Erste Ordnung: Die Schildkröten[23] (Chelonia)

»Die Schiltkrotten«, sagt der alte Geßner, »sind gantz wunderbare, auch scheutzliche thier anzüschouwen, ligend in einem harten geheüß, so hardt verschlossen, daß sich an jrem leyb gantz nichts erzeigt dann der kopff, vnnd ausserste füß oder bein, doch also daß sy auch die selbigen in das harte vnnd dicke schalen oder hauß ziehen vnnd verbergen mögend, welches so dick ist, daß auch ein geladner wagen, so er daräber fart, die selbigen nit zerbrächen mag, jr kopff vnnd füß so sy härauß streckend sind gantz schüppächt wie ein Schlangen oder Nateren vnnd jrer dreyerley geschlächt. Etliche wonend allein im erdterich, etliche in süssen wasseren, etliche in dem weyten Meer.«

Unser Forscher rechnet, wie die Alten überhaupt, die Schildkröten noch zu den vierfüßigen Thieren, »so blüt habend, vnnd sich durch die eyer merend«; die heutigen Thierkundigen eröffnen mit ihnen die Klasse der Kriechthiere, weil sie der Ansicht sind, daß sie hinsichtlich der Bildung des Brustbeines und der Kieferbewaffnung eine gewisse Aehnlichkeit mit den Vögeln haben. Abgesehen hiervon dürfte sich kein Grund weiter finden lassen, die leiblich und geistig wenig begabten, schwerfälligen, stumpfsinnigen und dummen Geschöpfe anderen Kriechthieren voranzustellen.

Der Bau der Schildkröten ist so eigenthümlich und weicht von dem der anderen Glieder ihrer Klasse so wesentlich ab, daß sie nicht verkannt werden können. Ihr in einem Panzer steckender Leib, der plumpe Kopf, dessen Kiefer, wie der Vogelschnabel, mit Hornschneiden bedeckt sind, und die kurzen, gleichsam stummelhaften oder zu langen, schmalen Flossen umgewandelten Füße sind Merkmale, welche sich mit denen anderer Thiere nicht vergleichen lassen. Der Panzer besteht aus zwei Theilen, dem Ober- oder Rücken- und dem Unter- oder Brustpanzer. Ersterer ist mehr oder weniger gewölbt, länglich, rundlich oder herzförmig, der letztere schildartig, eirund oder abgerundet kreuzförmig, da seine Verbindungsstelle mit dem Rückenpanzer sich verschmälern kann. Die Verbindung selbst wird hergestellt durch Knorpelmasse, welche entweder während des ganzen Lebens weich bleibt oder verknöchert und dann Aehnlichkeit mit einer Naht gewinnt. So bilden beide Panzer zusammen eine Kapsel, welche nur vorn und hinten zum Durchlassen des Kopfes, der Füße und des Schwanzes geöffnet ist, also den Rumpf mehr oder weniger vollständig in sich einschließt. Der Kopf ist gewöhnlich eiförmig, hinten quer abgestutzt, an den Kiefern bald mehr, bald weniger vorgezogen, der Hals verschieden lang, immer aber verhältnismäßig sehr beweglich; die vier Füße sind entweder Gang-, Schwimm- oder Flossenfüße; der meist kurze, rundliche und kegelförmige, mehr oder weniger zugespitzte Schwanz ändert hinsichtlich seiner Länge erheblich ab und ist an seiner Spitze oft mit einem Nagel bewaffnet. Hornplatten oder Schilder, nur bei wenigen Arten ein lederartiger Ueberzug, decken den Panzer; eine warzige, mit größeren oder kleineren Schuppentafeln, Schildern, Höckern, körneligen [23] Gebilden besetzte sowie durch besondere, an einzelnen Stellen auftretende, anders geformte hornige Anhänge, Sporen, Stacheln usw. ausgezeichnete Haut bekleidet Kopf, Hals, Füße und Schwanz. Die Platten der Rückenseite des Panzers zerfallen in Wirbel-, Seiten- oder Rippen- und Randplatten, unter denen man wiederum eine Nacken- und zwei Schwanzplatten unterscheidet; die paarigen der Brustseite werden eingetheilt in Kehl-, Arm- oder Oberbrust-, Brust-, Bauch-, Unterbauch-, After-, Achsel- und Weichenplatten. Sie alle stoßen in der Regel aneinander und sind dann durch Nähte vereinigt; doch kann auch eine Lagerung nach Art der Dachziegeln vorkommen. Anzahl, Verhältnis zu einander und Lagerung bieten bei Bestimmung der Arten wichtige Anhaltspunkte.


