Pantoffelthierchen (Paramaecium aurelia)

[554] Die Fortpflanzungsverhältnisse wurden schon oben berührt. »Theilung und Knospenbildung, vielleicht auch innere Keimbildung, müßten, mit einander vereinigt – so faßt Bronn die Angaben darüber zusammen – in Verbindung mit der Kürze der Zeit, nach welcher ein junges Thierchen selbst wieder vermehrungsfähig wird, zu ganz ungeheueren Zahlenergebnissen führen, wenn nicht die Erschöpfung des sich vermehrenden Individuums denselben eine Grenze setzte. Man muß daher die wirklich beobachtete Vermehrung von der bloß auf einige Fälle hin berechneten wohl unterscheiden. So bedarf die Theilung einer Vorticelline nur dreiviertel bis eine Stunde, was, da jedes Theilganze anfangs sich eben so bald wieder theilen kann, binnen zehn Stunden schon Tausend und binnen zwanzig Stunden eine Million Individuen gäbe; in Wirklichkeit erfolgen aber zwischen den einzelnen Theilungen immer größere Zwischenräume und endlich ein völliger Stillstand, so daß bloß [554] die Entstehung von nur acht Individuen binnen drei, von nur vierundsechzig Individuen binnen sechs und von zweihundert binnen vierundzwanzig Stunden beobachtet worden ist. In anderen Fällen ist die Theilung langsamer, aber andauernder. So braucht das Pantoffelthierchen (Paramaecium aurelia, aus der Abtheilung der Holotricha) wenigstens zwei, oft aber auch viel mehr Stunden zu einer Längstheilung und kann sich in vierundzwanzig Stunden verachtfachen, was dann in einer Woche zwei Millionen gäbe. Stylonychia gibt in vierundzwanzig Stunden durch Quertheilung drei Theilganze, welche nach vierundzwanzigstündiger Reife binnen vierundzwanzig Stunden wieder zwölf liefern, so daß auch hier binnen zwanzig Tagen eine mögliche Vervielfältigung bis zu einer Million angenommen werden darf«.

Nicht wenige Infusorien verbinden mit dieser erstaunlichen Reproduktionskraft auch die Fähigkeit, beim Eintrocknen der Gewässer sich mit einer schützenden Hülle zu umgeben, sich zu incystiren, um im eingetrockneten Schlamme neues Aufleben zu erwarten oder im Staube über Berg und Thal getragen zu werden. Sie theilen diese Zählebigkeit, wie wir wissen, mit vielen anderen niederen Organismen und deren Keimen, und die Erkenntnis dieser Verhältnisse hat längst der ehemals als ein Wunder angestaunten Erscheinung, wenn auf Regen nach langer Dürre die eben entstandenen kleinen Teiche binnen wenigen Tagen eine reiche Lebensfülle zeigen, das Gepräge von etwas Außergewöhnlichem und Unerklärbarem abgestreift.

Wir wollen, ehe wir von den Infusorien Abschied nehmen, noch eine gefährliche und schwierige Frage aufwerfen: Wie steht es mit dem Seelenleben der Infusorien? Wir werden hierzu veranlaßt, weil jüngst (1876) der auch im Gebiete der Infusorienkunde sehr verdiente Physiolog Engelmann den Infusorien ein hohes seelisches Vermögen zu retten versucht hat. Er beobachtete die Ablösung von Vorticellinen-Knospen, und wie dieselben die auf dem Bäumchen zurückgebliebenen Individuen aufsuchten oder auffanden, um sich mit ihnen zu konjugiren. »Anfangs«, sagt er, »schwärmten die Knospen, der Form nach gewöhnlichen schwärmenden Vorticellen gleich, mit ziemlich konstanter Geschwindigkeit (etwa 0,6 bis 1 Millimeter in der Sekunde), und immer um ihre Längsaxe rotirend, meist in ziemlich gerader Richtung durch die Tropfen. Dies dauerte fünf bis zehn Minuten oder noch länger, ohne daß etwas besonderes geschehen wäre. Dann ändert sich plötzlich die Scene. Zufällig in die Nähe einer festsitzenden Vorticelle gerathen, änderte die Knospe, zuweilen wie mit einem Rucke, ihre Richtung und nahte nun, tanzend wie ein Schmetterling, der um eine Blume spielt, der Vorticelle, glitt wie tastend und dabei immer um die eigene Längsaxe rotirend, auf ihr hin und her. Nachdem das Spiel minutenlang gedauert hatte, auch wohl nach einander bei verschiedenen festsitzenden Individuen wiederholt worden war, setzte sich die Knospe endlich fest, und zwar meist am aboralen (unteren) Ende, nahe dem Stiele. Nach wenigen Minuten war die Verschmelzung schon merkbar im Gange.

