2.

Die restaurirten Partituren Händel's.

[259] Einer der ehrenvollsten Züge in Mozart's Charakter war der, daß er gern allen großen Männern in der Musik Gerechtigkeit widerfahren ließ, ohne je in seiner Unparteilichkeit einen Unterschied zwischen Ausländern und Landsleuten, Verstorbenen und Lebenden zu machen. Man hat in der Biographie gesehen, in welchen Ausdrücken er von Haydn sprach; man wird sich ebenso erinnern, daß Mozart im Jahre 1789, nachdem er bereits seine Quartetts und Quintetts für die Violine, alle seine Symphonieen und Don Juan componirt hatte, doch noch Zeit fand, an Bach's Musik zu lernen. Händel zu Liebe ließ er sich sogar zu dem Metier eines Arrangirers herab. Und doch war Händel in Vergessenheit gerathen; von Bach wußte man nur noch den Namen, und der größere wie der bessere Theil seiner Werke schlief als Manuscript in den Archiven der Thomasschule in Leipzig; Bach! Händel! wir können diese Leute nicht, hätten Einem die Kenner von 1789 erwidert. Spreche man uns von Paisiello, dem Componisten der Molinara, von Martin, dem Schöpfer von Cosa rara; das sind göttliche Menschen. Was sagte aber von diesen Männern der Epoche der Mann der Nachwelt, der gleich Cassandra prophezeihte und wie sie das Unglück hatte, stets [260] anderer Ansicht als das Publicum zu sein? Mozart sagte von Paisiello: Man kann den Dilettanten, welche in der Musik nichts weiter als Unterhaltung suchen, Nichts mehr empfehlen. Von Martin sagte er: Es finden sich in der That sehr hübsche Sachen in seiner Musik; aber in zehn Jahren wird sie vergessen sein. Um das ganze Gewicht des Urtheils zu würdigen, welches den ersten der beiden Meister betrifft, muß man eine Folgerung darin voraussetzen, welche in Mozart's Behauptung mit inbegriffen ist. Die Zeit mußte diese Behauptung auf folgende Weise umkehren, um deren ganze Richtigkeit darzuthun: Niemand brauchte weniger als Paisiello Denen empfohlen zu werden, welche in der Musik nichts als eine Unterhaltung suchen, weil nämlich Niemand die Leute mehr unterhielt, als er, vor dreißig oder vierzig Jahren. Ist das aber heut' zu Tage noch so und sind wir nicht bereits tausend Meilen von Paisiello entfernt? Das Urtheil über Martin drückt eine analoge Meinung, aber mit viel bestimmteren Worten aus. Ich sah die Cosa rara im deutschen Theater in Petersburg im Jahre 1825 oder 1826 darstellen. Die jungen Musikfreunde, unter die ich damals gehörte, kannten den Namen der Oper vom Hörensagen, aber der Name ihres Componisten war dieser Hauptstadt, die er ehemals ganz erfüllte, ganz fremd geworden. Wir gingen daher, dieses Meisterwerk zu sehen, und das Publicum wurde dergestalt dadurch befriedigt, daß auf die erste Vorstellung keine zweite mehr folgte. Von da an erschien sie nimmer auf dem Repertoire.

»Aus Hasse und Graun scheint Mozart nicht so viel gemacht zu haben, als sie verdienten. Vielleicht kannte er ihre Werke nicht.« Herr v. Nissen sagt dieß ganz ernsthaft, er oder einer der tausend Schriftsteller, deren Gedanken, Maximen, Sentenzen [261] und Denksprüche er gesammelt hat. Die Werke irgend Eines nicht kennen, das ist wohl der beste von allen denkbaren Gründen, um nichts darauf zu halten. Man vergesse nicht, daß einer derselben, Hasse, der »göttliche Sachse« war, die größte Berühmtheit der damaligen Zeit, der Schöpfer von hundert Opern, welche seit mehr als einem halben Jahrhundert auf allen Theatern Italiens und Deutschlands gespielt wurden, Hasse, der Zeitgenosse Mozart's. Und Mozart hätte seine Werke nicht kennen sollen! Es wäre ungefähr dasselbe, als wenn ein Musiker heut' zu Tage Rossini nicht kennte. Glücklicherweise ist Herr v. Nissen immer das beste Gegenmittel gegen sich selbst, wenn wir nur ein gutes Gedächtniß haben. Denn so lesen wir auf einer anderen Seite seines Sammelwerkes, daß Mozart von seinem zehnten Jahre an Emanuel Bach, Hasse, Händel und Eberlin, damals die vollkommensten Meister, studirt habe; ebenso erzählt er uns, wie Hasse der Beschützer unseres Heros bei seinem frühzeitigen Versuche auf dem Theater gewesen sei; endlich erzählt uns derselbe Herr v. Nissen, daß im Jahre 1771 der älteste und der jüngste der dramatischen Componisten, Hasse und Mozart, den Auftrag erhalten haben, der erste eine Oper, der zweite eine theatralische Serenade für die Vermählungs-Feierlichkeiten des Erzherzogs Ferdinand zu schreiben, und daß das Werk des knabenhaften Meisters in den Ohren der Mailänder das Werk eines Graubarts, des Siegers in Schlachten, gänzlich verdunkelt habe. Das mag hinreichend beweisen, daß Mozart Hasse's Musik kannte, wie er auch die von Graun, eines damals nicht weniger beliebten und berühmten Componisten, gekannt hatte. Wenn er dessen ungeachtet weder den Einen noch den Andern Bach und Händel gleichstellte, welche das Jahrhundert Hasse und Graun nachsetzte, so geschah dieß nur darum, weil [262] er vorhersah, daß Letztere trotz ihres unbestreitbaren Verdienstes in der Wage der Nachwelt leicht erfunden werden würden.

