Pockennarbiger Pillendreher (Ateuchus variolosus)

[78] Der heilige Pillendreher (Ateuchus sacer) ist ein in biologischer wie in archäologischer Hinsicht höchst interessanter Käfer, welcher die Mittelmeerländer bewohnt und in dem Thierkultus der alten Egypter eine Rolle gespielt hat. Sie fanden nämlich im Treiben und in der Gestalt des Käfers das Bild der Welt, der Sonne und des muthigen Kriegers, so daß sie ihn auf Denkmälern darstellten und, in kolossalem Maßstabe aus Stein gehauen (die sogenannten »Scarabäen«), in ihren Tempeln aufstellten. Aelian (10, 15) sagt: »Die Käfer (cantharos nennt er sie) sind sämmtlich männlichen Geschlechts; sie bilden aus Mist Kugeln, rollen sie fort, bebrüten sie achtundzwanzig Tage, und nach deren Ablauf kriechen die Jungen aus«, während Plinius (11, 28, 34) von ihnen erzählt: »Sie machen ungeheure Pillen aus Mist, rollen sie rückwärts mit den Füßen fort und legen kleine Würmchen (sind Eier gemeint) hinein, aus denen neue Käfer ihrer Art entstehen sollen, schützen sie auch vor der Kälte des Winters«.


Heiliger Pillendreher (Ateuchus sacer), natürl. Größe.
Heiliger Pillendreher (Ateuchus sacer), natürl. Größe.

Gegen das viertägige Fieber soll man, wie er an einer anderen Stelle anführt, neben verschiedenen anderen Mitteln, welche die klinische Heilkunde vorschreibt, auch den Käfer, welcher Pillen dreht, an sich binden. Dergleichen kindliche Vorstellungen hatten die Alten von der Entwickelungsgeschichte eines Mistkäfers!

Wir können uns nach Angabe jener Faseleien nicht versagen, unseren Lesern dieses Wunderthier nun in seiner natürlichen Gestalt und in seiner richtig gewürdigten Lebensweise vorzuführen, und bemerken in Bezug auf erstere, daß der halbkreisförmige Kopf mit tief sechszähnigem Vorderrande, das vollständig in eine obere und untere Hälfte getheilte Auge jederseits, die neungliederigen Fühler, die seitlich nicht ausgebuchteten Flügeldecken, welche sich hinten abstutzen und den Steiß [78] freilassen, der Mangel der Füße an den fingerförmig gezähnten Vorderschienen, der eine Enddorn an den übrigen sehr schlanken und die sechs Bauchringe die Gattung charakterisiren, dagegen zwei Höckerchen an der Stirn, die innen an der Wurzel gekerbten Vorderschienen, die glatte Steißplatte, schwache Längsriefen der Flügeldecken, schwarze Fransen an Kopf, Halsschild und Beinen, rothbraune an den weiblichen Hinterschienen und die schwach glänzende schwarze Farbe des platten Körpers die genannte Art. Sie, wie alle Pillendreher, deren noch mehrere schwer zu unterscheidende mit ihr dasselbe Vaterland theilen, andere im mittleren Asien leben, haben ihren Namen von den pillenähnlichen Kugeln erhalten, welche sie für ihre Nachkommen anfertigen. Wie bei den Todtengräbern beide Geschlechter für deren Unterkommen Sorge tragen, nicht bloß das Weibchen, so auch hier. Zuerst wird von einem der beiden Ehegatten der zur Pille bestimmte Theil des Mistes, besonders Kuhdüngers, mittels des strahligen Kopfschildes vom Haufen abgetragen, mit Hülfe der Beine geballt, von dem Weibchen mit einem Eie inmitten beschenkt und nun gewälzt, indem der eine Käfer mit den Vorderbeinen zieht, der andere mit dem untergestemmten Kopfe nachschiebt.


Pockennarbiger Pillendreher (Ateuchus variolosus), natürl. Größe, umgeben von verkleinerten Scarabäen.
Pockennarbiger Pillendreher (Ateuchus variolosus), natürl. Größe, umgeben von verkleinerten Scarabäen.

