Flußschildkröten (Chelyda)

[65] Die zweite Unterfamilie, welche die Fluß- oder Wasserschildkröten (Chelyda) umfaßt, kennzeichnet sich durch folgende Merkmale: Das Becken aller Flußschildkröten ist stets mit dem Brustschilde verwachsen und dieser aus dreizehn Platten zusammengesetzt, indem zu den zwei Kehlplatten noch eine Zwischenkehlplatte tritt. Zudem sind die meisten Flußschildkröten nicht im Stande, ihren in der Regel auffallend langen Hals einzuziehen, sondern genöthigt, denselben, um ihn zu verbergen, seitlich unter den gemeiniglich vorragenden Rand des Rückenschildes anzuklappen und so zu sichern.

Hinsichtlich ihrer Lebensweise, ihres Gebarens und Betragens kommen die Flußschildkröten in allen wesentlichen Stücken mit den übrigen in Gewässern lebenden Landschildkröten überein. Weiteres an dieser Stelle über sie zu sagen, erscheint unnöthig, da die Lebensgeschichte einer, sogleich zu erwähnenden Art in einem der größten Forscher aller Zeiten einen Beschreiber gefunden hat und uns so vollständig übermittelt worden ist, wie die irgend einer anderen Schildkröte überhaupt.

»Gegen elf Uhr vormittags«, so schildert Alexander von Humboldt, »stiegen wir an einer Insel mitten im Strome aus, welche die Indianer in der Mission Uruana als ihr Eigenthum betrachten. Die Insel ist berühmt wegen ihres Schildkrötenfanges oder, wie man hier sagt, wegen der Eierernte, welche jährlich hier gehalten wird. Wir fanden mehr als dreihundert Indianer unter Hütten aus Palmblättern gelagert. Außer den Guanos und Otomakos aus Uruana, welche beide für wilde, unbezähmbare Stämme gelten, waren Karaiben und andere Indianer vom unteren Orinoko zugegen. Jeder Stamm lagerte für sich und unterschied sich durch die Farbe, mit welcher die Haut bemalt war. In dem lärmenden Haufen bemerkten wir einige Weiße, namentlich Krämer aus Angostura, welche den Fluß heraufgekommen waren, um von den Eingeborenen Schildkröteneieröl zu kaufen, trafen auch den Missionär von Uruana, welcher uns erzählte, daß er mit den Indianern wegen der Eierernte herübergekommen sei, um jeden Morgen unter freiem Himmel die Messe zu lesen und sich das Oel für die Altarlampe zu beschaffen, besonders aber, um diesen ›Freistaat der Indianer und Kastilianer‹, in welchem jeder für sich allein haben wolle, was Gott allen beschert, in Ordnung zu halten.