Platten des Schildkrötenpanzers. Fig. 1. Platten des Bauchschildes (Ach Achselplatte, W Weichenplatte). Fig. 2. Platten des Rückenschildes (N Nackenplatte, W Wirbelplatten, S Seitenplatten).
Platten des Schildkrötenpanzers. Fig. 1. Platten des Bauchschildes (Ach Achselplatte, W Weichenplatte). Fig. 2. Platten des Rückenschildes (N Nackenplatte, W Wirbelplatten, S Seitenplatten).

Erst wenn man das Geripp der Schildkröten untersucht und ihre Entwickelung beobachtet, wird der Bau dieser Thiere und insbesondere der Panzer verständlich. Der Schädel ist hinten, wo er einen einfachen Gelenkknopf für den ersten Halswirbel trägt, abgestutzt, der Schnauzentheil kurz und stumpf, der Obertheil des Hinterhauptes in einen langen Fortsatz ausgezogen, die geräumige Schläfengrube oben bald frei, bald mit einer knöchernen Decke überwölbt, das Stirnbein jederseits aus drei Stücken zusammengesetzt, deren vorderes die Nasenhöhle bedeckt; die Zwischen- und Oberkieferbeine sind fest mit dem Schädel verbunden und unbeweglich, die Seitenwandungen der Hirnkapsel von dem vorderen Theile des Felsenbeins nur knorpelhäutig wie die Scheidewand der Augenhöhlen, die Unterkieferreste vorn in ein einfaches Stück verschmolzen. Die einzelnen Wirbel des Halses, meist acht an der Zahl, haben keine ausgebildeten Fortsätze, aber, da die vorderen von ihnen hinten, die hinteren vorn hohlrund sind und diese und jene zwischen sich einen doppelt gewölbten Wirbel aufnehmen, sehr vollkommene Kugelgelenke, welche freieste Beweglichkeit ermöglichen; die acht unbeweglichen Rückenwirbel verbreitern sich zu Platten, indem sie zuerst mit Knochenstücken, welche ursprünglich der Haut angehören und anfänglich von den Rippen getrennt waren, verwachsen, dann auch unter sich durch zackige Nähte mit einander sich verbinden und so den Rückenpanzer darstellen, auf welchem äußerliche Haut- oder Horntafeln, die Platten, sich ablagern. »Die Rippen«, sagt Vogt, »gehen meist bis zum äußeren Rande des Schildes fort; zuweilen aber sind Platten nur in der Nähe der Wirbelsäule entwickelt, und nach außen hin stehen dann die Rippen gleichsam wie [24] Radspeichen an dem Gerippe hervor, während beim lebenden Thiere ihre Zwischenräume durch derbe Haut- und Hornschilder gedeckt sind. Gewöhnlich findet sich an dem Schilde ein Saum besonderer Knochenplatten, Randstücke, in welchem die endenden Rippen eingesenkt sind, so daß auch bei speichenartig verlängerten Rippen ein ganzer Rand hergestellt wird«.


Geripp der Schildkröte, von unten.
Geripp der Schildkröte, von unten.

Zwei breite und platte Wirbel, fast ebenso unbeweglich wie die des Brusttheiles, bilden den Kreuztheil, bis fünfundzwanzig kleine bewegliche den Schwanz. Der Brustpanzer entsteht in ähnlicher Weise wie der des Rückens, aus dem übermäßig verbreiterten, in Stücke zerfallenen Brustbeine nämlich. Das Schultergerüst enthält drei Stücke, den Schulterknochen, das Schlüsselbein und den Gabelknochen. Ein Schenkel des Schulterknochens verbindet sich mit der Rücken-, das entgegengesetzte Ende des Schlüsselbeines mit dem Brustschilde, so daß diese beiden Knochen vorn einen Ring bilden, durch welchen Luft- und Speiseröhre gehen; der Oberarmknochen gliedert mit allen drei Schulterknochen durch einen großen, eiförmigen Gelenkknopf. Drei kurze und breite Knochen setzen das am Kreuzbeine mehr auf- als angehängte Becken zusammen. Oberarm- und Oberschenkelknochen sind kurz und gerundet; Unterarm und Unterschenkel werden durch zwei getrennte Knochen zusammengesetzt, die Fußwurzel aus mehreren kleinen, unregelmäßigen Knöchelchen gebildet. Der Fuß besteht aus fünf zwei-oder dreigliederigen Zehen, deren letztes Glied in der Regel einen spitzigen oder stumpfen Nagel trägt.

