermag. Licinius, ein Triumphator in der Phantasie, erscheint in einigen Scenen der Vestalin erhaben. Das ist aus dem Grunde, weil wir keine andere reale Größe an ihm kennen, als die Macht seiner Liebe und die Majestät seines Zornes. Cäsar würde in denselben Scenen durchaus nicht an seiner Stelle zu sein scheinen.

Das Libretto der Clemenza entging übrigens den wesentlichen Inconvenienzen der historischen Gattung. Die Fabel und die Hauptpersonen (die leidenschaftlichen Personen darin) sind beinahe alle erfunden. Titus selbst nahm und konnte in der Musik nur einen untergeordneten Rang einnehmen. Er besitzt alle Tugenden, was ein großes Glück für sein Volk ist, und keine Leidenschaft, was kein Glück für unsern Maestro war.

Nachdem wir auf diese Weise die Kritik gehörig geübt haben, suchen wir, um billig zu sein, uns zu überzeugen, daß nach Idomeneo und Don Giovanni keine Oper unseres Verfassers so erhaben dramatische Schönheiten in sich schließt, als eben diese Clemenza di Tito, die von einem Kranken in achtzehn Tagen geschrieben wurde, und 26 Musiknumern enthält! Wir werden unsere Prüfung auf die Hauptstücke beschränken, welche für die schönsten Situationen componirt wurden, und auf die einzelnen Schönheiten, welche in den anderen weniger vollendeten Scenen zerstreut sich vorfinden.

[76] Die Reihe der Meisterwerke beginnt mit der Ouverture, deren Verwandtschaft wir an anderem Orte mit der von Idomeneo bereits anerkannt haben. Sie ist, wie diese letztere, aus einem Guß, ohne weitere Einleitung, heroisch von Anfang bis zu Ende, aber bei weitem besser durchgearbeitet, und von einem viel glänzendern und mehr modernen Heroismus, Allegro, C-dur4/4. Bald hört man die melodischen Töne des Triumphs, welche uns die combinirten Solo's der Blasinstrumente zutragen; bald ist es der Tumult des Kampfes, welchen die Tutti auf die hitzigste Weise unter sich führen. Mozart wollte an das große Bild Roms erinnern, als Besiegerin der Welt durch die Waffen und vielleicht auch an die kriegerischen Vorgänge des Titus Vespasianus, welcher der Besieger und die Geißel Iuda's war, ehe er den glorreichen Beinamen: Amor et deliciae humani generis verdiente. Die Schlacht ist in dem Mittelsatze enthalten, in welcher die Modulation Schlag auf Schlag rasch, heftig, unbestimmt, mit scharfen Dissonanzen vermischt, fällt, wie man es häufig in den Werken der instrumentalen Schule unserer Tage trifft. Hier verhält sich aber die Sache nicht ganz ebenso. Die gegenwärtigen Componisten moduliren zu häufig nur um des Vergnügens der Modulation willen; bei ihnen folgen sich die Accorde auf eine Weise, daß das Ohr darüber erstaunt und zuweilen davon verletzt wird, wie es die Neuerer des siebenzehnten Jahrhunderts thaten; sie folgen sich willkürlich in anarchischer Unordnung, ohne einem über ihnen stehenden Gesetze der Composition zu gehorchen, welches sie leitete. Mozart geht aber nie auf dieselbe Weise zu Werke, selbst wenn seine Modulation auf die rascheste und kühnste Weise wechselt. So fängt das Bruchstück, welches uns beschäftigt, mit dem Motiv der Ouverture in Es reproducirt an, und von da gelangen wir nach dreißig Tacten in E-dur durch [77] die dazwischen liegenden Tonarten. Warum scheint diese so rasch dahineilende Modulation dennoch den einzigen ihr zustehenden Gang zu befolgen? Weil das in kanonischer Form zwischen den Orchesterstimmen getheilte Thema mit einem Gegensubjecte kämpft, das stärker wie dasselbe ist, das ihm immer auf den Versen sitzt, das es von der Melodie in den Baß und vom Baß in die Melodie verfolgt, je nachdem der Flüchtling in dem einen oder in der andern eine Zufluchtsstätte gefunden hat. Gegen das Ende tritt noch eine dritte große und kriegerische Figur dazwischen, welche man bereits in der ersten Hälfte der Ouverture gehört hat. Das modulatorische Ungestüm und das außerordentliche Feuer, welche diese herrliche Composition des Mittelsatzes auszeichnet, erscheinen auf diese Weise als das Resultat einer eben so gewandten als glänzenden Combination dreier Themas, von denen zwei, voll Leidenschaftlichkeit und Feindseligkeit, das dritte tyrannisiren und es nöthigen, ganz ihrem despotischen Willen sich zu unterwerfen. Es liegt also hier ein hinreichender Grund vor, der nicht allein die hastigen Gänge der Modulation rechtfertigt, sondern einen hohen technischen Werth einem Werke verleiht, das ohne denselben durchaus keinen gehabt hätte.

