Wandermuschel (Dreyssena polymorpha)

[366] Die Sippe Dreyssena (auch Tichogonia genannt), weicht im Thiere darin von der Miesmuschel ab, daß an dem fast völlig geschlossenen Mantel nur drei enge Oeffnungen sind, eine für den Austritt des Bartes, die zweite für den Eintritt des Athemwassers, die dritte für den Austritt der Exkremente und des zurückkehrenden Athemstromes. Das Gehäuse ist gleichschalig, dreieckig, die Wirbel liegen im spitzen Winkel des Dreiecks. Die einzelnen Schalen sind gekielt. Charakteristisch ist unter den Wirbeln eine scheidewandartige Platte, welche die Schließmuskeln trägt. Unter den etwa sechs lebenden Arten hat die europäische Dreyssena polymorpha, der Mytilus polymorphus von Pallas, ganz besonderes Aufsehen erregt als Wandermuschel. Wir kennen das rapide Ausbreiten einiger Unkräuter in diesem Jahrhundert, ebenso die schnelle Verbreitung einiger auf Pflanzen schmarotzender und mit ihren Wohnpflanzen in die Treibhäuser eingeführter Insekten; dagegen dürfte das Beispiel einer, wenn auch nicht ganz natürlichen Erweiterung des Wohnbezirkes, wie es Dreyssena in einem unverhältnismäßig kurzen Zeitraume gibt, für die niedere Thierwelt einzig dastehen, und nur mit der Ueberflutung der Länder und Kontinente des Westens durch die Wanderratte verglichen werden können. Wir verdanken dem um die Kenntnis der geographischen Verbreitung der Weichthiere hochverdienten E. von Martens den genauen Nachweis über das allmähliche Vorrücken dieser Süßwassermuschel aus dem Osten nach dem Westen. Der Gegenstand ist in thiergeographischer Hinsicht so wichtig, daß wir nicht umhin können, den Bericht im Auszug und mit Hinweglassung vieler Detailangaben wörtlich mitzutheilen.

»In Betreff der wirbellosen Thiere«, heißt es, »ist die Unterscheidung der verschiedenen Arten im allgemeinen von so jungem Datum, daß sich noch nichts über eine historische Aenderung in ihrem Vorkommen sagen läßt. Eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel bietet Dreyssena polymorpha, nicht weil sie schon länger den Naturforschern bekannt ist, sondern weil sie in fast ganz Europa die einzige Art ihrer Gattung ist und vermöge ihrer Gestalt auch beim oberflächlichsten Anblick mit keiner anderen Gattung von Süßwassermuscheln verwechselt werden kann.

[366] Die Kenntnis der auffälligeren Arten unserer deutschen Süßwassermollusken datirt, nur wenige Arten ausgenommen, erst von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Martini 1768 und Schröter 1779, während die dänischen von O.F. Müller 1774, die schwedischen von Linné 1746-1766, die nordfranzösischen von Geoffroy 1767, die englischen über fast ein Jahrhundert früher von Lister 1678 speciell unterschieden wurden. Daß keiner dieser Schriftsteller die genannte Muschel beobachtet hat, deutet sehr entschieden darauf hin, daß dieselbe in den von ihnen untersuchten Gegenden damals nicht lebte; ein Schluß, der selbstverständlich bei kleinen selteneren, schwieriger zu findenden oder zu unterscheidenden Arten nicht statthaft wäre, wohl aber bei dieser Muschel, welche gegenwärtig in der Havel, im Tegelsee usw. massenweise nahe am Ufer auf Steinen oder anderen Muscheln sitzend und in Menge ausgeworfen am Ufer zu finden ist. Alle Naturforscher des vorigen Jahrhunderts kennen sie nur nach Pallas als südrussische Muschel. Das älteste Datum einer ihr neues Vorkommen betreffenden Veröffentlichung ist 1825, wo C.E. von Bär sagt, daß sie unermeßlich zahlreich im Frischen und Kurischen Haff sowie in den größeren Flüssen viele Meilen vom Meere entfernt vorkomme, klumpenweise an Steinen, namentlich anderen Muscheln mittels des Byssus befestigt.

In derselben Zeit war sie aber nun auf einmal in der Havel unweit Potsdam und den benachbarten Seen, und zwar in Menge gefunden worden. Alle persönlichen Erinnerungen und gedruckten Notizen, welche ich in Berlin hierüber aufzuspüren im Stande war, führen übereinstimmend auf diese Zeit. Einige Jahre später, etwa um 1835 wurde sie bei der Pfaueninsel unweit Potsdam durch ihr klumpenweises Anheften an im Wasser stehende Pfähle unangenehm bemerklich. Seit dieser Zeit ist sie in der Havel und in dem Tegelsee äußerst zahlreich geblieben und hat sich in neuester Zeit auch in der Spree unmittelbar bei Berlin gezeigt. Das Vorkommen unserer Muschel in der Donau läßt sich mit Sicherheit bis 1824 zurück verfolgen, aber es läßt sich nicht nachweisen, daß sie früher in der Donau nicht gelebt habe.« Aus der zum Elbgebiet gehörigen Havel ist sie bis jetzt stromaufwärts bis Magdeburg und Halle gedrungen. In der Rheinmündung wurde sie 1826 zuerst gesehen, jetzt gehört ihr das Gebiet bis Hüningen und Heidelberg. Von Holland aus läßt sich ferner ihr Vordringen in das nördliche Frankreich bis Paris verfolgen, und in der neuesten Zeit ist sie aus dem Gebiete der Seine in das der Loire eingewandert. Endlich kennt man sie in England seit 1824, zuerst in den Londoner Docks, jetzt aber bewohnt sie schon verschiedene Flüsse Englands und Schottlands.