Durch diese Behandlung wird nach und nach das anfangs weiche und unebene Stück zu einer festen und glatten Kugel von nahezu fünf Centimeter Durchmesser. Kleinere Arten drehen kleinere Pillen. Sodann graben die Käfer eine tiefe Röhre, in welche sie die fertige Kugel versenken. Das Zuwerfen der Röhre beschließt die mühevolle Arbeit, welche nöthig war, um einem Nachkommen seine Stätte zu bereiten. Ein zweites, drittes Ei usw. bedingt dieselbe Arbeit, mit welcher die kurze Lebenszeit ausgefüllt wird. Entkräftet von der Arbeit bleiben die Käfer zuletzt am Schauplatze ihrer Thaten liegen und verenden.

In der vergrabenen Kugel erblüht neues Leben, das Ei wird zur Larve, und diese findet den hinreichenden Vorrath, um dadurch zu ihrer vollen Größe heranzuwachsen. Sie ist von der Bildung eines Engerlings, aber mehr halbwalzenförmig, auf dem Rücken schiefergrau gefleckt und fast kahl am Körper, von den fünf Fühlergliedern sind das zweite bis vierte keulenförmig, jenes [79] fast so lang wie die beiden folgenden, das fünfte das längste und dünnste. Das Kopfschild ist querviereckig, die Oberlippe dreilappig, jede Kinnbacke vor der schwarzen Spitze stumpf und flach dreizähnig, jede Kinnlade zweilappig, die Lappen sind dornhaarig und an der Spitze mit einem Hornhaken bewehrt, ihre Taster viergliederig, die der Lippe kurz und zweigliederig. Diese Larve bedarf mehrere Monate zu ihrer Entwickelung. Im nächsten Frühjahre arbeitet sich der fertige Käfer aus seiner Geburtsstätte hervor, und die jungen Pärchen, dem Beispiele ihrer Eltern folgend, das sie ihnen nicht mit eigenen Augen ablauschen konnten, drehen Pillen in gleicher Weise und gleicher Absicht, wie jene. Es können aber auch Thätigkeiten anderer Art vorkommen. Höchst interessant ist die Mittheilung eines deutschen Malers. Derselbe beobachtete bei seinen ländlichen Streifzügen in Italien einen Käfer (die Art wird nicht näher bezeichnet), welcher auf etwas unebenem Untergrunde mit dem Rollen seiner Kugel beschäftigt war. Unglücklicherweise gerieth dieselbe hierbei in eine Grube, die alle Anstrengungen des Käfers, jene wieder herauszurollen, scheitern ließ. Derselbe, im Bewußtsein seiner Ohnmacht, begab sich nach einem benachbarten Dunghaufen, verschwand in demselben, kam aber bald wieder hervor – in Begleitung von drei anderen seinesgleichen. Alle vier Käfer arbeiteten nun mit gemeinsamen Kräften, um die Hindernisse hinwegzuräumen, und es gelang ihnen endlich, die Kugel aus der Versenkung herauszufördern. Kaum waren ihre Bemühungen mit dem gewünschten Erfolge gekrönt, so verließen die drei Gehülfen den Ort und begaben sich in dem ihnen eigenen steifbeinigen Marsche nach ihrer Wohnstätte zurück. Können wir auch hierin, wie etwa in dem angeborenen Pillendrehen, eine bloße Naturnothwendigkeit, einen »Instinkt« erkennen, oder zeugt diese Handlungsweise nicht von bewußtem, eine gewisse Ueberlegung voraussetzendem Handeln? Man erinnere sich jener Todtengräber, welche den Stab umwühlten, an dem der Maulwurf hing und daher nicht einsinken wollte; man denke an jenen Laufkäfer, der zur Bewältigung eines Maikäfers sich ebenfalls einen Gefährten herbeiholte, und man sieht, daß jene Beobachtung an den Pillendrehern nicht vereinzelt dasteht.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 78-80.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon