1. Sippe: Sycandra

[523] Die schönsten und wenigstens formell am höchsten entwickelten sind die Waben-Kalkschwämme (Sycones). Die Grundform des Einzelthieres ist ein länglicher Becher oder ein meist gestielter Cylinder, dessen dickere Wandungen regelmäßige Kreise tiefer, von der großen centralen Höhle ausgehender Einbuchtungen zeigt. Die Mündung verhält sich wie bei den anderen Familien: sie ist entweder nackt wie bei der Leucandra, oder mit einem Kranze schlanker Nadeln umstellt.

Ueber die Verhältnisse, unter denen die Kalkschwämme leben, habe ich zwar selbst viele Erfahrungen gesammelt, ich will aber darüber Haeckel reden lassen, dessen oben berührte Monographie für alle Zeiten die Grundlage unseres Wissens bilden wird.

»Alle Kalkschwämme leben im Meere. Keine einzige Form dieser Gruppe ist bisher in süßem Wasser oder in Brackwasser aufgefunden worden. Aus der salzarmen Ostsee ist bisher noch kein einziger Kalkschwamm bekannt. Ebenso habe ich auch in den tief eingeschnittenen Fjorden Norwegens an allen jenen Stellen, wo das Wasser nur schwach gesalzen oder brackisch ist, vergeblich nach Kalkschwämmen gesucht, während sie außen an der Küste dort sehr häufig sind. Es scheint demnach, daß die Kalkspongien nur in Seewasser von dem durchschnittlichen Salzgehalt des Oceans leben können. In süßem Wasser oder in verdünntem Seewasser sterben sie sehr rasch.


Waben-Kalkschwamm (Sycandra ciliata). Vergr.
Waben-Kalkschwamm (Sycandra ciliata). Vergr.

Alle bis jetzt bekannten Kalkschwämme sind entweder unmittelbar an der Meeresküste oder nur in geringer Entfernung von derselben gesammelt worden. Auf dem Boden des offenen Meeres sind bisher noch keine Kalkspongien gefunden worden. Auch die ausgedehnten Untersuchungen, welche in den letzten Jahren über die Beschaffenheit des Tiefseegrundes angestellt wurden, und welche eine Anzahl von eigenthümlichen Kieselschwämmen aus dem tiefen Boden des offenen Meeres zu Tage förderten, haben keinen einzigen Kalkschwamm von dort geliefert.1

[523] Die meisten Kalkschwämme lieben die Dunkelheit und fliehen das Licht. Nur wenige Arten wachsen an Stellen, welche dem Lichte mehr oder weniger ausgesetzt sind. Daher findet man diejenigen Arten, welche sich am liebsten auf Felsen und Steinen ansiedeln, vorzugsweise in Höhlen und Grotten der Meeresküste, in Felsenspalten und an der Unterseite von Steinen. Die meisten Arten leben im Tangdickicht, in dem schattigen Konservengebüsch und den dunkeln Fucoidenwäldern, und je dichter diese Algen an felsigen Küsten beisammen wachsen, je weniger Licht zwischen ihr Astwerk hineinfällt, desto eher darf man hoffen, Kalkschwämme zwischen ihren Aesten verborgen zu finden. Diese Liebe zur Dunkelheit veranlaßt auch viele Kalkschwämme, sich im Inneren von leeren Thiergehäusen: Muschelschalen, Schneckenhäusern, Seeigelschalen, Wurmröhren und anderen anzusiedeln. Die große Mehrzahl der Kalkschwämme sitzt festgewachsen auf dem Boden des Meeres. Jedoch gibt es unter den Kalkschwämmen, wie unter den Kieselschwämmen, einige wenige Arten, welche auch im völlig ausgewachsenen Zustande nicht festgewachsen sind, sondern frei im Schlamme des Meeresbodens stecken und gelegentlich von den Wellen oder Strömungen fortgetrieben werden können.«

Haeckel glaubt, die verhältnismäßige Seltenheit der Kalkschwämme in allen Meeren hervorheben zu müssen. Ich kann dem nicht unbedingt beistimmen. Sie stehen allerdings an Vielfältigkeit und gelegentlicher Massenhaftigkeit des Vorkommens gegen die Kieselschwämme außerordentlich zurück.


Durchschnitt einer Zwillingslarve von Sycandra raphanus. 600mal vergrößert.
Durchschnitt einer Zwillingslarve von Sycandra raphanus. 600mal vergrößert.

Wenn aber dem Monographen der Kalkschwämme trotz seiner vielseitigen Verbindungen von vielen Küstenstrecken und aus ganzen Meeren keine Arten zugingen, so liegt das, glaube ich, an der Mangelhaftigkeit des Einsammelns. Es gibt an der italienischen und französischen Mittelmeerküste ganz unglaubliche Mengen von Kalkschwämmen; daher ist es undenkbar, daß dieselben an dem gegenüberliegenden afrikanischen Ufer selten oder gar nicht vorkommen sollten, obgleich in den Pariser Sammlungen von daher sich keine befinden. Die meisten Kalkschwämme gehören der Strandzone bis zu zwei Faden Tiefe an. Schon von da bis zu zehn Faden ist die Abnahme eine sehr auffallende; darüber hinaus gehören sie zu den Seltenheiten.

Kein Thier scheint sich von den Weichtheilen der Kalkschwämme zu nähren. Auch findet man in ihren Höhlungen nur ausnahmsweise fremde Inwohner.

Fußnoten

[524] 1 Obige Angabe Haeckels, geschrieben 1872, ist auch nach den großartigen, seitdem angestellten Untersuchungen der Challenger-Expedition noch zutreffend.


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 523-525.
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