Eine in physiologischer und speciell psycho-physiologischer Beziehung noch merkwürdigeres Schauspiel beobachtete ich ein anderes Mal. Eine frei schwärmende Knospe kreuzte die Bahn einer mit großer Geschwindigkeit durch die Tropfen jagenden großen Vorticelle, die auf die gewöhnliche Weise ihren Stiel verlassen hatte. Im Augenblicke der Begegnung – Berührung fand inzwischen durchaus nicht statt – änderte die Knospe plötzlich ihre Richtung und folgte der Vorticelle mit sehr großer Geschwindigkeit. Es entwickelte sich eine förmliche Jagd, die etwa fünf Sekunden dauerte. Die Knospe blieb während dieser Zeit nur etwa 1/15 Millimeter hinter der Vorticelle, holte sie jedoch nicht ein, sondern verlor sie, als dieselbe eine plötzliche Seitenschwenkung machte. Hierauf setzte die Knospe mit der anfänglichen, geringeren Geschwindigkeit ihren eigenen Weg fort. Diese Vorgänge sind darum merkwürdig, weil sie eine feine und schnelle Perception (Wahrnehmung), rasche und sichere Willensentscheidung und freie abstufbare motorische Innervation1sit venia verbo – verrathen.«

[555] Der Utrechter Physiolog ist also geneigt, in den Vorticellen ein hoch entwickeltes Seelenvermögen zu finden, indem er ihnen nicht nur Empfindung, sondern auch Wahrnehmung, bewußten Willen und rasche Ausführung des auf einen bestimmten Gegenstand gerichteten Willens zuschreibt. Es würde leicht sein, auch bei anderen Infusorien, ähnliches Thun und Handeln zu beobachten. Was unsere Vorticelle betrifft, so liegt, scheint mir, für die von Engelmann geschilderte Jagd eine weit einfachere Erklärung vor: das vorausstürmende Thier erregt einen Strudel, in dessen Bahn das hinein gerathene zweite ganz unwillkürlich gezogen wird, wie die Schwammlarve Seite 540. Schwieriger ist der andere Fall, der aber nicht für sich betrachtet werden darf, sondern ganz allgemein die Frage über Empfindung und Wahrnehmungsvermögen nervenloser Thiere in sich schließt.

Wir haben so viele Beispiele von Geistesvermögen höherer Thiere in diesem Werke kennen gelernt, daß wir auch über die entsprechenden Erscheinungen in der niederen Thierwelt eine Verständigung anbahnen müssen. Wir sind schon mit den Polypen in eine Region gelangt, wo vergeblich nach einem Nervensystem gesucht worden ist, und noch einfacher sind, wie wir schon gesehen haben und weiterhin erfahren werden, die Urwesen gebaut. Wenn wir von Wahl und Willen einer Ameise, eines Kopffüßers, einer Krabbe sprechen, und ihre auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Handlungen mit denen eines Hundes, eines Affen, ja des Menschen vergleichen, so thun wir dies mit vollem Rechte deshalb, weil alle jene wirbellosen Thiere ein Nervensystem besitzen, welches in seinen einzelnen Theilen den Vergleich mit dem Nerven- und Sinnesapparate der Wirbelthiere und des Menschen aushält, von dem wir daher auch ähnliche Leistungen erwarten. Ohne uns hier auf eine Entscheidung über Natur und Wesen der Seele einzulassen, treffen wir sicher auf keinen Widerspruch, wenn wir das Nervensystem als das Organ der Seele bezeichnen. Wo wir also Nerven finden, können wir auf seelische, an die Thätigkeit der Nerven gebundene Fähigkeiten schließen. Eben deshalb ist das Thierleben in seinen Aeußerungen so außerordentlich reich.

Was wird aber aus der Seele derjenigen Thiere, welche kein Nervensystem besitzen? Da taucht dieselbe Schwierigkeit auf, wie bei der spitzfindigen Frage, von welcher Zeit an das sich entwickelnde junge Thier oder die menschliche Frucht eine Seele hat, und es zeigt sich, daß zwischen Lebensäußerungen im allgemeinen und Seelenerscheinungen eine Grenze nicht gezogen werden kann, und daß wir mit der eben uns befriedigenden Erklärung von Seele und Seelenwerkzeug doch nichts erreichen. Es weist uns aber der Vergleich mit dem Erwachen der Seele bei dem sich schon bildenden Thiere und dem ungeborenen Menschen darauf hin, daß man die Frage wohl richtiger umkehrt: wo beginnen in der organischen Welt die Aeußerungen, welche als seelische bezeichnet werden dürfen? Man hat in neuester Zeit die alte Annahme wieder hervorgesucht, die kleinsten Stofftheile, die Atome, seien schon beseelt, hätten Empfindung und einen Willen. Eine befriedigende Vorstellung von dem, was wir hier suchen, bekommen wir dadurch nicht. Die Lösung unserer Aufgabe würde sich finden, wenn wir ein Mittel hätten, die willkürlichen Bewegungen des Protoplasma der niedrigen Organismen unserer Protozoen von den unwillkürlichen zu unterscheiden. Das Fließen des Protoplasma in den Pflanzenzellen nennen wir ein unwillkürliches, weil wir annehmen, daß es nur Ausdruck chemischer und physikalischer Vorgänge im Inneren der Zelle und die Antwort auf eben solche äußere Reize sei, ohne jede Spur dessen, was wir nach unseren Erfahrungen Empfindung, Vorstellung, Bewußtsein nennen.

