1. Sippe: Beutelratten (Didelphys)

[555] Die Beutelratten (Didelphydae), welche die zweite Familie der Unterordnung bilden, sind Beutelthiere, welche höchstens die Größe einer Katze erreichen, aber auch oft die einer Maus nicht übertreffen. Der Leib ist gedrungen, der Kopf an der Schnauze mehr oder weniger zugespitzt. Der Schwanz ist von sehr veränderlicher Länge und meistens ein an der Spitze nackter Greifschwanz; die Hinterbeine sind etwas länger als die vorderen, die Pfoten fünfzehig, bei einer Sippe durch Schwimmhäute verbunden, der Daumen ist bisweilen gegensetzbar. Den Weibchen einiger Arten fehlt die Tasche, bei anderen ist sie vorhanden, und zwar häufiger nach hinten als nach vorn geöffnet. In der Zahnbildung tritt das Raubthiergepräge entschieden hervor. Die Eckzähne sind ziemlich entwickelt, die vier Backenzähne jedes Kiefers mehr oder weniger spitz und scharfzackig, oben drei-, unten zweiwurzelig und drei-, seltener vierseitig, die drei Lückzähne zweiwurzelig mit spitzigen Hauptzacken, die Schneidezähne, von denen im obern Kiefer jederseits fünf, im untern jederseits vier stehen, kleiner oder größer, stumpfer oder schärfer, oben die beiden mittleren meist vergrößert. Die Wirbelsäule enthält sieben Hals-, dreizehn rippentragende, fünf bis sechs rippenlose, zwei Kreuzbein- und achtzehn bis einunddreißig Schwanzwirbel.

In der Vorzeit fanden sich die Beutelratten auch in Europa, gegenwärtig bewohnen sie Amerika. Sie leben fast sämmtlich in Wäldern oder in dichtem Gebüsch und suchen sich hier in hohlen Bäumen, Erdhöhlen, zwischen dichten Gräsern und Büschen einen Aufenthalt. Eine Art bevölkert die Ufer kleiner Flüsse und Bäche, schwimmt vortrefflich und sucht in Erdlöchern Schutz. Alle sind Nachtthiere und führen durchgehends ein einsames, herumschweifendes Leben, halten sich auch bloß während der Paarungszeit mit ihrem Weibchen zusammen. Ihr Gang auf ebenem Boden, wobei sie mit ganzer Sohle auftreten, ist ziemlich langsam und unsicher; die meisten vermögen aber, wenn auch nicht ohne alle Mühe, Bäume zu erklettern und sich mittels ihres zum Greifwerkzeuge gewordenen Schwanzes aufzuhängen und stundenlang in solcher Stellung zu verbleiben. Unter ihren Sinnen scheint der Geruch am besten ausgebildet zu sein. Die geistigen Fähigkeiten sind sehr gering, obgleich sich eine gewisse Schlauheit nicht leugnen läßt; namentlich Wissen sie Fallen aller Art zu vermeiden. Ihre Nahrung besteht in kleinen Säugethieren, Vögeln und deren Eiern, auch wohl in kleinen Lurchen, in Kerbthieren und deren Larven, sowie in Würmern; im Nothfalle fressen sie auch Früchte. Die im Wasser lebenden Schwimmbeutler verzehren hauptsächlich Fische, die größeren Arten besuchen die Wohngebäude des Menschen und würgen hier alle schwächeren Thiere ab, deren sie habhaft werden können, laben sich an deren Blute und berauschen sich förmlich darin. Ihre aus eigenthümlich zischenden Lauten bestehende Stimme lassen sie bloß [555] dann ertönen, wann sie gemißhandelt werden. Bei Verfolgung setzen sie sich niemals zur Mehre, pflegen vielmehr sich zu verstellen, wenn sie sich nicht mehr verbergen können. In der Angst verbreiten sie einen starken, widrigen, fast knoblauchähnlichen Geruch.