Eine andere Beziehung, welche zwischen Idomeneo und Titus wahrgenommen werden kann, ist die, daß die Arien der beiden Opern (die der Elektra ausgenommen) alle einen italienischen Zuschnitt haben. In Idomeneo streben aber die Arien mehr nach dramatischem Ausdrucke und erreichen denselben häusiger. Dagegen sind die Arien in Titus von weit überlegenerem, idealem Ausdrucke; im Allgemeinen sind sie rein von veralteter Form und reproduciren Nichts als den wesentlichen Charakter der italienischen Musik, welcher dieselbe stets am Leben erhalten wird: Wohlklang, Lieblichkeit, Glanz, fester, anmuthiger und gewählter Gang, mit einem Worte – die vollkommene Singbarkeit dieser Musik.

[78] Die Vergleichung der Clemenza und der Zauberflöte, Werke, die sich durch die Daten berühren oder selbst vermischen, wie man in der Biographie gesehen hat, bietet Analogieen einer andern Art und von weit höherem Interesse. Wir erkennen sichtbar die Spuren derselben moralischen Einflüsse darin. Einige der ausgezeichnetsten Gesänge in Titus gehören ebenfalls der Kirche an, und der elegische Ton darin läßt ebenfalls jenen andern Seelenzustand erkennen, welcher auf die Stunden der mechanischen Exaltion folgte und einen ruhigen und inspirirten Blick über die Grenzen des irdischen Horizonts uns zu werfen erlaubte. Die merkwürdigen Anspielungen auf das damals so nahe Ende des Componisten fehlen in dem Libretto der Clemenza ebenfalls nicht, und es ist wohl nicht nöthig, hinzuzusetzen, daß diese Texte unter die gehören, welche Mozart mit der höchsten Inspiration und dem erhabensten Genie wiedergegeben hat. Wenn Sextus, welcher glaubt, den Gang zur Hinrichtung antreten zu müssen, von Vitella Abschied nimmt, hat ihm Metastasio Worte in den Mund gelegt, welche ich sehr wenig römisch, dagegen aber außerordentlich romantisch für einen kaiserlichen Poeta finde.


Se al volto mai ti senti

Lieve aura che s'aggiri

Gli estremi miei sospiri

Quell' alito sarà.


Ganz der Gedanke der »Abendempfindung«. Man kann sich denken, daß Mozart denselben gut wiedergegeben hat; er hat vergegenwärtigt, was der Dichter nur von der Zukunft voraussetzte. Die handelnde Person ist bereits nicht mehr auf dieser Welt. Ihre Stimme hat keine Thränen mehr; ihr von der Materie, von Leiden freies Wesen, von nun an ganz Harmonie und ganz Liebe, umschwebt gleich einem Abendlüftchen Diejenigen, welche weinend zurückgeblieben sind.

[79] Vitellia's Arie, Nr. 23, mit obligatem Bassethorn, die schönste des Werkes und auch eine der schönsten, die Mozart geschrieben hat, enthält eine Anspielung derselben Art. Diese Bemerkung wurde schon vor mir gemacht: non più di fiori vaghe catene etc. und dann:


Stretta fra barbare

Aspre ritorte

Veggo la morte

Ver' me avanzar.


Mozart sah ebenfalls das düstere Bild zwischen ihm und der Jahreszeit der Blumen sich erheben, welche nur auf seinem Grabe erblühen sollten. Es gibt wenige uns bekannte Gesangstücke, in welchen so viele edle musikalische Ideen sich vereinigt finden, als in dieser Arie, wenige, deren Charakter schwieriger zu erklären ist. Wenn sie Nichts als dramatisch wäre, so wär sie nur traurig und kurz, sie ist aber lang und hat zwei Tempi, weil der Componist die Worte in's Unendliche wiederholt und sie willkürlich vermischt nach den rhythmischen Convenienzen ihrer Perioden, nach italienischer Weise, was an und für sich ein ziemlich zerstörendes Verfahren des Dramas ist; mag, wer da will, Mozart einen Vorwurf darüber machen, daß er die Verse Metastasio's wie einen alten Fetzen zerrissen hat, wir vermögen es nicht. Die Arie ist so wundervoll schön, die Klage ist in dem freien Spiele der Phantasie des Musikers so köstlich begründet, der unausgesprochene Sinn des Motivs5 steht so hoch über dem der Worte, die Gänge des obligaten Instrumentes wiederholen in so sanftem Echo die Vocalsätze, indem sie dem Gedan ken mit so [80] vielem Zauber vorausgehen oder denselben commentiren, das Ganze athmet eine so erhabene ideale Größe, daß man in Wahrheit ein Barbar sein müßte, wenn man wollte, daß alles dieß im Interesse einiger poetischer Gemeinplätze nicht existirte.