Solche Bewegungen kommen nun ohne Zweifel auch in allen Abtheilungen der Protozoen vor, wofür ich auf das unten folgende Beispiel der Gromie hinweisen will. Sie sind jedoch mit solchen Handlungen und Thätigkeiten verbunden, z.B. mit der Nahrungsaufnahme, für welche wir nach den Erfahrungen an den höheren Thieren Empfindung und Willen voraussetzen. Wir vergessen dabei nur zu leicht, daß jene Empfindungen, Lust- und Unlustgefühle, dadurch zu Stande kommen, daß die sie hervorbringenden Eindrücke von außen zu einem besonderen Organe, dem Centrum des Nervensystems geleitet, dort gewisser maßen gesammelt und auf bis jetzt geheimnisvolle Weise in Empfindung umgesetzt werden. Ich kann annehmen, daß es dem Protoplasma der [556] Gromie schmeckt; ich komme aber über diese unbestimmte Annahme nicht hinaus und darf keinen Einwand erheben, wenn ein Freund der Beseelung der Pflanzen auch für diese die Nahrungsaufnahme zu einer mit Vergnügen verbundenen Handlung stempelt. Aber eine wichtige Erfahrung machen wir doch: wir sehen, daß in dem Reiche der Protisten, an welches sich die Infusorien unmittelbar anschließen, die Reizbarkeit des Protoplasma und die Fähigkeit auf verschiedene Reize in verschiedener Weise zu antworten, zunimmt. Dies wird die Veranlassung zur Herausbildung und Fixirung von Unterschieden. Die Infusorien zeigen uns die Scheidung der in den niedrigen Protistenklassen dem Auge noch ganz gleichförmigen Körpersubstanz so weit gediehen, daß die bewegenden Protoplasmastreifen gar nichts mehr mit der verdauenden Masse zu thun haben. Sie besitzen wirkliche Bewegungsorgane, und in diesen hat zugleich die Reizbarkeit so zugenommen, daß sie den Reiz fast mit derselben Geschwindigkeit fortpflanzen, als es in den mit Nerven versehenen Thieren geschieht. Das Zusammenzucken eines vielverzweigten Vorticellenbäumchens geschieht vor unseren Augen blitzschnell.


Acinete. 600mal vergrößert.
Acinete. 600mal vergrößert.

Und doch mußte der Reiz, der etwa durch einen Stoß auf ein Thier der Colonie ausgeübt wurde, durch den Stamm hindurch in alle Zweige bis zu den auf ihren Gipfeln stehenden Thierchen fortgeleitet werden, ehe das Zusammenfahren erfolgen konnte.

Haben unsere Vorticellen hierbei und hiervon eine Empfindung, eine Art von Bewußtsein? Ja und nein. Sie müssen etwas, wie Empfindung spüren, etwas, wie Bewußtsein, muß sich auf den Stoß entwickeln. Aber noch ist die Zusammensetzung des Körpers, die Theilung der Arbeit nicht so weit gediehen, daß die Stoß- und Tastempfindung von einem sogenannten, nicht zum vollkommenen Bewußtsein gelangenden Muskelgefühle sich trennen ließe. Aehnliches gilt vom Geschmacke, indem ein Theil oder ein großer Theil der bei der Nahrungsaufnahme stattfindenden Vorgänge sich vielleicht einst auf die Gesetze der chemischen Wahlverwandtschaft werden zurückführen lassen. Aus einem solchen kaum vorstellbaren dunkelsten Allgemeingefühle kann auch das Infusionsthier nicht heraustreten. Aber wir können annehmen, daß in infusorienähnlichen Thieren durch besondere Uebung bestimmter Stellen in der Hautschicht die Veranlassung zur Bildung einfachster Nervenapparate gegeben war. Und damit treten wir in das Bereich solcher Wesen, in denen, nach trivialer Anschauung, die Seele einen Sitz hat. Wir verstehen nun wenigstens, was es heißen soll: die Seele entwickelt sich im Leben des Einzelwesens, [557] sowie sie sich während der geschichtlichen Entfaltung der Lebewelt überhaupt aus dem Unendlich-Kleinen nach und nach hervorbildete.

Fußnoten

1 Nämlich, jene Beeinflussung der Bewegungsorgane, welche bei den höheren Thieren durch die Nerven auf die Muskeln geschieht.


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 554-558.
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