Mozart legte für einige italienische Meister aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine hohe Achtung an den Tag, für Alexander Scarlatti, Durante, Porpora und Leo, deren Compositionen man häufig auf seinem Pulte sah. Jomelli war der, welchen er auf die ehrenvollste Weise unter den auf jene folgenden Meistern auszeichnete; Jomelli, jener muthige Kämpe, der zu seinem Unglücke dahin strebte, was ein Anderer allein vollbringen sollte und konnte, dieser Johannes Huß der musikalischen Reformation, deren Luther Mozart war. Man weiß, daß Jomelli, der lange in Deutschland gelebt, Geschmack an der Musik dieses barbarischen Landes gefunden hatte, daß er bei seiner Rückkehr nach Neapel in seinen Opern zwei bis jetzt unversöhnliche Systeme der Composition versöhnen wollte, daß die Neapolitaner seine Bemühungen auspfiffen, und daß der Kummer dem armen Maestro einen Schlaganfall zuzog. Die Gleichförmigkeit in den Bestrebungen und nahezu auch des beiderseitigen Mißgeschickes, denn es fehlte wenig, so wäre Figaro und Don Juan in Wien ebenfalls ausgepfiffen worden, mußte, abgesehen von der Gerechtigkeit, die er den Talenten eines berühmten Kunstgenossen schuldete, die Sympathie unseres Heros erwecken. Wie dem aber sei, so sprach er sein Urtheil über den Schöpfer der Iphigenia in Aulide, das gelehrte Werk, das für Jomelli so traurige Folgen hatte, in nachstehenden Worten aus: Dieser Mann hat ein Genre, in dem er glänzt, und zwar der Art, daß wir ihn in der Meinung der Leute, die sich darauf verstehen, nicht darin überbieten können. Er hätte aber nicht darüber hinausgehen, und zum Beispiel im alten Kirchenstyle sich versuchen sollen.

[263] Wenn man einer Anekdote Glauben beimessen darf, welche Herr Seyfried erzählt, so hätte Mozart das ungeheure musikalische Glück, welches Beethoven machte, vorausgesehen und mit derselben kritischen Unfehlbarkeit angekündigt, welche wir in seinen Urtheilen über Menschen, die ihm vorausgingen oder die seine Zeitgenossen waren, kennen. Nachdem er einmal Beethoven30 über ein gegebenes Thema hatte improvisiren hören, soll Mozart zu seinen Freunden gesagt haben: Gebt auf diesen da wohl Acht. Dieser wird euch eines Tages was erzählen.

Wenn man diese Orakel-Urtheile gehört hat, welche die Aussprüche der Nachwelt, indem er denselben vorauseilte, dictirt zu haben scheinen, muß man ohne Zweifel sehr erstaunt sein, wie Schriftsteller unserer Tage, welche übrigens Mozart bewundern, und eben so sehr lieben, wie wir, ihn für eifersüchtig und neidisch haben halten können. Auf wen in der Welt hätte er können eifersüchtig sein und auf was? Auf den Genius, den wahren Ruhm, das Wissen? Aber er war der Freund und Bewunderer Gluck's, der Freund Haydn's, den er seinen Lehrer nannte, der Freund Albrechtsberger's. War er auf den Succeß eifersüchtig? Warum machte er dann nicht, statt sich an Werken zu Tode zu arbeiten, welche das Publicum nicht verstand, Arien wie die der ohnmächtig werdenden Prinzessin: Dove oh dove io sono? Diese Manier hätte ihn wenig gekostet und ihm viel eingetragen. Warum sollte er sie nicht dem Gelächter seiner Vertrauten preisgeben, während Andere einen Genuß anderer Art darin gefunden, welchen sie gern mit ihren Beifallsspenden und ihrer Börse bezahlt hätten? Eifersüchtig auf den [264] Erfolg? Ein Mann, der seinem Verleger rund heraus erklärte, daß er lieber Hungers sterben, als seine Feder nach dem Geschmacke der Käufer erniedrigen würde!

Wäre es denn aber etwas so Außerordentliches, wird man mir sagen, daß Mozart Diejenigen richtig beurtheilte, die dieselbe Kunst, wie er, betrieben? Sind die Musiker nicht immer die besten Richter in der Musik? Die besten in vielen Fällen; die schlechtesten in einigen anderen. Will man Beweise und zwar schlagende, so höre man Folgendes: Händel sagte, seine Köchin verstehe die Composition besser als Gluck; Paisiello fand in Haydn's Werken nichts als porcherie tedesche (deutsche Schweinereien); Grétry behauptete gefunden zu haben, daß Mozart die Statue in's Orchester und das Fußgestell auf die Scene gestellt habe. Die Italiener des achtzehnten Jahrhunderts sprachen das Anathema über die Oper unseres Heros als monstreuse Neuerungen aus. Soll ich hinzusetzen, daß Beethoven von Rossini nur in verächtlichen Ausdrücken sprach; daß er die Zauberflöte Don Juan vorzog, weil, wie er sagte, Don Juan noch italienische Musik, die Zauberflöte aber deutsche Musik sei! War aber die Sprache aller dieser Leute ganz aufrichtig? Sicher mögen Neid und Haß die Ausdrücke Derer vergiftet haben, welche mehrere dieser Urtheile fällten; der Charakter einiger derselben macht diese Vermuthung sogar sehr wahrscheinlich; aber Andere, und zwar die größere Anzahl, handelte, wie wir überzeugt sind, in ganz gutem Glauben, indem sie auf diese Weise sich aussprachen; denn zwischen den Beurtheilern und den Beurtheilten scheint uns ein natürlicher und bedeutender Widerwille zu bestehen, was ihre Werke beweisen. Händel, der Musiker quand même, der höchste Verächter der Texte zum Componiren, und Gluck, der mit seinen Dichtern ganz identificirt, zuweilen von ihnen ganz[265] verschlungen wurde; die Meister, welche aus System bei der Routine und dem Formalismus blieben, und Mozart, welcher gegen Routine und Form einen Krieg auf Leben und Tod führte; Beethoven endlich und Rossini, Beethoven und das italienische Genre! Welche Gegensätze des Geistes, der Talente und Ansichten, welch' abstoßende Elemente, welch' feindliches Zusammentreffen der Namen und Dinge!

Der Grund liegt darin, daß die Tonsetzkunst unermeßlich ist, eine Welt, deren Regionen nicht zu zählen sind, welche ihre Pole, ihre eisigen, gemäßigten und heißen Zonen, ihre Antipoden hat. In diesem weiten Universum der Harmonie wählen sich die Componisten eine oder mehrere Domainen, je nach ihrem Berufe oder ihren Interessen aus. Je nachdem sie sich für eine Gattung von Arbeiten entscheiden, so entscheidet diese Wahl einerseits über ihre Competenz, andererseits über ihre Vorurtheile. Es ist natürlich, und selbst unvermeidlich, eine ungeheure Wichtigkeit, die am Ende ganz exclusiv wird, auf Dinge zu legen, welche die Beschäftigung unseres Lebens ausmachen, und namentlich dann, wenn diese Dinge uns Ruhm und viel Geld eingetragen haben. Der Musiker, welcher sich in irgend einem Zweige seiner Kunst berühmt gemacht, hat sich darin specielle Kenntnisse erworben, die ihn zum besten Richter Derer machen, welche dieselbe Bahn durchlaufen oder durchlaufen haben. Seine Urtheile verlieren an ihrer Autorität, je mehr die Arbeiten, um die es sich handelt, sich von seiner eigenen Sphäre entfernen, und diese Autorität verschwindet vollends da ganz, wo von einem Individuum zum andern die ungeheure Entfernung besteht, welche die Antipoden der Composition hinsichtlich der Gattungen und Style derselben trennt. Zwischen dem, welcher im alten Kirchenstyle und dem, der im dramatischen Style der neuen italienischen Schule arbeitet, zwischen dem, welcher [266] Choräle, Kanons und Fugen macht, und dem, der seine Noten Vaudeville-Versen anpaßt, zwischen einem Verfasser eines durchgearbeiteten Violinquartetts und einer Symphonie im Style Mozart's und Beethoven's und einem Verfertiger von Variations brillantes; zwischen dem Contrapunctisten, welcher kühn genug ist, im Oratorium in Händel's Spuren zu treten, und dem Troubadour, der die klagende Romanze vorträgt und seufzt, und welchem schon der Geruch des Contrapunctes Ekel erregen würde; zwischen allen diesen Künstlern, sagen wir, ist in der That nichts gemein, als der Name Musiker.

Darin liegt die Haupt-, wenn auch nicht die einzige Ursache der Vorurtheile und Irrthümer, welche so oft die Männer der Kunst in ihren Ansichten befangen macht, wenn sie ihre Collegen beurtheilen sollen. Es gibt aber auch noch eine Verschiedenheit, wenn man vom philosophischen Gesichtspuncte ausgeht; die Einen betrachten die musikalische Kunst als Materialisten, die Anderen als Spiritualisten, und wieder Andere sehen darin nichts als eine Art von exacter Wissenschaft, welche gleich der Mathematik sich auf die Zusammensetzungen von Zahlen gründet. Die Letzteren sind aber heut' zu Tage sehr selten geworden. Außerdem gibt es aber noch Unterschiede vermöge des Charakters, des Humors, des Temperaments, des Schicksals, des persönlichen und nationalen Geschmacks. Zwei Künstler, deren Individualität und Schicksal einen bedeutenden Contrast bieten, werden in ihren Werken nicht weniger contrastiren, und als Künstler werden sie sich nur sehr wenig von einander angezogen fühlen. Es kann sogar zwischen ihnen eine so scharfe, so streng diametral, in allen oben angegebenen Beziehungen, sich entgegenlaufende Opposition bestehen, daß sie sich vermöge eines Naturgesetzes ebenso abstoßen, wie die feindlichen Pole zweier Magnete. Der Leser wird diese Antithese, in [267] den einflußreichsten Musikern unserer Zeit personificirt, bereits sich selbst genannt haben, und daher begreifen, warum Beethoven Rossini nicht lieben konnte.

Auf diese Weise hängen die Irrthümer der Musiker zu gleicher Zeit von den Grenzen ihrer Individualität als Menschen und Künstler ab. Von den Grenzen hinsichtlich des Genius und der Kenntnisse, so weit dieselben sich nämlich in dem Umfange irgend einer speciellen Domäne der Kunst sich erstrecken; von Grenzen aus dem philosophischen Gesichtspuncte, unter welchem im Allgemeinen die Kunst sich darstellen kann; von Grenzen des moralischen Individuums, das heißt von der Mischung, dem Ueberwiegen oder der ausschließlichen Herrschaft der angeborenen Neigungen und derjenigen äußeren Einflüsse, welche aus dem Menschen das machen, was er ist; von Grenzen der Nationalität oder der innern Hinneigung der Ideen, von dem Geschmacke und den Vorurtheilen, welche das Land, dem er angehört, intellectuell von allen anderen Ländern scheiden.