Andererseits ist es wahr, daß diese bezaubernde und göttliche Arie sehr schlecht oder eigentlich gar nicht den Charakter der Vitellia ausdrückt, welcher der einer Närrin und eines Ungeheuers ist. Eine Närrin, weil sie sich einbildet, Erbansprüche aus den Thron des Kaisers zu haben, wie wenn das römische Reich, eine moderne Monarchie, auf das Princip der Legitimität gegründet gewesen wäre; ein Ungeheuer, weil sie die Leidenschaft eines Mannes mißbraucht, den sie nicht liebt, um ihn zum Mord des Kaisers anzutreiben, den sie liebt, oder den sie wenigstens sehr geliebt haben würde, wenn Titus sie zu seiner Gattin hätte machen wollen. Diesen Charakter in der Musik vollständig wiederzugeben, war rein unmöglich. Alles was der Componist hätte thun können, wäre gewesen, dieser Person eine große Energie der Gefühle zu verleihen, wie Donna Anna, und der Wuth, wie Elektra. Es scheint aber, daß die dahinschwindende Kraft Mozart's die Malerei eines während zwei Acten aufrecht erhaltenen energischen Charakters nicht zugelassen habe. Ein einziges Mal erinnert Vitella entfernt an die Tochter des Commandeurs in dem bewunderungswürdigen und pathetischen Terzett: Vengo! aspettate! was übrigens nicht einmal ein Terzett, sondern nur eine Arie mit Beiziehung zweier begleitenden Stimmen ist. Die Situation an sich selbst ist sehr schön. Sextus, besiegt durch das blutdürstige Bestürmen seiner Geliebten, ist hingegangen, das Verbrechen zu vollbringen. Noch eine Stunde und die Welt wird ihre Wonne verloren haben. Die grausame Frau erwartet unter [81] Bangigkeiten und Gewissensbissen den Ausgang ihres Complotts, als Publius und Annius erscheinen, um ihr anzuzeigen, daß der Kaiser statt Berenice sie zu seiner Gattin gewählt habe. Welch' ein Augenblick für Vitellia! Sie sieht ihre heißesten Wünsche durch ihren eigenen Fehler vernichtet, die in diesem Augenblick in Erfüllung hätten gehen sollen. Metastasio drückt ihre Verzweiflung durch einen Ruf nach Einem aus, der sie nicht mehr hören konnte: Sesto! Sesto! ein erhabener Schrei von Wahrheit und Schmerz. Dießmal war der Aufruf des Dichters hinreichend mächtig, um den Zauber der krankhaften Eindrücke, welche auf dem Genius des Musikers lastete, zu brechen. Mozart erhob sich in seiner ganzen Größe und erreichte den Standpunkt der Situation. Metastasio's Apostrophen donnerten in pathetischen Schlägen wieder; Vitellia widerrief ihre Rache fast mit derselben befehlshaberischen Autorität, mit welcher Donna Anna noch vor Kurzem die ihrige angerufen hatte; das Orchester, aus einer langen Lethargie erwacht, war wieder Mozartisch geworden, und nimmt einen vom Vocalgesang unabhängigen Gang an, um den Effect besser zu unterstützen; endlich herrschte das erhabene Tragische aus der Scene. Dieses Stück wäre ein vollkommenes Meisterwerk, es würde sich den pathetischsten Stücken in Don Juan nähern, wenn die unbedeutende und süßliche Melodie der beiden anderen Stimmen es nicht ein wenig an der Stelle schwächte, an welchen sie eintreten.

Die Partie der Vitellia umfaßt einen Umfang von zwei Octaven und einer Quinte, zwischen dem tiefenG und dem hohen D. Sie verlangt also einen doppelten Stimmumfang, wie ihn offenbar die Signora Marchetti-Fantozzi hatte, für welche die Partie componirt worden war.

Unter den drei Duetten in dieser Oper geben wir entschieden [82] dem zwischen Servilia und Annio den Vorzug: Ah perdona al primo affetto; es ist sehr einfach, sehr kurz, sehr melodisch und voll der begeistertsten Zärtlichkeit. Das Duett: Deh prendi un dolce amplesso, welches man Süßmaier zuschreibt, hat auch seine Reize, aber der Componist hat dem süßen Kusse nur 20 Tacte eingereiht. Es waren zwei Männer, die sich umarmten. Andere Stücke ermüden die Aufmerksamkeit der Zuhörer kaum mehr.