Weder an den Rumpfwirbeln, noch an den Rücken setzen sich Muskeln an, und auch die Bauchmuskeln sind verkümmert, indem sie nur zum Verschlusse der hinteren Oeffnung des Panzers dienen. Dagegen zeichnen sich die Halsmuskeln, deren tiefer liegende die vordere Panzeröffnung verschließen, sowie diejenigen, welche Beine und Schwanz bewegen, durch ihre Massigkeit und Stärke aus. Speicheldrüsen sind nicht vorhanden, von der Einspeichelung des Bissens kann also keine Rede sein; der Schlund ist ziemlich weit, aber wenig dehnbar; die Speiseröhre bildet keinen Magenmund; der längliche, sehr dickwandige Magen wird nur durch einen kreisrunden Wulst von dem Darmschlauche geschieden, welcher keinen Blinddarm hat und durch seine Länge sich auszeichnet. Die Leber theilt sich in zwei Hautlappen und schließt die Gallenblase in sich ein. Nieren, eine Harnblase und viele Lymphgefäße sind vorhanden. Athmung und Kreislauf des Blutes sind bei den Schildkröten [25] vollkommener als bei anderen Kriechthieren, wenn auch noch immer sehr langsam und unregelmäßig. Gaumensegel und Deckel fehlen; der Kehlkopf öffnet sich, indem er vor den Schlund tritt, und schließt sich, wenn er vorgeschoben wird. Da nun aber die Brust vollständig unbeweglich ist und auch das Zwerchfell fehlt, müssen die sehr großen und ausgedehnten, mit den übrigen Eingeweiden in einer und derselben Höhle eingeschlossenen Lungen durch ein absonderliches Spielen des Mundes gefüllt werden. Die Schildkröten verschlucken, wenn man so sagen darf, die Luft, indem sie den Mund fest schließen und wechselsweise das Zungenbein heben und senken: beim Senken strömt die Luft durch die Nase ein, beim Erheben werden die Nasenlöcher geschlossen und die Lungen vollgepumpt. Luftröhre und Kehlkopf scheiden sich deutlich; trotzdem wird nur von wenigen Arten eine Stimme vernommen. Die männliche Schildkröte hat eine einfache, große, durch eine Furche getheilte Ruthe, welche in der Kloake verborgen liegt, das Weibchen doppelt traubenförmige Eierstöcke, in denen man schon zehn Monate vor dem Legen die sehr kleinen Eier deutlich bemerkt.


Geripp der Schildkröte, von der Seite.
Geripp der Schildkröte, von der Seite.

Der kleine Schädel ist noch nicht vollständig mit Hirn erfüllt, und die Masse desselben steht in gar keinem Verhältnisse mit der des Leibes, auch nicht in demselben Verhältnisse wie bei den höheren Wirbelthieren zum Rückenmarke. Schildkröten von vierzig Kilogramm Gewicht haben ein Hirn, welches kaum vier Gramm wiegt; bei solchen von ein Kilogramm Gewicht wiegt das Hirn nur sechsunddreißig Centigramm. Dem Hirne fehlen die großen Querstränge; die hohlen Halbkugeln zeigen keine Windungen und werden vorn von dem Riechlappen überragt; das kleine, mäßig gewölbte Gehirn entbehrt ebenfalls der Windungen. Alle Nerven sind im Verhältnis zum Hirne sehr dick. Das Auge hat zwei Lider und eine Nickhaut; der Bau des Augapfels erinnert in mancher Hinsicht an das Vogelauge: der Ring um die Hornhaut trägt Knochenplättchen; die Linse ist bei den Landschildkröten wirklich linsenförmig, bei den Wasserschildkröten hingegen sphärisch. Das Ohr besteht aus dem Vorhofe und den halbzirkeligen Gängen; die Wand, welche den Vorhof vom Schädel trennt, bleibt zum Theile häutig; das Knöchelchen des Hammers hat einen dünnen Stiel und steckt in der Knorpelmasse, welche die Wand der Höhle bedeckt. Letztere verlängert sich in einen schmalen Gang, welcher am eirunden Fenster im Grunde der Trommelhöhle endigt, während jener Theil der letzteren nach hinten in eine runde Zelle übergeht. Eine dicke, knorpelige Schuppe schließt die Trommelhöhle nach außen ab. Die Nasenlöcher sind klein, bei einzelnen in eine Art Röhre verlängert, die Schleimhaut im Inneren bildet mehrere Falten. Die Zunge ist fleischig, mit weichen Warzen bedeckt. Aus dem eben angegebenen läßt sich schließen, daß die Schildkröten ziemlich gut sehen, mäßig scharf hören, einigermaßen fein riechen und auch wohl im Stande sind, zu schmecken, während wir über den Sinn des Gefühls oder Empfindungsvermögens kaum wagen dürfen, ein Urtheil zu fällen.