Nun denke man sich einen Musiker, für welchen keine dieser Grenzen besteht, und der sich nie über Jemand täuschte. Vor sechzig Jahren wäre unsere Art zu schließen mit allem Rechte sehr auffallend erschienen. Etwas als erwiesen anzunehmen, was noch in Frage steht, und die unzulässigste Hypothese gewissermaßen als Beweis voranzustellen, welch' ungeheurer Fehlschuß! Nun, diese abgeschmackte These ist heut' zu Tage eine Thatsache, und diese Thatsache ist Mozart. Gehen wir summarisch durch, was meine Leser bereits wissen, und sehen wir, wo für den universalen Musiker die verschiedenen Arten von Grenzen sich hätten finden sollen, welche wir angedeutet und definirt haben. Die Grenzen des Genius und der Kenntnisse, hinsichtlich der Gattungen und Systeme. Mozart hat durchaus Alles in der Musik geleistet und in Allem [268] ist er Muster. Für ihn gab es also keine Grenzen. Grenzen von dem Gesichtspuncte aus, der im Allgemeinen das Streben und den ästhetischen Charakter der Productionen der Kunst bestimmt. Mozart hat das Requiem componirt, ferner die erotischen und bacchischen Scenen in Don Juan, das heißt das Mögliche, was man mit Noten Heiliges und Profanes schaffen kann. Er hat Osmin und Leporello, Cherubino und Zerlina, den Commandeur und Anna, das heißt alles das geschaffen, was die Malerei der menschlichen Empfindungen Heiteres, Ueppiges, Leidenschaftliches, Tragisches, Geheimnißvolles, Furchtbares, Hohes und Erhabenes im gesteigertsten Maße hervorzubringen vermag. Er hat das Finale der Symphonie aus C und das Wiegenlied componirt; er hat die Ouverture zur Zauberflöte, den höchsten Sieg der Wissenschaft der Combinationen, und das Höchste, was der Wohlklang hervorzubringen vermag, componirt, indem er in einem und demselben Werke, die in der Musik diametral sich entgegenlaufenden Tendenzen vereinigte: die Doctrinen der Orechianti (Leute, welche die Musik nur nach ihrem Gehör beurtheilen) oder Materialisten und die der mathematischen Componisten. Was die aus der Nationalität entspringenden Grenzen anbelangt, so ist es wohl unnöthig, zu sagen, daß der Mann, welcher alle Zeitalter der Musik umfaßte und alle Schulen in sich vereinigte, den Einflüssen des nationalen Geschmacks und seiner Vorurtheile unzugänglich war. Von Idomeneo an ist Mozart's Musik weder deutsch, noch italienisch, noch französisch, wie Herr Fétis in einem trefflichen Artikel31, sehr gut bemerkt, diese Musik ist Mozartisch, das heißt universal. Was endlich das Moralische [269] des Individuums anbelangt, so haben wir übrigens gesehen, daß der gewissermaßen etwas fabelhafte Charakter unseres Heros eine Mischung aller erdenkbaren Contraste war. Weil Alles in ihm lag, so hatte Mozart zur Beurtheilung und Würdigung seiner Collegen eine sehr einfache Regel. Er brauchte nur zu sehen, ob in ihren Werken etwas von seinem Genius und seiner Natur sich vorfinde. Entdeckte er eine intellectuelle Verwandtschaft, so war das Werk, mochte es noch so leicht sein, doch etwas in seinen Augen. S' ist doch etwas d'rin. Fand sich diese im Gegentheil nicht darin vor, mit anderen Worten, wenn der Componist kein Genie irgend einer Art zeigte, so sah Mozart Nichts darin. Ist ja all' nichts. Je wichtiger und zahlreicher die Beziehungen zwischen ihm und einem Anderen waren, um so mehr schien ihm der Andere zu sein; je geringer sie waren, um so mehr näherte er sich der Null. Daraus entstand eine Art von classificirender Gerechtigkeit, die ebenso unfehlbar in ihrem Princip als sie billig eingetheilt und frei von jedem engherzigen oder beschränkten Vorurtheile in seinen Anwendungen war. Auf diese Weise, wird man sagen, mußte sich aber auch Mozart für den größten Musiker der alten und neuen Zeit halten. Die Folgerung ist zu logisch, als daß sie den geringsten Einwurf zuließe. Ja, Mozart theilte darin die Ansicht der Nachwelt und Joseph Haydn's; und wenn er es wahrscheinlich auch mit dürren Worten sagte, so scheint er es doch auch nie verhehlt zu haben. Ein Mann von Genie weiß immer, was er werth ist; aber trotz einer derartigen Ansicht von sich selbst, so gerecht sie übrigens war, blieb Mozart doch sein ganzes Leben hindurch der einfachste und anspruchsloseste Mensch, und das ist das Außerordentlichste. Wer dem nächsten Besten etwas vorzuspielen, etwas zu schreiben vermag, ohne eine andere Entschädigung, als die Theilnahme des Zuhörers und das [270] Vergnügen, sich ihm verbindlich zu zeigen, zu erwarten, wer seinen Nebenbuhlern zum Ruhme Beifall klatschen und sie zu lieben vermag, besitzt sicher einen Charakter, dessen Grundzüge die dem Hochmuthe entgegengesetztesten Eigenschaften andeuten. Das Bewußtsein seiner Talente, ihrem ganzen Umfange nach, war also bei ihm nichts als eine natürliche Würdigung einer erwiesenen Thatsache. Gerade wie wenn er eine Gestalt von acht Fuß Höhe gehabt hätte, so würde er sich für das größte unter den zweifüßigen Thieren ohne Federn, nach Plato's Definition, gehalten haben. Wir müssen aber sagen, daß dieses volle und gänzliche Bewußtsein dessen, was er war, auf die entscheidendste Weise auf Mozart's Geschick und Arbeiten seinen Einfluß übte. Weil er wußte, daß er der erste Musiker auf der Welt war, so achtete er auch das Talent, welches Gott ihm verliehen, so hoch, daß er vor Allem nach dem Beifalle des erleuchtetsten der Richter trachtete, seines eigenen nämlich, und diesen zu erreichen strebte, und zwar auf Kosten alles dessen, was gemeinem Ehrgeize und gemeinen Wünschen schmeichelt; auf Kosten der Popularität und des Glückes, auf Kosten der Gesundheit und des Lebens. Wenn darin noch Eitelkeit liegt, so muß man wenigstens zugeben, daß noch nie Eitelkeit so sehr der Tugend ähnlich sah.

Die Betrachtungen, in welche wir uns eingelassen haben, so fremd sie dem Anscheine nach unserem Artikel erscheinen, schließen sich in der That demselben sehr eng an, weil sie die Arbeit erklären, welche uns beschäftigen wird. Unter allen Musikern, alten und neuen, ist Händel derjenige, bei welchem Mo zart die meisten Beziehungen mit sich fand; den er nach Idee und Form am directesten, nach Buchstaben und Geist in seinen Kirchencompositionen nachahmte. Für keinen Anderen hätte sich Mozart der ebenso mühsamen und undankbaren Aufgabe unterzogen, alte [271] Partituren zu arrangiren und zu vervollständigen. Die drei Werke Händel's, an welche er Hand anlegte, sind: Acis und Galathea, der Messias, Cäcilia oder das Alexanderfest.

Wir werden unsere Bemerkungen auf eines dieser Werke beschränken, welche man nicht für sich selbst zu prüfen braucht, sondern nur in Hinsicht dessen, was Mozart hinzusetzte und ausmerzte, weil er bei allen vieren eine und dieselbe Methode anwendete. Unsere Wahl fällt natürlich auf den Messias, eine monumentale und erhabene Partitur, welche die Vor-Mozart'sche Zeit in der ganzen Erhabenheit eines ihres Gegenstandes würdigen Styles beherrscht, und welcher die wahren Musikfreunde einen begeisterten Cultus weihen sollten, als dem glänzendsten Pfande ihres Glaubens an die Fortdauer der Musik. Es sind jetzt mehr als hundert Jahre darüber hingegangen, daß der Messias componirt wurde (1741). Ich werde Niemand sagen, daß er hingehen solle das hundertjährige Meisterwerk zu hören, denn ach! wo könnte man es hören?32 Aber man lese es wenigstens, wenn man lesen kann, und versichere sich, daß es heut' zu Tage etwas leichter wäre, das Münster in Straßburg noch einmal zu bauen, als diesen Koloß von einer Partitur.

Als der Musikfreund Baron von Swyten Mozart vorschlug, die fraglichen Werke zu arrangiren, erinnerte er sich, was [272] dieser einmal von ihrem Verfasser gesagt hatte. Niemand besitzt wie Händel das Geheimniß der großen Effecte. Wo er will, trifft er wie der Blitz; und wenn seine Arien und Solo's auch zuweilen etwas schleppend sind, nach der Mode der damaligen Zeit, so findet man wenigstens Etwas darin. Diese Worte wurden theilweise das Programm zu der Arbeit, die man von ihm verlangte. Da, wo Händel wie der Blitz trifft, das heißt in den Chören, änderte Mozart nichts; da, wo er schleppend ist, nach der Mode seiner Zeit, das heißt in den Arien, die gewöhnlich etwas gebrechliche Partie seiner Werke, erlaubte sich der Arrangirende, die zu kalten und zu monotonen Cantilenen abzukürzen und sie selbst durch einige Linien Recitativ zu ersetzen. Das Quartett der Saiteninstrumente, die fast einzige Begleitung Händel's, wurde gelassen, wie sie war, außer daß einige Nachlässigkeiten im Styl ausgemerzt wurden, welche einem Componisten sehr zu verzeihen waren, der, weil er nur ziemlich schlechte Orchester zu seiner Disposition hatte, sein Hauptaugenmerk auf die Singstimme richtete. Was das Wichtigste und Schwierigste war, war das Hinzufügen der Blasinstrumente in dem Verhältnisse, wie es die moderne Musik, wie sie Mozart selbst geschaffen hatte, erforderte. Man setzt leicht, wenn man will, eine oder mehrere Stimmen einem Texte von einer im melodischen Styl geschriebenen Partitur hinzu; aber in den im Contrapuncte gearbeiteten Werken ist dieses Hinzufügen ein wahres Problem, dessen Lösung meistens sich zwischen zwei Klippen befindet. Entweder machen die hinzugefügten Stimmen nichts als eine Erweiterung und Verstärkung der ursprünglichen Instrumentation aus, und dann sind sie nur Ausfüllstimmen; oder man bringt in die Musik, die man arrangiren soll, [273] melodische Anlagen hinein, die zuvor nicht darin waren, Combinationen, welche dem Autor fremd sind, und dann ist es ein Sacrilegium, wenn derselbe Georg Friedrich Händel heißt. Um diesen Uebelstand und diese Gefahr zu vermeiden, bedurfte es vielleicht nicht weniger des ausgesuchten Geschmacks des Arrangirenden, eine bis zur Abgötterei getriebene Achtung vor dem Texte, eine über jede Anfechtung erhabene contrapunctische Gewandtheit; es bedurfte, sagen wir, des ganzen Wissens und Könnens unseres Heros und außerdem noch seiner ehrenvollen Schwärmerei für Händel. Ich zweifle, daß viele seiner eigenen Partituren ihm so viele Mühe verursacht haben, als diese Arbeit des Arrangirens und Vervollständigens. In den Columnen der Blasinstrumente findet man auch nicht einen Gedanken, einen Satz, eine Figur, einen Gang, der nicht Händel zugehörte. Dabei übersehe man nicht, daß diese Instrumente häufig eine thätige und persönliche Rolle spielen, daß ihr Gang sich von dem des Quartetts deutlich unterscheidet, und daß ihre Zahl zuweilen die Totalität der harmonischen Kräfte auf mehr als zwanzig Linien in den Klammern trägt. Ich kann es gar nicht sagen, mit welchem Interesse und welcher Neugierde ich die Tausende von Auswegen untersucht habe, welche der Arrangirende sich ausgedacht hat, um Händel auf das System moderner Instrumentation zurückzuführen, ohne ihm einen Zug seiner majestätischen und strengen Physiognomie zu rauben, ohne ihm je durch irgend eine einer andern musikalischen Individualität entlehnte Färbung zu ändern. Der große Triumph Mozart's bei dieser Gelegenheit bestand darin, daß er Mozart nie erlaubte, eine Sache zu sagen, die Händel nicht in den Kopf gekommen wäre, und doch war der Genius der beiden Meister, obschon in vielen Hinsichten verwandt, doch in vielen anderen verschieden.

[274] Trotz der Reduction einiger Arien des Messias und der Umänderung einiger derselben in Recitative, behielt Mozart eine Anzahl bei, welche, wie ich fürchte, den Liebhabern jetziger Zeit noch zu beträchtlich erscheinen werden. Es bleiben noch 16 von 50 Numern, welche das arrangirte Oratorium mit den Chören und Recitativen zählt. Alle diese Piecen wurden nicht überarbeitet. Einige derselben zeigen sich ohne alles andere Accompagnement als das Quartett, und wir müssen bemerken, daß im Allgemeinen die Melodie und Harmonie Händel's nirgends eine Veränderung erlitten haben, weil die Vocalstimmen, die Violinen und der Baß mit Ausnahme der Verkürzungen unangetastet geblieben sind.

Sehen wir zuerst, wie sich Mozart bei den Solo's benahm. Wählen wir zum Anfange nicht aus; öffnen wir die Partitur auf gut Glück. Gut, hier finden wir die Numer 8, eine Arie des Contraalts, welche mit einer Flöte, zwei Clarinetten, zwei Fagotten und zwei Hörnern ausgestattet worden ist. Die ersten Tacte des Ritornells, welche den Vocalgesang andeuten, gehen in Achteln, welche aber die Violinen bald mit einer Figur in Sechszehnteln vertauschen, die anmuthig das ganze Stück beherrscht. Die Flöte schließt sich in der hohen Octave an und die anderen Blasinstrumente folgen, mit Ausnahme der Hörner, einem melodischen und rhythmischen Gange, der den Anfangsgedanken entnommen ist. Bald wird die Figur mit Sechszehnteln von Allen zugleich gespielt, bald vertheilt sie sich in Nachahmungen zwischen den beiden Phalanxen des Orchesters, des alten wie des neuen, und bald füllt sie die Lücken des ursprünglichen Textes da aus, wo der Baß den Stimmgesang allein begleitet, was in Händel's Musik sehr häufig vorkommt. Die andere Figur steht ihr beständig gegenüber unter verschiedenen Formen, so daß die Arie [275] vollständig und köstlich instrumentirt, ganz mit den Ideen und Motiven des Verfassers in Einklang gebracht ist.

Gerade wie in seinen eigenen Werken, so hat Mozart auch hier den Reichthum der Instrumentation sehr ungleich vertheilt, je nach dem Charakter und der Wichtigkeit der Stücke. So ist zum Beispiel eine Baß-Arie da, die Numer 14, welcher er nichts als zwei Hörner beigefügt hat. Der Text des Stückes, welcher sich auf das letzte Gericht bezieht, verlangt die Beiziehung dieser Instrumente, und der Charakter der Musik erheischte es noch auf viel formellere Art. Die fragliche Arie erscheint mir als eine der schwächsten in dem Oratorium. Der Ordner hat den Ausdruck eines Gemäldes nicht modificirt, welches er später mit so vieler Erhabenheit neu bearbeiten sollte; aber er fügte das hinzu, was wesentlich dem Colorit fehlte, die Spiele der Blechinstrumente und ihre Fanfaren, welche das Quartett in einer Musik mit Orchester nicht ersetzen kann.

Man findet Stücke, welche noch viel sparsamer bedacht worden sind, wie unter anderen die Numer 48, die nur um einen einzigen Gang für das Fagott vermehrt wurde. Die Numer 48 ist eine Sopran-Arie, eines der schönen Stücke des Werkes, die melodisch, ausdrucksvoll ist, und ganz bewunderungswürdig wäre, wenn nicht zwei oder drei veraltete Cadenzen sich darin befänden. Man findet in den Arien des Messias viele schöne melodische Gedanken: es ist immer etwas d'rin, wie unser Heros sich ausdrückte; was sie aber fast immer verderbt, das ist der Mangel der Vocalperiode, und aus diesem Grunde die Menge vollkommener, häufig ungefälliger und monotoner Cadenzen; die endlose Wiederholung der Worte; die Ueberschwemmung mit Trillerläufen oder kleinen geschwänzten Noten, die auf dem Gesange wie eine Perücke von schlechtem Geschmacke sitzen. Diese Fehler kommen [276] übrigens Händel nicht persönlich zu; sie brachte der Formalismus seiner Zeit mit sich. Um aber wieder auf die Numer 48 zurückzukommen, so bemerken wir, daß sieben auf einander folgende Tacte des Ritornells, welche oft im Laufe des Stückes vorkommen, eine gewisse melodische Leere, Accorde, welche kurz in dem gesteigerten Tempo angeschlagen wurden, und auf welche Pausen in dem langsamern Tempo folgten, darboten. Weil diese Accorde nichts Bemerkenswerthes für sich selbst bieten, so erräth man nicht, zu was eine so lang gedehnte Leere dienen soll. Mozart hat an dieser Stelle eine contrapunctische Figur angebracht, welche dem Fagott übertragen ist, sich mit seltener Anmuth windet und bewunderungswürdig sich der Wiederaufnahme der Melodie in den Saiteninstrumenten anschließt. Ah! da hat man einen Gang, wie man sie von dem Ordner gewöhnt ist. Nein, dieser Typus gehört Händel zu. Man betrachte die Tacte 68 und 69. Der Ordner hat der Figur mehr Entwicklung gegeben; und wenn er sich diese Freiheit genommen hat, so geschah es darum, weil er Etwas an die Stelle setzen wollte, wo Nichts war. Uebrigens schmiegt sich diese Figur dem Ensemble der Instrumentation, deren Hauptzierde sie ist, so vollkommen an, daß man sie gar nicht von ihr getrennt denken kann.