Die Ensemble-Scenen beschränken sich auf zwei Terzette und ein Quintett. Wir haben bereits den Anfang eines dieser Terzette in Erinnerung gebracht: Se al volto mai ti senti, dessen Andante besser ist, als das Allegro. Man kann dasselbe von dem andern sagen: Questo è di Tito il volto? zwischen Sextus, Titus und Publius. Das erste Tempo Larghetto, Es-dur4/4, ist vollkommen schön. Es ist ein Dialog in gedehnten Perioden, in welchen die Stimmen sich nicht vereinigen, aber in denen sich nach und nach die Empfindungen des von Scham und Gewissensbissen niedergedrückten Schuldbeladenen, der großmüthige Schmerz des Kaisers, wie er die durch das Verbrechen so veränderten Züge seines Lieblings sieht, und die Gemüthsbewegung, welche der Anblick eines vor seinen Richter geführten Königsmörders verursacht, sich ausdrücken. Sextus' Rede, welche das Stück eröffnet, spricht sich in der Figur eines gebrochenen Tremolo aus, auf welches Tonfälle in Sechzehnteln im Basse und in den Violinen während des Beiseite-Singens des Publius folgen. Ein bewunderungswürdiges Accompagnement! Welche Größe und welch' tragischer Adel liegt in dem Befehle sich zu nähern: Aviccinati non m'odi, welchen Titus dem Schuldigen ertheilt und wiederholt, und welch' tief ergreifender Pathos in dem Satze: O voce che piombami sul core! Wie sehr entspricht [83] dieser Dialog dem Charakter plastischer und idealer Einfachheit, welche in der Kunst der Alten vorherrschte. Nie vielleicht erinnerte die tragische Muse besser an den antiken Schmerz und legte den Kothurn mit mehr Majestät an. Wir hätten ebenfalls Alles in dem zweiten Tempo, Allegro, gelobt, sowohl die Zierlichkeit des Rhythmus als die doppelte Anlage der Melodie und die Anmuth der Nachahmung, wenn nicht Alles der Art wäre, daß man es eben so gut anderen, sehr verschiedenen Situationen anpassen könnte.

Das Quintett dient als Finale des ersten Actes und krönt das ganze Werk, dessen unsterbliche Ehre es ausmacht. Lassen wir zuerst dem Signor Maroli oder vielmehr Mozart selbst Gerechtigkeit widerfahren, nach dessen Gedanken der Dichter das Libretto Metastasio's umarbeitete. Man kann sicher nicht mehr Bühnenkenntniß zeigen, noch ein tragisches Finale mit mehr Verständniß und Glück anordnen. Die Scene stellt das Forum bei Nacht vor, welches bald die Flammen des brennenden Capitols erhellen, Sextus eröffnet das Finale durch einen Monolog, in welchem er sich mit dem Gedanken des Vatermords vertraut zu machen sucht; die anderen Personen kommen nach und nach auch herbei, die einen von Gewissensbissen zerfleischt, die anderen von Abscheu und Schrecken erfüllt; der Mörder geht ab und zu, als neuer Orestes mit den Furien hinter seinen Schritten; der Aufruhr tobt um den Platz herum, und das römische Volk, der Chor, läßt das Geschrei der Verzweiflung hören, welches die erste Rolle in dieser zugleich epischen und tragischen Handlung spielt. Es kann nichts Schöneres und Musikalischeres geben. Mozart blieb als Componist nicht hinter dem Mozart, dem Ordner des Libretto, zurück. Seine eigenen poetischen Gedanken belebten, erwärmten, inspirirten ihn, und zwar dergestalt, daß nie eine [84] grandiosere Conception der Bewunderung von Menschen geboten worden ist, welche glücklich genug organisirt sind, um in demselben Grade die beiden vollständigsten Formen künstlerischer Poesie zu fühlen, und welche hinreichend gute Richter sind, um die Mittel einer Verbindung zwischen zwei Poesieen zu würdigen, in welchen der Beitrag der einen nicht dem der andern geopfert weiden darf, sondern welche im Gegentheile die Totalität ihrer Kräfte vereinigen müssen. Dieß ist ohne Widerspruch das vollendetste Schauspiel. Man bemerke auch, wie sehr ein Vertrag auf dieser Basis der Gleichheit, zwischen dem Drama und der Musik, in dem Finale des Titus unumgänglich nothwendig war. Die Tragödie allein wäre nicht mit allen den Gedanken, die es enthält, fertig geworden. Sie hätte die fünf Personen sprechen und handeln lassen; was hätte sie aber mit dem römischen Volke, diesem großen, diesem Haupt-Acteur gemacht? Sie hätte es dem Chorführer anempfohlen. Unglückliches Volk!

Nach den obligaten Recitativen der Donna Anna hat Mozart kein schöneres geschrieben, als das, welches dieses Finale durch seinen Monolog des Sextus eröffnet. An der Stelle, in welcher der Verräther, durch die Macht seiner Erinnerungen gezwungen, alle Tugenden des Fürsten aufzählt, den er zu ermorden im Begriffe steht, läßt der Componist das Tempo ralentiren; das Tempo wird beinahe arioso. Das ist der repräsentative Styl, die sprechende Musik des siebenzehnten Jahrhunderts in ihrer höchsten Vervollkommnung.

