[344] Es liegt uns nichts näher, als daß wir mit derjenigen Familie, welche uns auf den vorigen Blättern schon so viele Anknüpfungspunkte bot, beginnen. Dies sind die Najaden (Najades, Unionacea), unsere größeren, allbekannten Süßwassermuscheln. Sehen wir von einigen südamerikanischen [344] und afrikanischen Formen ab, deren Mantel hinten Röhren bildet, so liegt der Charakter dieser besonders in den nordamerikanischen Flüssen reich vertretenen Thiere darin, daß der Mantel ganz gespalten, der Fuß zusammengedrückt und zungenförmig ist. Das Gehäuse ist stets gleichschalig, das heißt, die beiden Schalenhälften sind symmetrisch gleich; es ist regelmäßig, perlmutterartig und mit einer starken, glatten, fest anhängenden Oberhaut bedeckt. Das Ligament ist äußerlich. Die beiden Muskeleindrücke sind ziemlich gleich groß und haben ungefähr gleichen Abstand vom Rande, doch ist der vordere in mehrere Felder zertheilt. Die beiden wichtigsten Gattungen sind Unio und Anodonta, die wesentlich nur an ihrer Schalenbildung unterschieden werden können.

Das wichtigste Kennzeichen von Unio ist, daß das Schloß in jeder Schale vorn einen einfachen oder doppelten, gestreiften oder gekerbten Zahn, und hinten unter dem Ligament in der einen Schale einen, in der anderen zwei lamellenartige, dem Rande parallele Zähne hat. Man kennt mehrere hundert lebende Arten aus allen Welttheilen und allen Zonen, wenigstens sind so viele Formen als Arten beschrieben. Wer aber den 1844 veröffentlichten Aufsatz von Roßmäßler über Artunterscheidung der europäischen Unionen liest, wird die Ueberzeugung gewinnen, daß eine große Anzahl dieser Arten ganz willkürlich aus den ununterbrochen ineinander übergehenden Formen-und Varietätenreihen herausgegriffen und von den Speciesmachern fixirt sind. Wer sich nicht schon selbst längere Jahre mit den Unionen und Anodonten beschäftigt und durch lange Uebung und durch Vergleichung von Hunderten und Tausenden von Exemplaren einen gewissen praktischen Blick für die Unterscheidung sich angeeignet hat, wird bei dem Versuche, die in seiner nächsten Umgebung gesammelten Thiere nach den in den zoologischen Lehrbüchern enthaltenen Beschreibungen und nach Abbildungen als Arten zu bestimmen, in die peinlichste Verlegenheit gerathen. Es paßt von diesen Beschreibungen in der Regel alles und nichts. »Nicht bloß jeder Bach«, sagt Roßmäßler, »Fluß, Teich zeigt seine eigenthümlichen Formen von Unionen und Anodonten, sondern nicht selten findet die Erscheinung statt, daß mit der Veränderung des Flußbettes in Breite, Tiefe, Bodenbeschaffenheit, und mit der größeren oder geringeren Geschwindigkeit des Laufes sich die Formen der Muscheln verändern. An großen Teichen oder Landseen hat die seichte, dem herrschenden Luftstrome gegenüberliegende Seite oft ganz andere Formen als die meist tiefere entgegengesetzte Seite. Wer seine Anodonten und Unionen nicht bloß in einzelnen ausgesuchten Exemplaren von Händlern bezieht, sondern selbst hundertweise an Ort und Stelle weit und breit sammelt und in reicher Auswahl von seinen auswärtigen Freunden unter genauer Angabe des Fundortes zugeschickt erhält, der wundert sich nicht sowohl darüber, wenn er die Arten in mehr oder weniger eigenthümlich ausgeprägten Formen erhält, sondern darüber, wenn er dann und wann einmal ganz dieselben Formen erhält, die er schon anderswoher besitzt

Ich führe diese merkwürdige Vorausnahme und Bestätigung der Umwandlungstheorie und diese Ansichten über das Werden und Leben der Arten hier an, wo das Leben der Individuen von minderem Interesse ist. An einer ganzen Reihe von Beispielen zeigt Roßmäßler solche Uebergänge und Hervorbildungen neuer Arten aus alten. »Es scheint«, fährt er fort, »um eine neue Art zu bilden (was wir bei den Konchylien Art nennen) und allmählich in die Reihe der alten einzuführen, von der Natur der Weg eingeschlagen zu werden, daß sie durch die veränderten Entwickelungsbedingungen zunächst an jedem Individuum mäkelt und ändert, bis es zuletzt im Alter ein fremdartiges Gesicht hat. In den ersten Generationen vererbt sich diese individuelle Umgestaltung der Eltern noch nicht auf die Nachkommen, sondern diese erscheinen wieder ihrem alten Typus treu, werden aber während des Wachsthumes unter denselben Entwickelungsbedingungen ebenso wie ihre Eltern umgestaltet, bis endlich in den späteren Generationen die Umgestaltung sich auch schon an den Jungen ausspricht.« Wenn nun Roßmäßler an die bekannte Thatsache erinnert, daß »die durch Kunst verkrüppelten Füße der Chinesen sich auch schon an neugeborenen Kindern zu [345] dieser Verkrüppelung hinneigen, daß Indianer, welche sich von Kindheit an den Kopf schmal und hochzwängen, zuletzt mit solchen Köpfen zur Welt kommen«, so hat neuerdings diese Lehre durch die Fülle von Belegen, welche Darwin für die Vererbung und Konsolidirung von neuen Merkmalen und Eigenschaften durch Zuchtwahl gesammelt, die festesten Stützen bekommen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 344-346.
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