Auch die Schildkröten zählen zu den uralten Bewohnern unserer Erde. Unzweifelhafte Ueberreste von See- und Süßwasserschildkröten finden sich bereits im oberen Oolith und im Kalke; solche der genannten Gruppen und einzelner Schlammschildkröten häufen sich in den Lagerstätten der Tertiärzeit; Reste echter Landschildkröten endlich entdeckte man zuerst im Miocän Europas und im Eocän Nordamerikas.

[26] Ueber die Verbreitung der heutzutage lebenden Arten der Ordnung sind wir durch Strauch auf das genaueste unterrichtet worden. Genannter Forscher beziffert im Jahr 1865 die Anzahl der bekannten und genügend festgestellten Schildkröten-Arten auf hundertvierundneunzig und nimmt sieben verschiedene, wohlumgrenzte Wohngebiete der Thiere an. In dem ersten oder mittelmeerländischen Gebiete, welches das südliche Europa, einen Theil des westlichen Asiens und den ganzen Nordrand Asiens umfaßt, leben sechs, in dem zweiten, afrikanischen, zu welchem, mit Ausnahme des Nordrandes, das ganze Festland von Afrika und die benachbarten Inseln zu rechnen sind, zweiunddreißig, im dritten, asiatischen, zu welchem auch die zugehörigen Inseln zählen, vierundfunfzig, im vierten australischen, acht, im fünften, südamerikanischen, welcher auch Westindien und die Galapagos- oder Schildkröteninseln in sich begreift, fünfunddreißig, im sechsten, nord- und mittelamerikanischen, vierundvierzig, und im siebenten, dem Meere, fünf Arten. Innerhalb beider Wendekreise hausen sechsundsechzig, in dem vom Wendekreise des Krebses durchschnittenen Verbreitungsgebiete fünfunddreißig, in dem vom Wendekreise des Steinbocks durchschnittenen dagegen sechsundzwanzig, nördlich vom Wendekreise des Krebses zweiundvierzig, südlich vom Wendekreise des Steinbocks sieben Arten. Auf der östlichen Halbkugel sind achtundneunzig, auf der westlichen achtundsiebzig Arten gefunden worden. Von dreizehn Arten kennt man das Vaterland nicht. Zwei Seeschildkröten sind in allen Meeren, mit Ausnahme des Schwarzen, gefangen worden; die übrigen Arten der Familie haben ein verhältnismäßig beschränktes Verbreitungsgebiet.

Aus vorstehenden Angaben geht hervor, daß auch die Schildkröten den allgemeinen Verbreitungsgesetzen der Kriechthiere überhaupt unterliegen. In warmen wasserreichen Gegenden erreichen sie ihre größte Mannigfaltigkeit; nach den Polen zu, wie nach der Höhe hinauf nehmen sie rasch an Anzahl ab; bis zum Polarkreise dringt keine einzige Art vor. Sie können wohl glühende Hitze und Dürre, nicht aber Kälte ertragen. Flüsse, Sümpfe, Moräste, feuchtschattige Wälder, aber auch Steppen und Wüsten sowie endlich das Meer bilden ihre Aufenthaltsorte.