Das Allegro des Quintetts wurde trotz seines außerordentlichen scenischen Effects und der lärmenden Bewegung, die darin herrscht, thematisch construirt. Die Einheit der Composition ruht in einem Vocalsatze, der in verschiedenen Tönen, in Dur undMoll, reproducirt wird, und welchen die Personen nach Maßgabe ihrer [85] Ankunft auf der Scene in Angriff nehmen. Unter diese edel pathetischen, obgleich immer melodischen Sätze fallen herzzerreißende Ausrufungen des Chors hinter den Coulissen. Man hört sie gleich dem Todesschrei einer Bevölkerung, unter deren Schritte sich die Erde zu einem ungeheuern Grabe geöffnet zu haben scheint. Die ganze Masse des Orchesters bricht sich in donnernden Schlägen an den Accorden der Verzweiflung, welche man Anfangs von Zeit zu Zeit hört, und die zusammen ein schmerzvoll gedehntes Ah! hören zu lassen scheinen! Weil diese Ausbrüche auf verschiedenen Harmonieen der verminderten Septime stattfinden, so bringen sie jedesmal eine neue Tonart hervor; die Stimmen des Volks nähern sich allmählig immer mehr; die Accorde des Chors werden häufiger und folgen sich zu zwei und zwei: Ah! Ah! Dieß ist die technische Disposition dieses Allegro. Der Effect ist über alle Beschreibung erhaben. Man muß diese Musik so ausgeführt gehört haben, wie sie es sein muß, durch Leute, die gute Schauspieler und gute Sänger sind, unterstützt durch einen zahlreichen und trefflichen Chor und mit passender Inscenesetzung.

Mozart ließ sich anscheinend zuweilen von einem wunderbaren Geiste zum Paradoxen hinreißen. Welcher Musiker, frage ich, hätte sich einfallen lassen, das Finale durch ein Andante zu schließen, ohne daß sich Etwas, wenigstens dem Anscheine nach, in der Situation geändert hätte. Wer hätte nicht vorausgesehen, daß der mächtige Eindruck des Tempo's sich auf diese Weise verlieren und die tausende zum Applaus erhobenen Hände wieder auf die Kniee der Zuhörer zurückfallen würden. Mozart kümmerte sich nicht im Geringsten darum, sondern hielt mitten im Allegro inne, um zwei oder drei Linien des einfachsten Recitativs zu schreiben, worauf er sein Andante ganz ruhig wieder anfing. Er wußte sehr gut, was er that. Sein Gedanke war kühn, aber nicht [86] paradox; ja sogar weit davon entfernt, er war vollkommen richtig. Die Situation schien nicht verändert, wie wir gesagt haben; materiell nicht, dagegen aber psychologisch in hohem Grade. Als zu Anfang des Finales Sextus sich entfernt, um sein Opfer zu treffen, ist die Verschwörung bereits ausgebrochen, das Capitol steht in Flammen; das Volk, welches die Ursache und den Zweck dessen, was es sieht, nicht kennt, durchrennt unter Ausrufungen des Schreckens die Stadt. Sobald aber Sextus, im Glauben, daß das Verbrechen vollendet sei, zurückkehrt, muß die Nachricht der vermeintlichen Ermordung des Titus bereits mit Blitzesschnelligkeit in ganz Rom verbreitet sein. Das Volk weiß jetzt Alles, und weil der erste Eindruck eines großen öffentlichen Elends die Geister betäubt, so muß ein allgemeiner Abscheu, der Anblick erblaßter und unbeweglicher Gestalten, eine Art moralischer Lähmung in der Musik sich ausdrücken. Dieses Raisonnement gehört nicht mir, sondern Mozart. Das Andante ist demnach nichts als eine strenge Folgerung und zugleich eine eclatante Rechtfertigung. Es ist noch erhabener als das Allegro.

