1.

Verschiedene Piecen für den Gesang mit Begleitung des Claviers.

[251] Das achtzehnte Jahrhundert hatte die Bewegung des Verfalls zugleich wie des Fortschritts noch nicht beginnen sehen, welche heut zu Tage nach und nach die hohen Sphären der Poesie und Kunst herabstimmte und dagegen die Verhältnisse der untergeordneten Gattungen erhob; so daß das Epos und der Roman, die Tragödie und das Melodrama, die Komödie und das Vaudeville, die Opern- und die Tanzmusik, welche unter den Federn der Schriftsteller und Componisten sich so nahe gebracht worden sind, einen gemeinschaftlichen Standpunct in umgekehrtem Sinne in dieser Verrückung ihrer respectiven Grenzen zu suchen scheinen. Wir haben jetzt Musiker, welche sich mehr Ruf und Geld mit den Walzern und Quadrillen erwerben, die sie machen, als die Werke von Bach und Mozart ihren Autoren je eintrugen. Man muß aber so gerecht sein, anzuerkennen, daß man Strauß oder Lanner mit Vergnügen hört, selbst wenn man nicht nach ihnen tanzt, auf was [251] ihre bescheidenen Vorgänger keinen Anspruch machen konnten. Auf anderer Seite hat Franz Schubert einen Rang unter den mit Recht berühmtesten Componisten unserer Zeit eingenommen, und doch hat er nichts als nur Lieder geschrieben29. Heut' zu Tage rivalisirt aber auch das Lied mit der Cavatine; der Walzer thut mehr, er gibt den Ton in der Oper an, welche, um nicht zurückzubleiben, ihrerseits das Repertorium der Bälle vermehrt.

Zu Mozart's Zeiten verlangte man von einer Tanzmelodie fast weiter nichts, als daß sie tanzbar sei, von einem Liede, daß Jedermann, mit oder ohne Stimme, es singen könne. Mozart's Tänze und Lieder haben auch, im Allgemeinen gesprochen, kein anderes Verdienst, welches sie empfiehlt. Die Sammlung, von der wir sprechen, liefert hinsichtlich der Vocal-Compositionen den Beweis. Sie wurde von Breitkopf und Härtel herausgegeben und umfaßt dreißig Numern mit Begleitung des Claviers: deutsche, italienische und französische Lieder; in dem einen wiederholt [252] holt sich die Melodie bei jedem Verse, die anderen sind durchcomponirte Gesänge. Unter diesen dreißig verräth mehr als die Hälfte vielleicht in nichts das tiefe Incognito, in welches Mozart sich zu hüllen für gut fand, als er sie schrieb. Die leichte, zuweilen triviale Melodie, die Unbedeutendheit des Accompagnements sollten eher auf das Machwerk eines Dilettanten schließen lassen. Die anwidernde Fadheit der Mehrzahl der Texte verdiente nichts Besseres, als daß unser Heros sich auf diese Weise an seinen Kunden rächte, welche die Geschmacklosigkeit begangen hatten, sie ihm aufzugeben. Er selbst legte gar keinen Werth auf diese Kleinigkeiten, die er mechanisch auf's Papier warf, während sein Kopf ohne Zweifel mit anderen Dingen beschäftigt war. Wer mich nach diesen Bagatellen beurtheilen würde, wäre ein Lump, pflegte er zu sagen.

Es stand aber in den Sternen geschrieben, daß Mozart Alles in der Musik leisten, und in Allem Muster liefern solle. Es gab noch kein deutsches Lied, weil man es ganz den Eingebungen der einfachen Natur überlassen hatte. mit Hilfe einiger weniger einfältigen Texte, welche ihm in die Hand fielen, wurde Mozart in den Stand gesetzt, diese bescheidene Gattung festzustellen und seinen Nachfolgern eine neue Laufbahn zu eröffnen. Der kleine häusliche Verbrauch am Claviere hatte auch seine Meisterwerke von natürlicher und populärer Anmuth, welche die Stelle nationaler Musik bei einem Volke vertreten sollte, welches zu musikverständig ist, um eine solche zu haben. Nichts, in der That, erinnert so sehr an Deutschland, wie mehrere dieser Mozart'schen Melodieen. Wenn man zum Beispiel die Zufriedenheit hört, Numer 2 der Sammlung, so ist es schwer, das Land nicht zu erkennen, dessen sanfte sociale Einflüsse und poetische Ansichten die Worte und den Gesang dieses Liedes hervorgebracht zu haben scheint.