Alle Lebensäußerungen der Schildkröten sind träge, langsam, unregelmäßig. Die unwillkürlichen Bewegungen, das Athmen und der Kreislauf des Blutes unterscheiden sich hierin nicht von den willkürlichen. Schildkröten können unglaublich lange Zeit leben, ohne zu athmen, ohne ihr Blut zu reinigen, sich nach den fürchterlichsten Verstümmelungen noch monatelang bewegen, im gewissen Sinne also Handlungen verrichten, welche denen unverwundeter Thiere ähnlich sind, Enthauptete Schildkröten bewegen sich noch mehrere Wochen nach der Hinrichtung, ziehen z.B. bei Berührung die Füße unter die Schale zurück: eine, welcher Redi das Hirn weggenommen hatte, kroch noch sechs Monate umher; im Pflanzengarten zu Paris lebte eine Sumpfschildkröte sechs Jahre ohne Nahrung zu sich zu nehmen.

»Um die Schildkröten«, erzählt Kersten, vorstehendes und das bereits mitgetheilte bestätigend, »welche wir unseren Sammlungen einverleiben wollten, beim Tödten möglichst wenig zu quälen und zugleich eine Verletzung von Haut und Schale thunlichst zu vermeiden, gaben wir uns alle Mühe, sie auf irgend eine Weise umzubringen; doch ihre Lebenszähigkeit spottete aller Anstrengungen. Schließlich blieb uns nichts übrig, als die ringsum festgepanzerten Thiere bei lebendigem Leibe an beiden Seiten zu zersägen und dann erst den Tod durch Verletzung der edleren Theile herbeizuführen. Später stellte ich umfassende Tödtungsversuche an. Ich setzte das Thier, den Kopf nach unten, in einen mit Wasser gefüllten Eimer; ich schnürte den Hals mit einer Schlinge so fest als möglich zusammen: aber selbst nach tagelangem Luftabschlusse lebten sie noch munter wie zuvor; ich stach eine starke Nadel zwischen Kopf und ersten Halswirbel und bewegte sie seitwärts, um Rückenmark und Gehirn zu trennen: umsonst, die Schildkröte blieb leben; ich suchte sie zu vergiften, blies mit einer spitzen Glasröhre Alkohol in Mund und Nasenlöcher, wiederholte dies mit einer Lösung des überaus giftigen Cyankalium, blies diese furchtbare Flüssigkeit sogar in die Augenhöhlen und unter die an einer kleinen Stelle losgelöste Haut: die Schildkröte lebte zu meiner Verzweiflung fort. Selbst Enthaupten führt nicht zum Ziele; denn der abgeschnittene Kopf beißt noch tagelang [27] um sich, und ebenso lange bewegen sich die Glieder des Rumpfes. Das einzige Mittel, eine Schildkröte zu tödten, ohne sie zu öffnen, scheint zu sein, sie in eine Kältemischung zu legen; denn gegen Kälte sind die sonst so zähen Thiere überaus empfindlich.«

Es leuchtet ein, daß Thiere, bei denen Gehirn und Nerven so wenig entwickelt sind, oder eine so untergeordnete Rolle spielen, geistig nicht hoch veranlagt sein können. Und dennoch leisten die Schildkröten in geistiger Beziehung mehr, als man von vornherein annehmen möchte, wenn man ihr kleines verkümmertes Gehirn und dessen verhältnismäßige Unbedeutsamkeit einer Beurtheilung ihrer geistigen Fähigkeiten zu Grunde legt. Ihr Verstand ist umfassender, ihre geistige Regsamkeit größer, die Einwirkung des kleinen Gehirnes auf ihr Leben bedeutsamer, als es den Anschein hat. Auch sie handeln mit Bewußtsein; ja, falls Fischer gewonnene Beobachtungen richtig deutet, sie träumen sogar. Ohne zu überschätzen, darf man ihnen ein zwar ziemlich eng begrenztes, aber doch nicht gänzlich unbedeutendes Maß von Verstand zusprechen. Sie empfinden Behagen und Mißbehagen, erkennen, was ihnen frommt und was ihnen schadet, unterscheiden zwischen geeigneten und ungeeigneten Nahrungsmitteln, zwischen friedlichen und harmlosen oder ihnen unschädlichen Wesen, gewöhnen sich nach und nach selbst an ihnen wohlwollende Menschen, wenn nicht an den Pfleger, so doch an den Fütterer, verlieren diesem gegenüber die anfänglich gezeigte, plumpe Scheu, lassen sich behandeln, erregen, erzürnen oder besänftigen, durch den selbst sie mächtig ergreifenden Fortpflanzungstrieb aus ihrer sonstigen Stumpfheit aufrütteln: auch sie genießen und leiden.