Indem aber Mozart für Händel's Arien that, was Menschen möglich war, machte er entfernt nicht den Anspruch, das unverbesserliche Unrecht der Jahre gut zu machen. Diese so reich ausgestatteten Arien, die aber immer nach der Mode ihrer Zeit waren, würden noch den Hof Georg's I. entzücken, wenn er wieder an's Licht käme, auf unsere Ohren würden sie aber nicht denselben Reiz üben. Wenn es sich um Mode handelt, so ziehe ich doch die heutige vor. Mozart's Aufgabe wurde bei weitem weniger undankbar in den Chören, dem ruhmvollen und [277] unvergänglichen Theile von Händel's Werken, in welchen die Spuren des Zeitgeschmacks sich verwischen, um das wahrhaft Schöne, das aller Länder und Zeitalter, herrschen zu lassen. Diese Meisterwerke wären stets geblieben, was sie sind, selbst ohne Beihilfe der modernen Instrumentation, welche allerdings ihren Effect bedeutend zu erhöhen vermochte. Wenn man sich eine allgemeine Vorstellung von der Methode machen will, welche der Ordner zur Vervollständigung des Orchesters bei den Chören Händel's befolgt hat, eine Methode, welche ihm die Natur der Dinge selbst an die Hand gab, so braucht man sich nur einer unserer früher gemachten Bemerkungen zu erinnern. Wir haben gesagt, daß bei den contrapunctisch gearbeiteten Stücken der facultative Zusatz einer oder mehrerer reeller Stimmen stets Schwierigkeiten biete. Diese Schwierigkeiten werden größer je nach der Zahl der zuvor componirten Stimmen und namentlich nach Maßgabe einer riguröseren Anwendung des fugirten Styls, das heißt nach einer mehr hervortretenden Verschiedenheit im melodischen und rhythmischen Gange jeder dieser Stimmen. Wenn nun diese Strenge auf's Aeußerste getrieben ist, wie in der stricten Fuge zum Beispiel, bei der alle Stimmen von gleicher Wichtigkeit sind, wo Alles sich hält, sich verkettet und nach den allgemeinen und besonderen Gesetzen der Gattung unter sich übereinstimmt; in einer gut construirten Fuge (und die Händel's sind bewunderungswürdig), welche nichts als das Nothwendige zuläßt, dieses aber ganz verlangt, dann reducirt sich die Möglichkeit eines Zusatzes natürlicherweise für den Ordner auf Nichts. In Folge davon lassen sich die Chöre des Messias hinsichtlich der Arbeit, denen sie unterworfen wurden, in drei Classen eintheilen: in die Chöre mit mehr oder weniger einfachem Contrapuncte, in die Chöre mit fugirtem Contrapuncte und in die eigentlichen Fugen. Mozart stand es frei, den ersteren [278] viel hinzuzufügen, und er benützte diese Zwanglosigkeit, stets dem Grundsatze getreu, Händel nur durch Händel zu vervollständigen. In den Chören der zweiten Kategorie that er bald mehr, bald weniger, je nachdem die Musik sich mehr dem einfachen oder fugirten Style nähert. Den regelmäßigen Fugen fügte Mozart nichts bei, so weit es sich um die reellen Stimmen handelte. Die Mehrzahl der Fugen sind mit ihrer ursprünglichen Instrumentation geblieben; und wenn auch in dem herrlichen Finale, Amen, Numer 50, das ebenfalls eine Fuge ist, die Phalanx der Blasinstrumente ganz zusammenwirkt, so thut sie doch nichts Anderes, als die Stimmen und Partieen des Quartetts zu verstärken. Man sieht, daß je mehr Händel sich der Domaine nähert, auf welcher sein Genius in seiner ganzen Größe und Majestät glänzt, Mozart's Aufgabe in demselben Verhältnisse sich zu verringern scheint. Sie verringert sich, ohne allen Zweifel, wenn man diesen Theil der Arbeit nur von dem Gesichtspuncte der Erfindung aus betrachtet; aber die Auswahl der Ausfüllungs-Instrumente und ihre akustische Verbindung, das gewissenhafte Aufsuchen der Stelle, wo man jedes am vortheilhaftesten placiren konnte, die Vertheilung ihrer Gruppen, die Kunst, sie zu rechter Zeit sprechen zu lassen, die von ihrem rechtzeitigen Schweigen abhängt, die tiefe und gelehrte Berechnung alles Dessen, was den materiellen Effect einer an und für sich schon sehr großartigen Musik erhöhen könnte, sollte all' Dieß für Nichts zählen? Sicher nicht, und wir dürfen fest behaupten, daß ein Zuhörer, welcher bei einem mager durch das Quartett accompagnirten Stücke Händel's kalt geblieben ist, sich auf die Kniee niederlassen würde, wenn er dasselbe Stück in der Fülle und in dem Reichthume unserer modernen Instrumentation hören würde. Was fehlte zum Beispiel der Numer 21, einem Chore von düsterer und furchtbarer Majestät, durch dessen [279] ungleiche Harmonie von steigernden Retardationen eine Figur halb aus kurz abgestoßenen Sechszehnteln und Zweiunddreißigsteln bestehend, welche abwechselnd Staccato in den oberen und unteren Stimmen des Orchesters angeschlagen werden, sich zieht. Es war hier nicht der Ort, neue melodische Anlagen anzubringen, dagegen ließ diese bewunderungswürdige harmonische Reihenfolge sich in verbundenen Noten vom längsten Werthe analysiren, und Mozart trug nach seiner gewohnten Weise diese Analyse den Blasinstrumenten auf. Der Chor, so großartig er auch bereits schon war, hat unendlich dadurch gewonnen. Nehmen wir noch die Numer 37, das berühmte Halleluja, diese ebenso erhabene Hymne, welche an beiden Enden der Schöpfung mit der instrumentalen Kraft, welche ihr der Ordner gegeben hat, nachzutönen scheint. Würde sie nicht heut' zu Tage um die Hälfte vermindert, wenn nicht gar vernichtet, diese unbegreifliche Macht dieses Halleluja, wenn man der tonischen Masse den Mozart'schen Beitrag entzöge; die Flöten, die Oboen, die Clarinetten, die Fagotte, die Hörner und vielleicht auch die Trompeten und Pauken?33