[253] Die Numer 11, ein französischer Chanson: Oiseaux si tous les ans, vous changez le climat, C-dur2/4, zeichnet sich durch eine angenehme und leichte Melodie aus, welche durch ein lebhaftes Gefühl im Moll-Satze in der Mitte nüancirt ist. Man findet trotz seiner außerordentlichen Einfachheit eine bezaubernde Begleitung und einen ganz originellen Effect darin, ein hohes G mit der rechten Hand in Sechszehnteln angeschlagen, während die Stimme in Sexten mit dem Basse sich wiegt. Man denkt dabei unwillkürlich an den Frühling mit seinen Reizen, man glaubt das Gezwitscher und Geflatter der kleinen gefiederten Sänger zu hören, denen der Musiker seine Arbeit gewidmet hat.

Von all' den Liedern, deren Verse sich wiederholen, liebe ich die Numer 9 am meisten. Die Alte,E-moll2/4, ein wahres Meisterwerk in seiner Art. Diese Alte besingt die gute alte Zeit, und zwar singt sie sie in einer Jugendmelodie, aus welcher die gute alte Zeit wie aus der Leinwand heraussieht, auf der unsere Urgroßmutter im Hochzeitskleide abgebildet ist. Halb klagend und halb erzählend muß dieser Gesang ein wenig näselnd vorgetragen werden. Er näselt schon von selbst auf dem Papiere. Häufige, mit kleinen Prall-Trillern geschmückte Cadenzen in Händel's Weise, welche auf vollkommenen Accorden schließen, denen die Terz fehlt; eine Harmonie aus der Zeit jener melodischen Gruppirung, eine sehr gothische und doch sehr angenehme Abschweifung in denMoll-Ton der Quinte; endlich eine der originellsten Appogiaturen gegen den Schluß; alles dieß verleiht dem Liedchen den Anstrich eines köstlichen Geplauders, macht es komisch und doch wieder fast rührend, gelehrt und populär, und überdieß bewunderungswürdig wegen der Anwendung einer veralteten Form zu einem jetzigen ästhetischen Zwecke.

Unter den Piecen, deren Text durchcomponirt wurde, gibt [254] es welche vom edelsten und rührendsten Charakter, diese kan man nicht so eigentlich Lieder nennen; es sind kleine Cantaten, Lieder in der ausgezeichnetsten Bedeutung des Wortes, wie sie seitdem Schubert, Meyerbeer, Lindpaintner und andere deutsche Liedercomponisten gemacht haben. Es ist ohne Zweifel für einen großen Musiker leichter, mit einem Liede mit Entwickelung Glück zu machen, das sich mehr oder minder der dramatischen Form und deren Ausdruck nähert, als mit dem wirklichen Liede. In diesem muß man den Vortrag, zugleich aber doch den Charakter der Melodieen im Auge behalten, welche das Volk singt; erfinden, wie wenn man nicht Musiker wäre, um wahr zu sein, und das Ohr der am schwersten zu Befriedigenden entzücken, um stets Künstler zu bleiben. Das heißt, man muß wahrhaft populär und wahrhaft originell sein. In dieser Beziehung müssen wir nach der Alten ein Wiegenlied anführen, das Herr v. Nissen veröffentlicht hat. Mozart, welcher es sicher für einen seiner Neugeborenen geschrieben hatte, konnte nichts Besseres machen, ja selbst die Amme nicht einmal, wie ich versichern kann.