Hier ist der Plan der Vocal-Anlage anders vertheilt. Der Chor, welcher auf der Scene anlangt, begnügt sich nicht mehr mit Ausrufungen, sondern er läßt regelmäßige und vollständige Sätze hören: Oh nero tradimento! Oh giorno di dolor! und durch das Sprechen mit den handelnden Personen bildet sich ein anderer Chor. Eine dritte Gruppe aus Flöten, Oboen, Clarinetten, Fagotten, Hörnern, Trompeten und Pauken bestehend, schlägt während der Pausen der Stimmen einen kriegerischen und traurigen Rhythmus an. Man hört die Todtenglocke der öffentlichen Glückseligkeit anschlagen, die mit Titus zu Grabe gegangen ist. Von dem Tacte an, in welchem Vitellia und Servilia die tonische Leiter hinaussteigend das Ces erreichen: Oh – [87] gior – no – di – do – lor, ist der Dialog des Doppel-Chors mit einer Kunst eingetheilt, deren Geheimnitz unser Heros von Niemandem geerbt, das er aber auch Niemandem vermacht hat. Dreimal fällt die Cadenz, welche das Ohr erwartet, auf suspendirende und zerreißende Accorde, so daß diese einzige und merkwürdigste aller Perioden erst mit dem zweiundzwanzigsten Tacte zum Schlusse gelangt. Die Pauken ertönen dumpf auf die Schluß-Cadenz, die Schreckensrufe dieser verderblichen Nacht verlieren sich unmerklich in den Schatten derselben. Nie wurde die Majestät des Schreckens und der tragische Jammer auf der musikalischen Scene weiter getrieben.

Es bleibt uns noch übrig, die vereinzelten Chöre der Oper in Betracht zu ziehen. Der Chor Nr. 5, dem ein sehr schöner Marsch vorausgeht, ist ein Jubel-Chor, beim Wiedererscheinen des Titus auf der Scene; er ist majestätisch und glänzend. Nr. 15, ein mit Soli vermischter Chor, will wenig bedeuten. Der Chor Nr. 24, welcher durch ein Ritornell sich der großen Arie der Vitellia anschließt, ist ein sehr bemerkenswerthes Stück, ein Meisterwerk, bei dem wir uns aufhalten müssen. Das Theater stellt den Platz vor, auf welchem Sextus und seine Mitschuldigen hingerichtet werden sollen. Der Senat und das römische Volk nehmen die Stufen eines Ungeheuern Amphitheaters ein; überall sieht man Adler, Fasces, Beile und andere Waffen. In Roth gekleidete Henker erwarten die Verurtheilten. Es schien uns nothwendig, diese Decoration in Erinnerung zu bringen, um dadurch den Chor Nr. 24 ganz verständlich zu machen, der Titus begrüßt und ihm Glück wünscht, durch den Schutz der Götter gerettet worden zu sein, während der Kaiser anlangt und mit seinem Gefolge vorüberzieht.

Das Glück der Römer, wie sie den wiedersehen, welchen sie [88] bereits beweint, und den eine Art von Wunder ihnen wieder zurückgegeben hatte, unter Umständen, wie wir sie oben beschrieben haben, darf nicht in Ausbrüchen geräuschvoller Heiterkeit sich kundgeben, die Gemüther Aller leiden noch unter dem Einflusse des Attentats, welchen die Vorbereitungen zur Hinrichtung der Verschworenen mit erneuter Stärke in Erinnerung bringen. Es soll Blut vergossen werden, gleichviel wessen. Fließt es, damit den Gesetzen Genüge geschehe, so verhüllen sich die Bilder der Gottheiten und schwermüthige Gedanken verbreiten ihre Schatten auf dem Antlitze des Menschen, beim Anblicke des feierlich verhängten Todes. Daher schreibt sich der eigenthümliche Charakter dieses Stücks. Die ursprüngliche Melodie ist im Orchester, eine ernste und beharrliche Figur, welche sich, nach Art eines Gegensubjects und einer Umschreibung, gegenüber den Stimmen des Chors entwickelt, die der Composition einen Beigeschmack von Kirchenmusik gibt. Die ganze melodische Anlage ist so gewählt, so positiv, daß die Harmonie von selbst daraus hervorzugehen scheint. Ja, aber nicht die, welche Mozart dazu angepaßt hat; man fleht zu den Göttern, man beglückwünscht den Kaiser und preist seine Tugenden, welche ihn den Unsterblichen gleich machen. Aber die Götter hoben noch nicht wieder ihre Blicke dieser Erde zugewendet, welche der abscheulichste Verbrecher so eben in Schrecken gesetzt hat, und dessen Blut dieselbe bald röthen soll; und die Begeisterung der Herzen für Titus stößt vermöge eines feierlichen Gedankens, von dem sich die Menge nicht trennen kann, auf einen gewissen Widerstand. Die Harmonie ist noch nicht das, was sie natürlicherweise sein sollte; es scheint gleichsam ein harmonischer Vorbehalt in ihr zu liegen. Hindernde oder retardirende Noten, welche man hier mit so vieler Hartnäckigkeit gegen den vollkommenen Accord kämpfen und ihn in verminderte, von der Septime und anderen [89] zufälligen Harmonieen überwältigten Terzen verändern sieht, ziehen sich von Anfang bis zu Ende durch die Piece. Jedermann kann sich überzeugen, wie sehr dieses harmonische Kunstwerk, mit einer gewählten und originellen Modulation combinirt, den erhabenen Ernst des Stückes erhöht, wie sehr es die Bedeutung und den Werth desselben vermehrt.

