Einleitung.

[291] Der geneigte Leser hat an der Hand des von seinem Gegenstande so innig erfüllten und durch denselben zu so beredter, geistreicher und gewissenhafter Belehrung entflammten russischen Kunstkritikers ein so ausgedehntes Reich der Tonkunst durchwandert, daß seine Aufmerksamkeit fast erschöpft und seine Wißbegierde vollständig befriedigt sein dürfte. Sieben klassische Opern, drei große Sinfonien, das Requiem, die Quartetten und Quintetten – Alles dies in so eingehenden, so überzeugenden Analysen und mit Hülfe einer anstrengenden Erinnerung oder einer mühsamen Partiturvergleichung in sich aufgenommen zu haben, dürfte wohl einen Schluß der Wanderung erheischen. Ulibischeff hat dies Bedürfniß für seine Leser wohl auch gefühlt, und hat sein Werk beschlossen, ohne seine Aufgabe vollständig gelöst zu haben. Denn er mußte wohl wissen, daß er nicht das ganze herrliche Reich dieses Tonfürsten dem Leser erschlossen, daß noch viele Distrikte zu durchwandern waren, und zwar keine bloßen abhängigen Provinzen oder vom Mutterlande abgesonderte Colonien, sondern Distrikte, die von der innersten Wesenheit und Zusammengehörigkeit des Reiches nicht getrennt werden können, ohne dasselbe in seiner Macht und Pracht zu schwächen. Wollte er aber denselben Maßstab an die Schilderung des ganzen Gebietes anlegen, den er zur[291] Erforschung der größeren Tonwerke angewendet hat, so müßte sein Werk, dessen Zweck nicht die wissenschaftliche Haarspältigkeit einer Otto Jahn'schen Voluminosität, sondern nur der eines geistreichen Kunstgefährten war, bald die Grenzen der erwärmenden Anregung und belehrenden Unterhaltung überschritten haben. Wohl wird ihm der Leser Dank dafür wissen, daß er ihm diesen Ruhepunkt gewährte, und jetzt, da dieser Ruhepunkt durch Abschluß des Ulibischeff'schen Werkes eingetreten ist, dürfte das Interesse an den noch nicht analysirten übrigen Compositionen Mozart's wohl bei den meisten Lesern auf's Neue wach geworden sein. Diese zu befriedigen ist die Aufgabe, die sich der Herausgeber dieser neuen Ausgabe zu stellen vornahm, weil es ihm für die Würdigung Mozart's und für die Erhaltung und Verwerthung seiner Kunstschätze unerläßlich schien, daß der Leser sich auf dem ganzen Gebiete orientiren könne.

Hier mußte aber nun ein ganz anderer Maßstab angelegt, mußten ganz andere Mittel zur Ausführung angewendet werden. Denn erstens sollte das ganze Werk die Grenze von vier Bänden nicht überschreiten – da vier Bände, selbst in unserem kleineren Formate einen Gegenstand der Monographie wesentlich erschöpfen können, und zweitens handelt es sich jetzt nicht mehr um die Erweckung einer Begeisterung für den Namen Mozart, oder um die Beweisführung, daß er »den erhabensten Rang35 auf dem musikalischen Parnaß« einnimmt, denn wenn der Leser sich noch [292] nicht seine eigene Ueberzeugung erworben hat, so stünde es schlimm mit dem Werthe des Buches. Unsere Aufgabe kann daher nur die sein, dem Leser in knappen, gedrängten Zügen diejenigen übrigen Compositionen Mozart's vorzuführen, die einen unvergänglichen Werth haben, und welche dem Musikfreunde nicht oft genug an's Herz gelegt werden können, da sie wirksamst dazu beitragen können, dem oft so schwankenden Geschmack der heutigen Zeit eine feste, unwandelbare Grundlage zu geben und jenes Nationalgefühl des Deutschthums zu stärken, das wir nur auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft – weil noch nicht auf dem der Politik – in uns pflanzen können.

Die Gedrängtheit der folgenden Uebersicht und die strenge Sichtung des Materials wird um so mehr gebieterisch, da noch eine überaus große Anzahl von Compositionen vorliegt. Noch weisen die Kataloge über 30 kirchliche Werke (Messen, Litaneien, Offertorien, Motetten, Hymnen, Cantaten u.s.w.) auf, ferner über 40 Concert-Arien, über 50 Lieder mit Clavierbegleitung, 35 Orchester-Sinfonien, 10 Violin-Trio's, 5 Violin-Concerte, 29 Clavier-Concerte, 23 Clavier-Trio's, 31 Clavier-Solo's (zweihändig), 4 Sonaten für Clavier (vierhändig), außer den Variationen, Rondo's, Divertissements für die verschiedenartigsten Instrumente, Canons für den Gesang, und den Opern aus der Zeit seiner Jugendreifung, und einer Masse von Fragmenten und Entwürfen, die in seiner Verlassenschaft gefunden wurden.

Ein Wegweiser durch dieses labyrinthische Gebiet sollen die folgenden Blätter sein. Wie viel unvergänglich Schönes werden wir da noch finden, das Mozart in der kurzen Spanne Zeit geschaffen, die ihm hienieden vergönnt war!

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 291-293.
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