Die willkürlichen Bewegungen der Schildkröten geschehen durchschnittlich zwar ebenfalls langsam, träge und täppisch; doch gibt es viele unter ihnen, welche in ihrer Behendigkeit an andere Kriechthiere erinnern. Im Gehen zeigen sich alle tölpelhaft und ungeschickt, die Land- und Seeschildkröten am ungeschicktesten, die Sumpfschildkröten noch am gewandtesten. Im Schwimmen und Tauchen bekunden Sumpf- und Seeschildkröten die größte Beweglichkeit, deren sie überhaupt fähig sind; aber sie übertreffen in dieser Fertigkeit schwerlich ein anderes im Wasser lebendes Kriechthier. Erstaunlich ist die Muskelkraft, welche alle Arten bethätigen. Schon eine mäßig große Landschildkröte trägt einen auf ihr rittlings sitzenden Knaben, eine Riesenschildkröte einen auf ihr reitenden Mann anscheinend ohne Beschwerde davon; im Sande mühsam dahinkriechende Seeschildkröten spotten der Kräfte eines Mannes, welcher versuchen will, sie aufzuhalten; kleine Sumpfschildkröten, welche sich an einem Stocke oder Stricke festgebissen haben, hängen an ihm tagelang, ohne loszulassen, und ob man sie auch in die heftigsten Schwingungen versetze.

Die Landschildkröten nähren sich hauptsächlich von Pflanzenstoffen und zwar von Gräsern, Kräutern, Blättern und Früchten, genießen jedoch nebenbei auch Kerbthiere, Schnecken, Würmer und dergleichen; einzelne Sumpf- und ebenso die Seeschildkröten sollen ebenfalls wenigstens zeitweilig Pflanzenstoffe, insbesondere Blätter von Sumpfgewächsen, im Wasser schwimmende Früchte oder aber Tange verzehren: die große Mehrzahl aber besteht aus Raubthieren, welche verschiedenartige Wirbel-, Weich-, Gliederthiere, Würmer und vielleicht auch Strahlthiere jagen; einzelne Arten werden als sehr tüchtige Räuber geschildert. Sie fressen eigentlich nur während der warmen Sommertage oder bezüglich in den Gleicherländern während der Regenzeit, dem dortigen Frühlinge, feisten sich innerhalb weniger Wochen, lassen dann allmählich ab, Nahrung zu sich zu nehmen und fallen, wenn hier der Winter, dort die Dürre eintritt, in Erstarrung und Winterschlaf. Ob es sich bei denen, welche jahraus jahrein in feuchten Wäldern leben, anders verhält, wissen wir zur Zeit noch nicht.

Bald nach dem Erwachen im Frühjahre beginnt die Fortpflanzung. Ihre Begattung währt oft tagelang. Bei einzelnen sitzt dabei das Männchen auf dem Weibchen, bei anderen klammern sich beide Geschlechter mit den Bauchschildern gegen einander. Geraume Zeit später gräbt das befruchtete Weibchen, nicht ohne Vorsorge, Löcher in den Boden, gewöhnlich in den Sand, legt in sie die Eier und deckt sie wieder mit einer Lage Sand oder Erde zu. Die Eier haben eine kalkige, pergamentartige, dünne Schale, sind rundlich und nicht groß; das ölige Eigelb sieht orangefarben,[28] das erst bei großer Hitze gerinnende Eiweiß grünlich aus. Viele Schildkröten legen kaum ein Dutzend, die großen Arten weit über hundert Eier. Die Mutter bekümmert sich nach dem Legen nicht um ihre Brut, so entschieden auch das Gegentheil behauptet worden ist. Die Eier werden nach Verlauf von einigen Wochen oder selbst Monaten gezeitigt; die Jungen kriechen nachts aus der Erde hervor und wandern nun entweder hier umher oder dem nächsten Wasser zu. Unzählige von ihnen werden von anderen Kriechthieren, Säugethieren und Vögeln aufgelesen und vernichtet; die ungewöhnliche Lebensdauer von denen, welche diesem Schicksal entgehen, schützt jedoch die Arten vor dem Aussterben. Bei den Japanesen gelten die Schildkröten als Bild eines hohen Alters und der Glückseligkeit, hinsichtlich des ersteren gewiß mit vollem Rechte.