Gehen wir in der Prüfung der Sammlung weiter. Da ist die Numer 10. Unglückliche Liebe, welche weder ein Chanson noch ein Lied irgend welcher Art ist, sondern eine Cavatine in hohem dramatischem Styl, würdig in irgend einer Oper des Verfassers zu figuriren, und welche man bedauert, nicht an ihrer Stelle zu sehen, wohin sie gehört. Louise, ein junges Mädchen, übergibt die Briefe ihres Verführers den Flammen, und während sie sie brennen sieht, richtet sie ein Lebewohl voll Melancholie und Leidenschaft an sie. Ein ganz dramatischer Text, den Mozart so behandelte, wie er es erheischte.

Das Veilchen, Nr. 4. Eine kleine Lehrfabel von Goethe, welche ganz zu der Gattung des Liedes mit musikalischer Entwickelung [255] gehört, G-dur, Allegretto 2/4. Mozart hat das Schicksal einer armen Blume ernsthaft genommen, die, durch den Tritt einer Schäferin zertreten, sich glücklich preist, unter ihren Füßen zu sterben. Eine bezaubernde Natürlichkeit charakterisirt das Motiv, so wie den Refrain: Es war ein herzig's Veilchen. Wenn die Schäferin singend daherkommt, so läßt uns ein anmuthiges Ritornell ihr Lied hören; dann führen die Wünsche des bescheidenen Veilchens, das sie so schön findet, das Moll der Tonica und hierauf eine zarte Melodie in der wechselbezüglichen Tonart herbei. Die Katastrophe kündigt sich ernst an und pathetisch geht sie in Erfüllung. Plötzlich hört man fortissimo den Ton B anschlagen; die Stimme wird declamirend: Das Mädchen kam, und das Piano wiederholt mit Schaudern: das Mädchen kam, und die grausame Schäferin schreitet weiter, ohne auf das Veilchen zu achten; ihr Fuß tritt bei einer Fermate auf, und ein verminderter Septimen-Accord vernichtet diese arme, vegetabile Existenz, welche nie nach einem Gefühlsleben hätte trachten sollen. Man wird weinen; nein. Eine Blume ist keine Person, eine Allegorie ist keine dramatische Handlung, und ein Lied darf nicht so endigen, wie ein auf den Tod verwundeter Theaterheld. Der universale, oder in diesem Falle specielle Mann wußte dieß wohl. Die letzten Worte des Veilchens bringen daher das Majore wieder; sein Hingang ist von der sanftesten Art; der naive Refrain: es war ein herzig's Veilchen schließt die Piece nach Art einer Leichenrede. Allerliebst!

Nr. 7. An Chloe, Allegro 4/4, Es-dur, ein Lied, dessen erotischer Charakter im Text etwas weit getrieben ist, welches aber jeder Musiker mit der Bedeutung der Worte übereinstimmend componirt zu haben sich glücklich schätzen würde. Die Melodie des Liedes wird, wie ich denke, für eine südlichere erkannt werden, als [256] es irgend eine Gegend des deutschen Reiches gibt. Sie stammt aus einer belebenderen Sonne, aus einem reichern, üppigern Klima; diese fließende, ungezwungene, ausdrucksvolle Melodie, deren Sätze, bald durch energische Aufwallungen begeistert, bald weich und abgespannt, die Liebe in ihrer glücklichsten Gestalt malen, ist italienisch. Die Piece findet ihre Erklärung im Datum, sie schreibt sich vom 24. Juni 1787 her.

Obgleich wir eigentlich nur auf gut Glück in dieser sehr heterogenen Sammlung geblättert haben, so weit es sich nämlich um den musikalischen Werth handelt, den sie in sich schließt, so haben wir doch geschickterweise die Vorsicht gebraucht, die Perle, den Diamanten, den unschätzbaren Juwel dieser Sammlung uns bis zuletzt aufzusparen. Dieß ist wenigstens unsere bescheidene Ansicht von der Numer 6. Abendempfindung, Andante F-dur4/4, welche in dem autographen Kataloge unter demselben Datum wie Nr. 7 erscheint.

Der Text zu dieser Piece, welche in dem Verzeichnisse nicht wie die anderen den Namen ihres Verfassers trägt, könnte wohl von Mozart selbst sein. Er war manchmal ein Reimmacher, wie man weiß, und wir finden in ziemlich schlechten Versen die Eindrücke und Ideen, welche bereits einen so fatalen Einfluß auf seinen Geist übten. Die Abendempfindung ist das Insichkehren eines Menschen, wenn er die Gegenstände nach und nach in dem Schatten der Abenddämmerung sich verwischen sieht, das Bild jener anderen Schatten, in denen das Leben ebenso verschwinden soll. Der Dichter erräth, daß dieses Bild ihn ganz besonders angeht; er sagt seinen Freunden Lebewohl; er bittet sie, dem Orte, wo er ruhen wird, eine Thräne zu weihen. Bei seinem Grabe wird er sie erwarten, und ihre Seelen sollen seine [257] Anwesenheit fühlen. Nichts mehr und nichts weniger als das vertraute Geständniß Mozart's, das im Texte skizzirt und in der Musik ausgeführt ist. Die vocalen und instrumentalen Werke unseres Heros bezeugen stets in demselben Grade die unwandelbare Erhabenheit seiner Inspirationen, wenn er sie aus dieser Quelle schöpfte. Das Lied, welches uns beschäftigt, macht davon keine Ausnahme, aber es ist mehr als ein Lied, zuerst wegen seiner Ausdehnung (es zählt nicht weniger als 110 Tacte) und dann wegen des Styls der Composition selbst. Seine zahlreichen und sehr mannigfaltigen Sätze, hinsichtlich der Anlage, machen eine stricte thematische Einheit bemerklich, eines Satzes wie der ti vuol tradir ancor des Quartetts in Don Juan, welcher Satz ihm auch als Vorzeichnung in der Singstimme und als Ritornell im Accompagnement dient. Vom ersten bis zum achtundvierzigsten Tacte bringt dieser Gesang einen Eindruck hervor, wie ihn etwa die Stimme eines abwesenden Freundes zu erwecken vermöchte, dessen Lebewohl Einem ein Abendlüftchen zuflüstert. Langgehaltene Noten verklingen in geheimnisvollem Echo auf dem thematischen Satze, der jedesmal die Färbung der neuen Tonweisen annimmt, durch welche die Periode sich gewunden hat. Es scheint, als ob diese luftigen Cantilenen, diese Modulation voll der tiefsten Melancholie und Extase, die Moll-Töne eben so verkettete, wie die Worte eines Bewohners aus einer andern Welt, in welcher die Sprache der Seelen Musik geworden ist. Von dem Uebergange in Es-dur an: Werdet ihr an meinem Grabe weinen, verliert die Melodie, die zwar immer edel und schön, aber bestimmter und weniger duftig wird, ihren unauslöschlichen, begeisterten und ganz originellen Charakter, den sie bis dahin gehabt hatte. Sie nähert sich mehr dem Bekannten. Der Gedanke, durch welchen das Schauspiel des Abends und die traurigen Bilder [258] desselben, die er vorführt, eine Zeitlang eine andere Richtung erhalten hat, hat aufgehört, in unbestimmter Unendlichkeit und bei den Vorahnungen des Todes umherzuirren. Positive Neigungen erheben sich mit Macht im Herzen des jungen Mannes, der sich sterbend fühlt; Liebe und Freundschaft finden ihre irdische Sprache wieder, denn es handelt sich darum, Abschied von ihnen zu nehmen. Sie ist es, welche natürlich das letzte und zärtlichste Lebewohl empfängt, sie, seine Gattin oder Geliebte, wir wissen es nicht. Auf diese Weise unterscheidet sich diese himmlische Composition von der zweiten und bleibt, wie wir hinzusetzen dürfen, nur wenig hinter dieser zurück.

Es verdient wohl bemerkt zu werden, daß die schönsten und originellsten Stücke der Sammlung sich aus dem Jahre 1787 herschreiben: Abendempfindung, An Chloe, Die Alte und Unglückliche Liebe. Das Jahr, welches Don Juan hervorbrachte, war fruchtbar! Mozart ruhte von seiner Arbeit an dem wunderbaren Meisterwerke damit aus, daß er Muster für das Violinquintett und das Lied hervorbrachte.

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 251-259.
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