In Begleitung dieses Missionärs und eines Krämers, welcher sich rühmte, seit zehn Jahren zur Eierernte zu kommen, umgingen wir die Insel, welche man besucht wie bei uns zu Lande die Messen. Wir befanden uns auf einem ebenen Sandstriche. ›Soweit das Auge an den Ufern hinreicht‹, sagte man uns, ›liegen Schildkröteneier unter der Erdschicht‹. Der Missionär trug eine lange Stange in der Hand und zeigte uns, wie man mit ihr untersuche, um zu sehen, wie weit die Eierschicht reicht, wie der Bergmann die Grenzen eines Lagers von Mergel, Raseneisenstein oder Steinkohle ermittelt. Stößt man die Stange senkrecht in den Boden, so spürt man, wenn der Widerstand auf einmal aufhört, daran, daß man die Höhlung oder das lose Erdreich, in welchem die Eier liegen, erreicht hat. Wie wir sahen, ist die Schicht im ganzen so gleichförmig verbreitet, daß die Stange in einem Halbmesser von zehn Toisen (zwanzig Meter) rings um einen gegebenen Punkt sicher daraus stößt. Auch spricht man hier nur von Geviertstangen Eiern, als ob man ein Bodenstück, unter welchem Erze liegen, in Loose theile und ganz gleichmäßig abbaue. Indessen bedeckt die Eierschicht bei weitem nicht die ganze Insel, hört vielmehr überall auf, wo der Boden rasch ansteigt, weil die Schildkröte zu diesen kleinen Hochebenen nicht emporkriechen kann. Ich erzählte meinen Führern von den übertriebenen Beschreibungen Pater Gumilla's, nach denen die Ufer des Orinoko nicht so viel Sandkörner enthalten als der Strom Schildkröten, ja daß sie die Schiffe in ihrem Laufe aufhalten würden, wenn Menschen und Tiger nicht alljährlich so viele tödteten. ›Das sind Pfaffenmährchen‹, sagte der Krämer aus Angostura leise. Die Indianer versicherten uns, von der Mündung des Orinoko bis zum Einflusse des Apure hinauf finde man keine Insel und kein einziges Gestade, wo man Schildkröteneier in Masse sammeln könnte. Die Uferstrecken, auf denen fast sämmtliche Schildkröten des Orinoko sich jährlich zusammen zu finden [66] scheinen, liegen zwischen dem Zusammenflusse des Orinoko und Apure und den großen Fällen oder Raudales, und hier finden sich die drei berühmtesten Fangplätze. Eine Art, die Arráuschildkröte, geht, wie es scheint, nicht über die Fälle hinauf, und wie man uns versichert, kommen oberhalb Atures und Maypures nur Terekayschildkröten vor.

Die große Schildkröte, der Arráu, ein furchtsames, scheues Thier, welches den Kopf über das Wasser steckt und beim leisesten Geräusche sich verbirgt, meidet von Menschen bewohnte oder von Booten beunruhigte Uferstrecken. Sie ist eine große Süßwasserschildkröte mit Schwimmfüßen, sehr plattem Kopfe, zwei fleischigen, sehr spitzigen Anhängen unter dem Kinne, mit fünf Zehen an den Vorder- und vier an den Hinterfüßen, die unterhalb gefurcht sind. Der Rückenpanzer hat fünf Mittel-, acht seitliche und vierundzwanzig Randschilder; er ist oben schwarzgrau, unten orangegelb; die langen Füße sehen ebenso aus. Zwischen den Augen ist eine sehr tiefe Furche. Die Nägel sind sehr stark und gebogen. Die Afteröffnung befindet sich am letzten Fünftheile des Schwanzes. Das erwachsene Thier wiegt zwanzig bis fünfundzwanzig Kilogramm. Die Eier, weit größer als Taubeneier, haben eine Kalkschale und sollen so fest sein, daß die Kinder der Otomaken, welche eifrige Ballspieler sind, sie einander zuwerfen können. Der Terekay ist kleiner als der Arráu, der Panzer zählt ebensoviele Platten; sie sind aber etwas anders vertheilt. Ich zählte vier Mittel-, je fünf sechseckige seitliche und vierundzwanzig vierseitige, stark gebogene Randplatten. Die Färbung des Schildes ist schwarz mit grünlichem Anfluge; Nägel und Füße sind wie beim Arráu, die nackten Theile olivengrün; auf dem Kopfe stehen zwei aus Roth und Gelb gemischte Flecken; der Hals, welcher einen stacheligen Anhalt trägt, ist gelb. Die Terekays thun sich nicht in so großen Schwärmen zusammen, wie die Arráus, um die Eier zusammen auf demselben Ufer zu legen. Letztere haben einen angenehmen Geschmack und sind bei den Bewohnern von Spanisch-Guayana sehr gesucht. Der Arráu geht nicht über die Fälle hinauf; der Terekay kommt sowohl im oberen Orinoko als unterhalb der Fälle vor, ebenso im Apure, Urituku, Guariko und den kleinen Flüssen, welche durch die Llanos von Caracas laufen.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 65-67.
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