[280] Die Arbeit des Ordners, welche religös dem Geiste und dem Buchstaben des Textes angepaßt ist, vermischt sich überall mit ihm, und zwar dergestalt, daß auch keine Spur von Einschiebseln oder Flicken die Verschiedenheit der Handarbeit verräth. Noch nie zeigte ein altes Monument, in neueren Zeiten vollendet oder restaurirt, in den hinzugefügten Theilen eine vollkommenere Uebereinstimmung mit den Gedanken des ersten Baumeisters, und täuschte die Augen durch ein künstliches Alter mehr als diese Arbeit. Wir fragen, an welcher Numer, auf welcher Seite, an welchem Tacte erkennt man Mozart? Ueberall sieht man nur Händel, den Componisten Alt-Englands, seine imposante Gestalt, seinen erobernden Blick, seine buschigen Augenbrauen, seine ungeheure Perücke und seinen verbrämten Rock34. Nur sieht man ihn durch seine eigene Schönheit verschönert, durch seinen eigenen Reichthum bereichert; seine Perücke wurde neu gelockt und gepudert, und breitere und glänzendere Verbrämungen zieren sein Hofkleid, dessen Schnitt nicht angetastet wurde. Der ehrwürdige Hundertjährige singt noch die Cantilenen seiner Jugend, und zwar Note für Note, aber er singt weniger oft und weniger lang. Mußte man nicht im Interesse des großen Musikers selbst, dessen Meisterwerke man der Aufführung zurückgeben wollte, die Geduld der Liebhaber von 1789 schonen, [281] welche Gluck, Piccini, Sacchini, Paisiello, Salieri, Cimarosa und Mozart vor Allen, an ganz andere Melodieen gewöhnt hatten.

Wir haben gedacht, daß diese wenigen Bemerkungen über eine Arbeit, bei welcher Mozart zu dem Metier eines Arrangirenden herabstieg, für den Musiker von Interesse sein dürften. Ist es nicht einzig, ist es nicht rührend, den productivsten, den hervorragendsten, den universalsten Genius, den es je gab, so viele kostbare und gezählte Tage der Ausschmückung umfangreicher Partituren sich widmen zu sehen, die nicht die seinigen waren; er, der in demselben Zeitraume einen ebenso großen Band von Original-Werken geliefert hätte! Und mit welcher Liebe, welcher Gewissenhaftigkeit, welcher persönlichen Verläugnung hat er diese allerdings verdienstlichen, aber schwierigen und undankbaren Arbeiten ausgeführt, wie sie die Welt nennen wird, weil sie seinen Ruf nicht vergrößerten und sicher seiner Börse nicht viel eintrugen. Jedenfalls viel weniger, als wenn er seine Zeit dazu verwendet hätte, Tänze für die Kneipen im Prater zu schreiben.

Uebrigens wußte Mozart selbst nicht, zu welchem Endzwecke diese Arbeit ihm auferlegt worden war. Er wußte als junger Mann nicht, dem nur noch drei Jahre zu leben übrig blieben, daß bald Händel's Geist ihm den Werth seiner Aufopferung hundertfach zurückgeben werde. Bewundern wir die Wege der Vorsehung. In den Jahren 1788, 1789 und 1790 war es, daß Mozart Arbeiten unternimmt und verfolgt, deren Zweck dahin geht, ihn tief in die Geheimnisse der Manier Händel's einzuweihen, einer der ersten unter den Doctoren des in die Harmonie übersetzten christlichen Wortes. In eben diesem Jahre 1789 kommt unser Heros auch nach Leipzig, und hört dort zufällig die Motetten von Bach, jene Musik, aus der Etwas zu lernen [282] war. Er lernte in der That und zwar so viel, daß zwei Experten, deren Autorität ich so glücklich bin, anführen zu können, Rochlitz und der Abt Stadler, die Spuren dieses gründlichen Studiums und der Vocalmusik Bach's, der Erste im Requiem, der Zweite in der Zauberflöte bezeichnet haben. Ohne mich mit solchen Richtern messen zu können, fürchte ich nicht, meinerseits nach der Durchsicht der Partitur des Messias und nach Stadler's Ausspruche selbst, zu bestätigen, daß eine der zahlreichen und außerordentlichen Bedingungen, unter welchen einem Sterblichen vergönnt sein konnte, das Requiem hervorzubringen, mehr das Studium Händel's als Bach's war. Erst im Jahre 1791 sollte Mozart das Requiem componiren und sterben!

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 259-283.
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