Die Beutelratten, in vielen Arten über ganz Amerika verbreitet, haben in tüchtigen Naturforschern eifrige und sorgfältige Beobachter gefunden, und das hauptsächlichste, was wir über die Fortpflanzung der Beutelthiere überhaupt, zumal über die Entwickelung der Jungen wissen, beruht auf den Mittheilungen jener Forscher. »In der Mitte des Winters«, sagt Rengger von den in Paragay lebenden Arten der Beutelratten, »im Augustmonat nämlich, scheint bei ihnen die Begattungszeit einzutreten; wenigstens trifft man in diesem Monate häufig die beiden Geschlechter bei einander an und findet im darauffolgenden Monate trächtige Weibchen. Diese werfen nur einmal im Jahre. Die Anzahl ihrer Jungen ist weder bei den Arten, noch bei den verschiedenen Weibchen einer Art dieselbe. Ich fand bei einer Art bis vierzehn Junge, oft aber nur acht oder vier und einmal bloß ein einziges. Die Tragzeit dauert etwas mehr als drei Wochen. Anfang des Weinmonats kommen die Jungen zur Welt und treten sogleich unter den Beutel oder unter die Hautfalten am Bauche der Mutter, wo sie an den Zitzen sich ansaugen und so lange in diesem Zustande bleiben, bis sie ihre vollkommene Ausbildung erreicht haben. Dies geschieht nach funfzig und einigen Tagen. Alsdann verlassen sie den Beutel, nicht aber die Mutter, indem sie sich, auch wenn sie schon fressen können, in dem Pelze derselben festhalten und so von ihr noch einige Zeit herumgetragen werden.«

Rengger berichtet nun, daß er bloß über eine Art Beobachtungen machen konnte, von dieser aber die Weibchen theils während ihrer Tragzeit oder im Augenblicke des Gebärens, theils nach der Geburt untersucht habe, und fährt dann fort: »Die Tragzeit der betreffenden Art fällt in den Herbstmonat und dauert etwa fünfundzwanzig Tage. Während dieser Zeit bemerkt man einen Zufluß der Säfte gegen die Wände des Beutels, ein Anschwellen seiner Ränder und eine Erweiterung desselben. Die Embryonen oder Thierkeime liegen zum Theil in den Hörnern, zum Theil im Körper der Gebärmutter, nie aber in den henkelförmigen Fortsätzen derselben. Nach den ersten Tagen der Empfängnis erscheinen sie bloß als gallertartige, runde Körperchen, bei denen man selbst durch das Vergrößerungsglas keine Verbindung mit der Gebärmutter, wohl aber als erste Spur der Ausbildung des Leibes einen feinen, blutigen Streifen bemerkt. Gegen das Ende der Tragzeit hingegen, wo die Keimlinge eine Länge von beinahe 1 Centim. erreicht haben, findet man sie von einer Haut umgeben und mit einem Nabelstrange, welcher sich vermittels mehrerer Fasern an die Gebärmutter ansetzt. An der Frucht selbst nimmt man auch mit unbewaffnetem Auge deutlich den Kopf, die vier Beine und den Schwanz wahr. Uebrigens sind in diesem Zeitpunkte nicht alle Jungen gleich ausgebildet; es herrscht im Gegentheil unter ihnen eine Art von Stufenreihe, und zwar sind diejenigen, welche den fallopischen Röhren am nächsten liegen, in ihrer Organisation auch am wenigsten vorgerückt.

Ueber die Art, wie der Embryo aus der Gebärmutter in die Scheide gelangt, habe ich folgendes beobachtet: Bei einem Weibchen, welches ich in den ersten Tagen des Weinmonats tödtete, fand ich in seinem verschlossenen Beutel zwei ganz kleine Junge, dann aber in dem linken henkelförmigen Fortsatze der Gebärmutter einen ausgewachsenen Embryo, welcher von keinem Häutchen mehr umgeben war und dessen Nabelstrang in keiner Verbindung mit den Wänden des Fortsatzes stand. In dem Körper der Gebärmutter lagen noch zwei andere Keimlinge, deren Nabelstrang sich aber von denselben noch nicht abgelöst hatte. Uebrigens war die Gebärmutter sowie ihr Fortsatz außer der gewöhnlichen Ausdehnung nicht im geringsten verändert. Die Embryonen treten also bei dieser Beutelratte aus dem Körper der Gebärmutter in die henkelförmigen Fortsätze derselben und erst von diesen in die Scheide.