Der letzte Chor Nr. 26, der nach Art eines Finales abgetheilt ist, gäbe einen glücklichen und bewunderungswürdigen Gegensatz zu dem vorhergehenden. Titus verzeiht: Sia noto a Roma ch'io son lo stesso e ch'io tutto so, tutti asslovo e tutto obblio. Diese am Schlusse eines Recitativs ausgesprochenen Worte waren für den Componisten gleichsam ein fiat lux. Götter und Menschen mögen sich jetzt freuen. Sextus, auf die Kniee niederfallend, beginnt das Finale. Titus antwortet ihm in einem andern Solo, welches neue Dankesbezeugungen herbeiführt, a trè, worauf die handelnden Personen und der Chor in Masse den Satz hören lassen: Eterni Dei! vegliate su i sacri giorni suoi, welcher in C-dur, auf der gehaltenen hohen Dominante, unterstützt von sämmtlichen Kräften des Orchesters, beim Donner der Pauken und den jubelnden Fanfaren der Blechinstrumente ertönt. Eine Anrufung von solcher Mächtigkeit und solcher Erhabenheit mußte, das ewige Himmelsgewölbe durchbrechend, im Olymp gehört werden und die Götter zum Antheile an der Freude der Menschheit geneigt stimmen.

Aus unseren Bemerkungen geht hervor, daß nicht Alles in der Clemenza di Tito gleich vollkommen ist, und wenn ein aufrichtiger, aber unparteiischer Bewunderer Mozart's heut' zu Tage genöthigt ist, dieß einzugestehen, so wird ihn wenigstens nichts hindern, anzuerkennen, daß es schwer sein dürfte, eine heroische Oper würdiger zu eröffnen, als durch die Ouverture zu [90] Titus; sie besser zu unterbrechen, als durch das Quintett des ersten Actes, und sie besser zu schließen, als durch das Chor-Finale des zweiten. Diese Stücke, so wie die letzte Arie der Vitellia und der vorletzte Chor finden entweder keine Aequivalente im Mozart'schen Repertorium, oder stehen weit über allem Dem, was man ihm gegenübersetzen könnte.


Mozart hat sieben Opern geschrieben, die Versuche seiner Kindheit und seiner ersten Jugend nicht eingerechnet. Sieben und nicht mehr, und die Sterne, aus denen diese glänzende Plejade besteht, wurden auf eine Weise ausgewählt, daß ihre Gruppe nicht nur alle bekannten Gattungen der dramatischen Musik des achtzehnten Jahrhunderts abspiegelt, sondern daß sie auch zugleich die neuen Wege beleuchtet, auf welchen das musikalische Drama unserer Tage gehen sollte. Man überzeuge sich selbst. Idomeneo gehört der Mythologie, Titus der Geschichte an, zwei Minen, aus denen Dichter und Componisten ehemals alle ihre Productionen der seriösen Gattung zogen. Figaro gehörte der Natur seines Gedichtes nach der französischen komischen Oper, der Komödie mit Gesang an, welche in der Regel um so mehr in der Musik verderben wird, je besser das Stück als einfache Komödie gewesen wäre. Mozart war der Erste, der diese Regel zu Schanden machte und zeigte, wie man Dinge der Art angreifen müsse, wenn man sie durchaus machen wolle, ohne dabei in das Vaudeville oder in die Komödie mit Arietten zu verfallen. – Die Entführung ist die glänzende Initiative der deutschen Schule, in einem Zweige der Theatermusik, in welchem sie bis jetzt die wenigst ausgezeichneten Werke zählt. Dieses Gedicht, das weit lyrischer als die Mehrzahl der französischen [91] Komödien mit Arietten, und viel vernünftiger, als die meisten der italienischen Buffo-Libretti ist, zeichnet den künftigen deutschen Textmachern den Mittelweg zwischen dem Uebermaße von Prosa und von Unverstand vor, den sie von da an allgemein verfolgt haben. Seinerseits gab Mozart den Musikern das erste Beispiel einer gemischten und romantischen Oper, in welcher der edle, leidenschaftliche und heroisch-abenteuerliche Charakter der Hauptpersonen mit der gewöhnlichen Natur der Buffo- und Subaltern-Gestalten die glücklichsten Gegensätze im musikalischen Drama abgibt.