Obschon man sich auf die angegebenen, ihr erstes Auftreten in den mitteleuropäischen Stromgebieten betreffenden Zahlen nicht viel verlassen kann, »ist dennoch das nahezu gleichzeitige Erscheinen unserer Muscheln in den hauptsächlichsten Stromgebieten Deutschlands und in England von besonderer Bedeutung. Im Rheingebiete rückt sie entschieden von der Mündung an nur stromaufwärts vor; in das Elbgebiet ist sie offenbar von Osten her durch die Havel getreten. Schon das gibt Andeutungen über das Wie und Woher der Verbreitung. Wahrscheinlich ist die Wanderung keine selbständige, eigenwillige, sondern Verschleppung durch Schiffe und Flöße, an welche sich die Muschel einmal festgesetzt hat, der Weg daher die Wasserstraße der Menschen, seien es Flüsse oder Schiffahrtskanäle. Letztere helfen ihr von einem Stromgebiet in ein anderes. Man hat gegen diese Annahme geltend gemacht, daß sie auch in einzelnen Seen ohne schiffbare Verbindung mit Flüssen vorkomme, so im Mecklenburgischen und in Pommern, ferner namentlich in der europäischen Türkei; für Albanien hat dieser Einwurf Gewicht, für die Ostseegegenden bei der Nähe schiffbarer Gewässer weniger, indem er hier nur beweist, daß auch ausnahmsweise eine Verbreitung durch andere Mittel auf kleinere Entfernung möglich sei. Im großen und ganzen bleibt es Regel, daß sie im Ost- und Nordseegebiete nur in schiffbaren Gewässern sich findet. Was die Verschleppung über See nach den Rheinmündungen und England betrifft, so scheint mir ein Transport mit Schiffsbauholz im Inneren eines Schiffes fast wahrscheinlicher, als ein solcher [367] außen am Schiffe durch das Meerwasser. Aus einem größeren, sie feucht haltenden Klumpen können einzelne Individuen sicher mehrere Tage über Wasser ausdauern und wahrscheinlich länger als in Seewasser, das den Süßwasserthieren im allgemeinen verderblich ist. Dreyssena ist aber keineswegs, wie man oft behauptet, zugleich ein Süßwasser- und ein Meerthier1, wenigstens nicht mehr, ja weniger als Neritina unter den Schnecken. In der Ostsee lebt sie nur innerhalb der Haffe, nicht außerhalb, und ich fand sie im Odergebiete auf der Insel Wollin nur auf der Haffseite der Insel, nicht auf der Meerseite lebend, ja bei Swinemünde noch einzeln an der Innenseite des Dammes, in Gesellschaft der Paludina impura und des Limnaeus ovatus, echter Süßwasserschnecken, aber nicht mehr an der Außenseite desselben, wo von sonstigen Süßwassermollusken nur noch Neritina fluviatilis zu finden war. Am offenen Ostseestrande von Misdroy hatte Mytilus edulis durchaus und einzig die Rolle, welche im Haffe und in der Havel Dreyssena spielt, einzelne Steine und Pfähle zu überziehen.

Daß Dreyssena somit nicht aus der Ostsee, aber doch aus den Küstenländern der Ostsee nach Deutschland und England gekommen sei, scheint annehmbar.« Das Resultat der Untersuchung über die Herkunft ergibt, daß Dreyssena aus dem südlichen Rußland auf den künstlichen und natürlichen Wasserwegen in etwas mehr als einem Jahrzehnt nach den Ostseeprovinzen und von da ebenfalls durch Binnenkanäle bis zur Havel gelangt wäre. Unbeantwortet ist leider noch die Frage, ob Dreyssena polymorpha auch im Gebiete des Schwarzen Meeres als eine in historischer Zeit und in ihrer gegenwärtigen Form eingewanderte Art zu betrachten sei.

Fußnoten

1 Der südlichste Punkt, an welchem ich (Schmidt) selbst Dreyssena gesammelt, ist in Dalmatien unweit Sebenico der enge natürliche Kanal, durch welchen der die Kerka unterhalb ihrer berühmten Wasserfälle aufnehmende Brana-See mit dem merkwürdigen Becken von Sebenico zusammenhängt. Das Wasser hat dort kaum einen salzigen Beigeschmack. Weiter gegen das Meer zu ist die Muschel völlig verschwunden.


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 366-368.
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