Der französische Forscher de la Cépède, welcher Ende des vorigen Jahrhunderts über Kriechthiere schrieb, nennt den Panzer der Schildkröten ein ebenso treffliches Haus wie eine Schutzwehr, eine Burg, welche die Thiere vor allen Angriffen ihrer Feinde schützt. »Die meisten von ihnen«, sagt er, »vermögen, wenn sie wollen, Kopf, Füße und Schwanz in die harte, knochige, sie oben und unten bedeckende Schale zurückzuziehen, und die Löcher sind klein genug, daß die Klauen der Raubvögel und die Zähne der Raubthiere ihnen schwerlich gefährlich werden können. Wenn sie unbeweglich in diesem Vertheidigungszustande bleiben, können sie ohne Furcht und ohne Gefahr die Angriffe der Raubthiere abwarten. Sie sind dann nicht wie lebende Wesen zu betrachten, welche der Kraft wieder Kraft entgegensetzen und durch den Widerstand und den Sieg selbst mehr oder weniger leiden; sondern sie stellen dem Feinde nichts als ihren dichten Schild entgegen, an welchem seine Angriffe abprallen. Seine Waffen treffen einen Felsen, und sie sind unter ihrem natürlichen Schilde so gedeckt wie in der unzugänglichsten Felsenhöhle.« Diese Sätze sind hübsch erdacht und gesagt, leider aber nicht wahr. Schon Bechstein, welcher Lacépède's Werk übersetzte, macht darauf aufmerksam, daß die Landschildkröten in dem Jaguar, die Seeschildkröten in den Haifischen Feinde haben, welche ihnen wohl noch weit gefährlicher werden können als der Mensch; wir aber wissen, daß nicht allein der Jaguar, sondern auch der Tiger und vielleicht noch andere größere Katzen selbst große Schildkröten, die sundaischen Adjags, eine Art wilder Hunde, sogar Seeschildkröten überfallen und tödten, daß die Katzen sie umwenden, um sie bequem handhaben zu können und dann mit den Tatzen alle Fleischtheile aus dem Panzer ziehen, daß Schweine sie, so lange sie noch jung sind, trotz ihres Panzers verschlingen; wir wissen ebenso, daß große Raubvögel, so namentlich der Bartgeier, die kleineren Arten von ihnen ergreifen, hoch in die Luft erheben und so oft auf einen Felsen fallen lassen, bis der Panzer zerschmettert ist, daß außer diesem gewaltigen Raubvogel auch Bussarde und andere Falken, Raben und Reiher wenigstens die Jungen verzehren. Welche Feinde die gepanzerten Thiere sonst noch haben mögen, ist zur Zeit nicht bekannt; daß ihrer jedoch mehr sind als die angegebenen, unterliegt kaum einem Zweifel.

Den thierischen Feinden gesellt sich fast allerorten der Mensch zu. Wir dürfen die Schildkröten als die nützlichsten aller Kriechthiere bezeichnen, weil wir nicht bloß das Fleisch, sondern auch die Eier von fast allen Arten genießen und wohlschmeckend finden. Einzelne freilich riechen so stark nach Moschus, daß wenigstens wir Europäer uns mit den aus ihrem Fleische bereiteten Gerichten nicht befreunden können, andere hingegen liefern, wie bekannt, wirklich köstliche Gerichte. Demungeachtet würde die Menschheit wenig verlieren, gäbe es keine Schildkröten auf der Erde.

Seit uralter Zeit hält man Schildkröten in Gefangenschaft. Ich habe im Laufe der Jahre viele von ihnen gepflegt, mich jedoch mit ihnen, die Seeschildkröten vielleicht ausgenommen, niemals sonderlich befreunden können. Sie sind mir zu träge, zu stumpfgeistig, zu langweilig erschienen. Doch gibt es Liebhaber, welche auch an ihnen hohes Wohlgefallen finden, sie mit Lust und Liebe behandeln und sie für anziehende und fesselnde Gefangene erklären. Ihre Pflege erfordert übrigens mehr Sorgsamkeit und Verständnis, als man gewöhnlich annimmt. So groß ihre Lebenszähigkeit ist, so leicht erliegen sie mancherlei Krankheiten, welche in der Gefangenschaft zumeist ihren Grund in mangelnder oder ungeeigneter Wartung haben. Wärme ist die erste und hauptsächlichste Bedingung [29] ihres Wohlbefindens: hält man sie in kalten Räumen, in kaltem Wasser, so gedeihen sie nie. »Es wird«, sagt Fischer, dem wir treffliche Beobachtungen und Mittheilungen über gefangene Schildkröten verdanken, »viel gesündigt gegen diese armen Thiere, indem man fälschlich wähnt, daß die Zähigkeit ihres Lebens auch eine feste Gesundheit beanspruche. Nein, die Schildkröten sind für äußere, scheinbar unbedeutende Einwirkungen höchst empfindlich. Sie leiden nur langsam. Und das ist es, was zu glauben verleitet, daß sie alles ertragen könnten.«