Es handelte sich noch darum, eine Gattung von Buffo-Oper zu liefern, der einzigen wahrhaft guten und wahrhaft dramatischen Theatermusik, welche vor Gluck und Mozart in der Welt bekannt war. Als der Fall eintrat, die Musik den Anforderungen eines rein literarischen Werkes anzupassen, welches nicht für dieselbe gemacht worden war, so spielte der Zufall Mozart das epigrammatischste von allen, d.h. die wenigst musikalische unter allen französischen Komödieen, die Hochzeit des Figaro, in die Hände, und die Lösung dieses undankbaren Problems verlieh der modernen Oper ihren Zuschnitt und ihre Verhältnisse. Als es sich aber darum handelte, eine Buffo-Oper zu componiren, ein Schauspiel, in welchem nach stillschweigender Uebereinstimmung die Musik Alles und die Worte Nichts sind, so lieferte derselbe Zufall dem Componisten ein Libretto, Così fan tutte, das einfältigste und leerste unter allen bestehenden oder möglichen italienischen Libretti. Lauter Typen, wie man sieht.

Idomeneo, die Entführung, Figaro, Così fan tutte und Titus umfassen also alle poetischen und musikalischen Formen der Oper des letzten Jahrhunderts. Weil aber alle diese Werke durch ihren Styl neu waren, und auf verschiedenen Wegen zu einer allgemeinen Umformung der Kunst führten, so mußten [92] sie uns die Tradition der Vergangenheit bewahren, und werden ewig als Denkmale einer Epoche dienen, über deren lyrisch-dramatische Productionen, sowohl in Italien als in Deutschland die Zeit mit ihrer Sichel und ihrem Schwamme der Vergessenheit gefahren ist. Gluck's französische Opern stehen allein noch neben dem Mozart'schen Partituren aufrecht da, auf den Ruinen jenes Zeitalters der Theatermusik, welches mit Monteverde beginnt und mit dem Tode unseres Helden schließt.

Aber welche Gattung, oder vielmehr welche lyrisch-dramatische Tendenz war der Initiative des großen Reformators allein vorbehalten? Brauche ich es wohl zu sagen: die wesentlichst musikalische und die vor ihm wenigst bekannteste aller Tendenzen: die des Wunderbaren. Ehemals war das Wunderbare in der Oper eine Schaustellung, die keinen Anklang fand, ein kindisches Schauspiel, mit welchem die Musiker Nichts zu thun haben wollten6. Mozart verlieh dieser Phantasmagorie eine Seele, diesen Geistern zum Lachen ein reales und poetisches Leben; er schuf die Gattung, vor welcher alle anderen Gattungen erblassen sollen, die romantische Oper auf das Wunderbare im Gefühle gegründet, [93] die musikalische Übersetzung des Wunders für die Augen dargestellt auf der Scene.

Indem das Wunderbare aus der Sphäre des Decorateurs, das Maschinisten, des Costümmachers in die des Componisten überging, konnte sich dasselbe musikalisch unter zwei entgegengesetzten Aspecten wie in der Poesie produciren: unter einem mächtigen und furchtbaren und unter einem lachenden Aspecte, bei der Beleuchtung eines phantastischen Lichtes. Damals war aber die Theorie der neuen Gattung noch unbekannt, weil die Gattung selbst noch gar nicht bestand; alle großen Spectakel-Opern entnahm man der Mythologie und der alten Geschichte, aus denen der musikalische Romantismus sich niemals herauswinden konnte. Es war wieder dem Zufalle vorbehalten, die Entdeckung herbeizuführen. Zwei Gedichte fallen Mozart in die Hand, denen ihre Verfasser nicht einmal einen Namen zu geben wissen7. So fremdartig waren sie, daß mit denselben keine der damaligen musikalischen Notabilitäten sich hätte befassen wollen. Eben diese fremdartigen Libretti enthalten nun gerade den doppelten Keim des Wunderbar-Romantischen. Mozart übertraf sich in Il Don Giovanni und in einigen Scenen der Zauberflöte, wie er alle gestorbenen und lebenden Componisten in seinen anderen Opern übertroffen hatte; und dieses Glück verdankte er einer schlechten Fabel des 16. Jahrhunderts und den ungereimten Hirngeburten Schikaneder's. Viele Componisten haben mehr als hundert Opern geschrieben, ohne je aus den beiden Gattungen der italienischen dramatischen Musik, derOpera seria und der Opera buffa herauszutreten. Gluck's Meisterwerke beschränken sich auf die lyrische Tragödie, Mozart [94] aber umfaßt alle bekannten Gattungen des musikalischen Dramas in sieben Opern: die er nicht auswählte, sondern die ihm der Zufall in die Hände spielte!

Ehemals hielt die Kritik es für eine Pflicht und für ganz passend, in Klagen über die Operntexte auszubrechen, welche ein unglücklicher und wie immer blinder Zufall dem Verfasser des Figaro, Don Juan, und der Zauberflöte auferlegt haben. »Beklagen wir den großen Mozart, daß er genöthigt gewesen ist, seine göttliche Musik an dergleichen Sujets wegzuwerfen.« Was meinst Du, verehrter Leser? Kommt Dir der Zufall wirklich auch so unglücklich und so blind vor, wie man es behauptet?

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 69-95.
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