1. Sippe: Prioninen

[163] Die jetzt zu besprechende Familie umfaßt drei- bis viertausend Arten der zum Theil stattlichsten vierzehigen Käfer, gleich schön in ihrer edlen, Kraft und Selbstvertrauen ausdrückenden Körperform wie in der Vertheilung lebhafter Farben, Ausschmückung der nach allen Seiten beweglichen, ihnen den Charakter gebenden Fühler. Obschon sie friedlicher Natur sind, keine Räuber, sondern in den beiden der Nahrung bedürftigen Entwickelungsständen von Pflanzen leben, möchte ich sie mit den Adlern unter den Vögeln vergleichen, wenigstens einzelne Sippen unter ihnen, ob des schlanken, gefälligen und dabei doch kräftigen Baues, der drohenden Kinnbacken am hervorgestreckten, nicht so träumerisch, wie bei anderen, und unterwürfig schlapp herabhängenden oder gar versteckten Kopfe. Damit freilich stimmt der deutsche Name wenig, unter welchem man sie vereinigte, und den man in Betracht der Fühlhörner und der ganzen Seitenansicht des Kopfes doch nicht unpassend wählte, wenn man sie Böcke, Bockkäfer, Holzböcke (Capricornia oder Longicornia), Langhörner nannte. Will man sie mit einer anderen Familie ihrer Ordnung vergleichen, so wären es die Blatthörner, denen sie an Schönheit, Reichthum und Mannigfaltigkeit der Formen, an überwiegender Fülle in den Gleichenländern und in den scharf ausgeprägten geschlechtlichen Unterschieden vieler Arten am nächsten stehen. Hier sind es aber nicht Auswüchse an Kopf und Halsschild, durch welche sich die Männchen hervorthun, sondern bedeutend stärkere Kinnbacken, längere Fühler, andere Bildung derselben, indem sie Säge- oder Kammzähne annehmen können, manchmal sogar gewedelt sind, mannigfaltige Abänderungen an den Beinen, bisweilen andere Körperform und Färbung; am durchgreifendsten unterscheidet ein spitzerer oder hinten vorstreckbarer Hinterleib das Weibchen von seinem Männchen. Wie die vorangegangenen Vierzeher der Hauptsache nach ein rüsselartig verlängerter Kopf charakterisirte, so die Böcke lange, häufig den Körper übertreffende, borstige oder fadenförmige Fühler, in der Regel aus elf Gliedern zusammengesetzt, deren zweites sehr kurz ist. Die Kinnbacken laufen meist in einen scharfen Zahn aus, die ziemlich kurzen Taster in ein beil- oder spitz spindelförmiges Glied. Die gestreckten Flügeldecken verbergen den ganzen, aus fünf beweglichen Bauchringen zusammengesetzten Hinterleib; doch kommen auch Arten vor, wo sie ihn, wie bei den Kurzflüglern, seiner ganzen Länge nach frei lassen. Die Schienen aller Beine tragen Endsporen und die Hüften der vordersten berühren sich nicht.

Man muß die Böcke im allgemeinen als bewegliche Käfer bezeichnen, die im Sonnenscheine oder an warmen, schwülen Tagen lebhaft umher fliegen und Blumen oder saftspendende Stellen an Baumstämmen aufsuchen, ganz besonders auch das in Wäldern aufgespeicherte Klafterholz, während andere zu ihren Umflügen, die dann hauptsächlich der Paarung gelten dürften, die Abendstunden abwarten. Viele erzeugen, zwischen den Fingern festgehalten, durch Reiben des hinteren Vorderrückenrandes an dem kurzen, in ihn eingeschobenen Ende des Mittelrückens ein eintöniges, zirpendes Geräusch; sie »geigen«, wie man sich wohl ausdrückt.

Die Larven der Bockkäfer stehen denen der Prachtkäfer nahe, unterscheiden sich aber von ihnen durch deutliche Lippentaster, elliptische oder kreisrunde Luftlöcher und eine Yförmige Afteröffnung. Der flache, wagerecht stehende Kopf kann halb in den ersten Körperring zurückgezogen werden, das deutlich abgesetzte Kopfschild ist lederartig, die Oberlippe dagegen hornig, Augen sind entweder gar nicht vorhanden, oder jederseits eins, auch drei schwer zu erkennende, ferner die dreigliederigen Fühler so klein und in eine Hautfalte versteckt, daß sie leicht übersehen werden. Von den Mundtheilen entwickeln sich die kurzen, stark hornigen Kinnbacken am kräftigsten, der kurze, breite Stamm der Unterkiefern trägt nach außen einen kurzen, dreigliederigen Taster, nach innen eine kräftige Lade mit borstiger Innenseite. Ein fleischiges Kinn, starke, größtentheils verwachsene Tasterstämme mit zweigliederigen Tastern und eine fleischige, vorn haarige Zunge setzen die Unterlippe zusammen. Die Beine fehlen entweder ganz oder bleiben sehr kurz und einklauig. Der Vorderbrustring zeichnet sich durch seine bedeutende Größe, besonders auch Breite vor den übrigen aus, eine beiderseitige Hornbedeckung, öfter rauhflächig, kommt meist auch den übrigen Ringen zu, welche sich durch Einschnürung alle gut absetzen. Die Larvenleben allermeist in angegangenem Holze [164] und bedürfen gewiß in den meisten Fällen mehr als ein Jahr zu ihrer Entwickelung, von den kleineren Arten kommen jedoch manche in Stengeln und namentlich in den Wurzelstöcken krautartiger Gewächse (Wolfsmilch, Hundszunge, Getreidehalmen usw.) vor, und können in einzelnen Fällen den Kulturgewächsen nachtheilig werden.

Das neueste Käferverzeichnis führt siebentausendfünfhundertachtundsechzig Arten auf, eine Zahl, welche schwerlich den überhaupt lebenden gleichkommt, da die heißen, bisher durchforschten Erdgegenden mindestens noch eine Menge unscheinbare, kleine Formen beherbergen dürften, auf die man bisher noch nicht geachtet hat, und die waldreichen Gegenden Innerafrikas sicher noch manche stattliche Art den Sammlungen dann erst zuführen werden, wenn jene unwirtlichen Gegenden dermaleinst den gebildeten Völkern erschlossen sein werden.


Weibchen des Gerber (Prionus coriarius) und Männchen des Zimmermann (Ergates faber), natürl. Größe.
Weibchen des Gerber (Prionus coriarius) und Männchen des Zimmermann (Ergates faber), natürl. Größe.

Die drei großen Gruppen, in welche die Gesammtmenge zerfällt, bezeichnet Lacordaire als Unterfamilien, die sich wieder in der mannigfachsten Weise gliedern.

Die Breitböcke (Prionidae) umfassen als erste Unterfamilie die breiteren, plumpen, gleichzeitig aber auch die Riesenformen der ganzen Familie, bei denen der Rücken des Halsschildes von den Seiten theilen durch eine Kante gesondert, die Zunge hornig und dick ist, die Vorderhüften quer stehen, die Taster nicht spindelförmig oder spitz enden, die Fühler allermeist an der Kinnbackenwurzel eingelenkt und die Vorderschienen auf der Innenseite nicht mit einer Schrägfurche versehen sind. Ihnen fehlt das Vermögen, durch Reiben der oben bezeichneten Körpertheile einen Laut zu erzeugen. Die Zahl der Breitböcke steht gegen die der beiden übrigen Unterfamilien bedeutend zurück und wird für Europa verschwindend klein, daher sei hier nur zweier aus unseren deutschen Wäldern gedacht.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 163-165.
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