Die Schriften der Alten gestatten uns nicht nur allein einen Einblick in die damalige Kenntnis der Schildkröten, sondern enthalten auch mancherlei geschichtliche Mittheilungen, welche immerhin der Beachtung werth sind. Wie leicht erklärlich, waren die Thiere den Alten wohl bekannt; dem ungeachtet enthalten ihre Berichte Angaben, welche wir gegenwärtig als Fabeln ansehen – ob immer mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt. Cicero verspottet den Dichter Pacuvius, weil derselbe anstatt des jeder mann geläufigen und jedes Mißverständnis ausschließenden Wortes »Schildkröte« die Umschreibung anwendet: »Ein langsam schreitendes, auf dem Lande lebendes, niedriges, vierfüßiges Thier mit kurzem Kopfe, Schlangenhalse, Trotzkopfaugen, ohne Eingeweide, ohne Geist, doch mit thierischer Stimme.« Aristoteles schildert das Eierlegen, fügt aber seiner im ganzen richtigen Mittheilung hinzu, daß die Mutterschildkröte die von ihr gelegten Eier bebrüte, beziehentlich nach dreißig Tagen zum Neste zurückkehre, die Eier ausgrabe, die Schale öffne und die Jungen dem Wasser zuführe; berichtet auch, daß die Schildkröten, wenn sie von einer Viper gefressen hätten, hinterdrein Dosten genössen, um ihr durch die frühere Mahlzeit bedrohtes Leben zu retten. Plinius stellt alles ihm bekannte zusammen, zählt wie gewöhnlich alle Arzneimittel auf, welche aus den Bestandtheilen der Schildkröten angefertigt werden können, und bemerkt, daß es der verschwenderische und prunksüchtige Carvilius Pollio war, welcher zuerst verschiedene Gegenstände mit Schildpad belegen ließ. Aelian weiß, daß der abgehauene Kopf der Seeschildkröten sich noch bewegt, beißt und mit den Augen blinzelt; versichert auch, daß die Augen der Schildkröten weit in die Ferne strahlen, und daß die glänzend weißen und hellen Augäpfel, in Gold gefaßt, zu Halsbänderschmuck verwendet und von den Frauen sehr bewundert werden. Pausanius gibt an, daß auf dem Parthenonischen Berge in Arkadien Schildkröten vorkommen, aus deren Schale man vortreffliche Lauten verfertigen könne; daß man die Thiere aber nicht wegnehmen dürfe, weil die dort wohnenden Leute sie als dem Pan geweihete Geschöpfe ansähen und schätzten. Julius Capitolinus erwähnt beiläufig, daß in Rom kaiserliche Prinzen in Schildkrötenschalen gebadet wurden, und Diodorus Siculus endlich erzählt von den Schildkrötenessern, welche kleine, im Weltmeere, aber nahe am Festlande liegende Inseln bewohnen und die ihre Eilande besuchenden Seeschildkröten in absonderlicher Weise fangen. Diese Thiere sind ungeheuer groß, kleinen Fischerkähnen vergleichbar, und gehen bei Nacht ihrer Nahrung nach, wogegen sie am Tage im Sonnenscheine auf der Oberfläche des Meeres schlafen. Um diese Zeit schwimmen die Schildkrötenesser leise herbei; einige heben das Thier auf der einen, andere senken es auf der anderen Seite, um so es auf den Rücken zu werfen; dann bindet einer ein Tau an den Schwanz und schwimmt dem Lande zu, während die übrigen die schwere Last schiebend weiter bewegen. Am Ufer angelangt, tödten sie die Beute, verzehren alles Fleisch, nachdem sie es an der Sonne braten ließen, benutzen auch die Schilde als Kähne oder als Dächer ihrer Hütten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 23-30.
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