Wie man sieht, werden die Jungen nicht alle zugleich geboren; es verstreichen vielmehr drei bis vier Tage zwischen der Geburt des ersten und des letzten Jungen. Wie sie in den Beutel [556] gelangen, habe ich nie beobachten können. Möglich ist, daß der Beutel während der Geburt gegen die Scheide zurückgezogen wird, so daß die Jungen durch die Geburtsarbeit selbst in den Beutel geschoben werden. Die neugebornen Thierchen sind und bleiben noch einige Zeit wahre Embryonen. Ihre Größe beträgt höchstens 12 Millimeter; ihr Körper ist nackt, der Kopf im Verhältnisse zu den übrigen Theilen groß; die Augen sind geschlossen, die Nasenlöcher und der Mund hingegen offen, die Ohren in Quer- und Längenfalten zusammengelegt, die Vorderbeine über der Brust, die hinteren über dem Bauche gekreuzt und der Schwanz ist nach unten gerollt; sie zeigen auch auf äußere Reize nicht die geringste Bewegung. Nichtsdestoweniger findet man sie kurze Zeit, nachdem sie in den Beutel gelangt sind, an den Zitzen angesogen. Es ist nun kaum denkbar, daß die Thiere in einem solchen Embryonenzustande ohne alle Hülfe eine Zitze aufsuchen und sich ansaugen können; ich vermuthe dagegen, daß sie von der Mutter an die Zitzen gelegt werden, wozu derselben ohne Zweifel die entgegensetzbaren Daumen dienen. Die Jungen bleiben nun beinahe zwei Monate in dem Beutel, ohne die Zitzen zu verlassen, ausgenommen in den letzten Tagen. In den ersten zwei Monaten bemerkt man keine andere Veränderung an ihnen, als daß sie bedeutend zunehmen und daß sich die Borstenhaare am Munde zu zeigen anfangen. Nach vier Wochen werden sie ungefähr die Größe einer Hausmaus erreicht haben, der Pelz tritt über den ganzen Körper hervor, und sie können einige Bewegung mit den Vorderfüßen machen. Nach Azara sollen sie sich in diesem Alter schon auf den Füßen halten können. Etwa in der siebenten Woche werden sie fast so groß wie eine Ratte; dann öffnen sich die Augen. Von dieser Zeit an hängen sie nicht mehr den ganzen Tag an den Zitzen und verlassen auch zuweilen den Beutel, kehren aber sogleich wieder in denselben zurück, sowie ihnen Gefahr droht. Bald aber verschließt ihnen die Mutter den Beutel, welcher sie nicht mehr alle fassen kann, und trägt sie dagegen während mehrerer Tage, bis sie ihren Unterhalt zu finden selbst im Stande sind, mit sich auf dem Rücken und den Schenkeln herum, wo sie sich an den Haaren festhalten.

Während der ersten Tage nach der Geburt sondern die Milchdrüsen bloß eine durchsichtige, etwas klebrige Flüssigkeit ab, welche man im Magen der Jungen findet; später wird diese Flüssigkeit immer stärker und endlich zu wahrer Milch. Haben die Jungen ein mal die Zitzen verlassen, so hören sie auf, zu saugen, und die Mutter theilt ihre Beute mit ihnen, besonders wenn diese in Vögeln oder Eiern besteht.«

»Noch will ich eine Beobachtung erwähnen, welche Dr. Parlet bei einem säugenden Weibchen gemacht haben wollte. Weder er noch ich hatten je erfahren können, wie die Säuglinge sich ihres Kothes und Harnes entledigen. Nachdem während meiner Abwesenheit ein Weibchen, welches daselbst geworfen hatte, fünf Wochen lang von demselben beobachtet worden, berichtete er mir bei meiner Rückkehr, daß die Jungen während der ersten Tage nach der Geburt keinen Koth von sich geben, daß dies erst geschieht, wenn dieselben wenigstens vierundzwanzig Tage alt sind, und daß dann die Mutter von Zeit zu Zeit zu diesem Zwecke den Beutel öffnet.

Alle Beutelratten, welche ich in Paragay angetroffen habe, lassen sich einigermaßen zähmen, d.h. sie gewöhnen sich an den Menschen, daß man sie berühren und herumtragen kann, ohne von ihnen gebissen zu werden; nie aber lernen sie ihren Wärter kennen und zeigen überhaupt nicht den geringsten Verstand. In Paragay fällt es nicht leicht jemandem ein, eine Beutelratte zu zähmen. Ihr Aussehen ist zu häßlich und der Geruch, den sie von sich geben, zu abschreckend. Auch werden sie mit als die gefährlichsten Feinde des zahmen Geflügels angesehen, selbst wenn sie sich in der Gefangenschaft befinden. Des Schadens wegen, den sie anrichten, werden sie überall von den Menschen verfolgt. Man fängt sie entweder in Fallen oder lauert ihnen des Nachts auf und tritt, sowie sie sich dem Hühnerhof nähern, ihnen plötzlich mit einem Lichte entgegen. Dadurch geblendet, wissen sie nicht zu entfliehen und werden leicht todtgeschlagen.« Nach Burmeister fängt man sie in Brasilien mittels Branntweins, den man ihnen an einer geeigneten Stelle vorsetzt. Sie trinken davon und berauschen sich so vollständig, daß man sie mit leichter Mühe aufnehmen [557] kann. Da auch andere Thiere sich betrinken, hat diese Angabe nichts auffallendes. Das Fleisch essen nur die Neger; der Pelz ist unbrauchbar, das Haar aber findet Verwendung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 555-558.
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