Erste Familie: Lamantine (Manatina)

[658] Die äußeren Merkmale der Sirenen oder Lamantine (Manatina) sind die bereits angegebenen der Ordnung; hinsichtlich des Gerippes und der Eingeweide habe ich, Carus folgend, nachstehendes zu bemerken. Der Schädel ist verhältnismäßig kurz, hinten mäßig gewölbt, am hinteren Theile des Stirnbeines am schmalsten, der Jochbogen kräftig, ein vom Schläfenbeine ausgehender, sehr breiter Jochbogenfortsatz vorhanden; die an der Schädeloberfläche freien Stirnbeine bilden die hintere bogenförmige Begrenzung der Nasenöffnung und tragen an ihrem Vorderrande die kleinen Nasenbeine; die Zwischenkiefer sind bei den Seejungfern zur Aufnahme der großen stoßzahnartigen Schneidezähne stark geschwollen, bei den Manaten mäßig verlängert; das Felsenbein ist nur durch eine Naht mit den umgebenden Knochen verbunden, der Unterkiefer kurz, durch hohes Gelenkstück und entwickelten Kronfortsatz ausgezeichnet, der Ober- wie der Unterkiefer mit Zähnen bewehrt. Außer den sieben Halswirbeln besteht die Wirbelsäule, da ein Kreuzbein nicht vorhanden ist, nur aus Rücken-, Lenden- und Schwanzwirbeln mit sehr einfachen Fortsätzen, das Brustbein aus mehreren, hintereinander liegenden Stücken. Das dreieckige Schulterblatt ist am inneren vorderen Winkel abgerundet und mit einer Schultergräte versehen, das Knochengerüste dem der übrigen Säugethiere noch sehr ähnlich, das der Hand noch insofern wohl entwickelt, als die Finger sehr beweglich sind und nur aus drei Gliedern bestehen; das Becken wird durch einen kurzen, rippenähnlichen Knochen dargestellt, welcher mit dem kurzen Querfortsatze des dritten, auf den letzen rippentragenden folgenden Wirbels verbunden ist und am unteren Ende ein mit dem der unteren Seite zusammentretendes kurzes Schambein trägt; bei den Manaten findet sich auch ein nicht mit der Wirbelsäule verbundenes Sitzbein. Das Gebiß ändert je nach den Sippen ab. Speicheldrüsen sind nur bei den Seejungfern vorhanden; der Magen wird durch eine senkrechte Einschnürung in einen weiten Mund- und einen engeren Pförtnertheil geschieden; am blinden Ende des ersteren hängt ein drüsenartiger Blindsack; an der Einschnürungsstelle finden sich zwei blinde Magenanhänge.

Seichte Ufer und Meerbusen heißer Länder, Flußmündungen und die Ströme selbst, zumal deren Untiefen, bilden die Wohnsitze und Aufenthaltsorte der Sirenen. In dem gemäßigten Gürtel scheinen sie nur ausnahmsweise vorzukommen; doch können wir hierüber etwas sicheres nicht sagen, weil sie sich der Beobachtung meist entziehen. Dagegen wissen wir, daß ihr Aufenthalt nicht immer derselbe ist: sie wandern oft viele Meilen weit, unter anderem auch bis tief in das Innere der Länder, bis in die Seen, welche mit großen Flüssen in Verbindung stehen. Man trifft sie entweder paarweise oder in kleinen Gesellschaften an; doch wird behauptet, daß sie in strenger Ehe leben und ein Männchen sich immer mit seinem Weibchen zusammenhalte. Sie sind schon weit mehr Seethiere als die Robben. Nur sehr ausnahmsweise schieben sie ihren massigen Leib über den Saum des Wasserspiegels heraus. Die Gewandtheit anderer Seesäugethiere geht ihnen ab; sie schwimmen und tauchen zwar vortrefflich, meiden aber doch größere Tiefen, wahrscheinlich weil sie zu abwechselndem Auf- und Niedersteigen zu unbeholfen sind. Auf trockenem Lande schleppen sie sich mit der allergrößten Anstrengung kurze Strecken dahin: ihre Flossenbeine sind viel zu schwach, um die Masse des Körpers zu bewältigen, um so weniger, als dieser die Biegsamkeit des Seehundleibes in keiner Weise zu besitzen scheint.

Seepflanzen, Tange und Gräser, welche in Untiefen oder hart am Ufer wachsen, sowie verschiedene Wasserpflanzen, welche auf seichten Stellen der Flüsse wuchern, bilden die ausschließliche [658] Nahrung der Sirenen: sie und das Borkenthier sind also die einzigen Seesäugethiere, welche pflanzliche Nahrung verzehren. Ihre Weide mähen sie mit den dicken Lippen ab und schlingen, wie das Flußpferd, große Mengen auf einmal in den weiten Schlund hinab. Unmäßig und ganz unjungferlich unbescheiden ist ihre Gefräßigkeit. Diese veranlaßt sie, saftige Gräser, welche außerhalb des Wassers am Uferrande der Flüsse stehen, abzuweiden, wird oft sogar zum Verräther der Thiere, weil die Losung, in Form und Aussehen dem Rindermist ähnelnd, da, wo sich Sirenen aufhalten, bald in Menge die Oberfläche des Wassers bedeckt.

Wie alle gefräßigen Geschöpfe sind auch die Sirenen träge, stumpfsinnige und schwachgeistige Wesen. Man nennt sie friedlich und harmlos und will damit sagen, daß sie nichts weiter thun als fressen und ruhen. Weder furchtsam noch kühn, leben sie mit allen übrigen Thieren im Frieden, bekümmern sich überhaupt um nichts weiter als um ihre Nahrung. Ihr Verstand ist außerordentlich gering; an dem wirklichen Vorhandensein desselben darf aber nicht gezweifelt werden. Beide Geschlechter bekunden große Anhänglichkeit zu einander und suchen sich gegenseitig zu vertheidigen und zu schützen, und die Mütter pflegen ihre Kinder mit viel Liebe und Sorgfalt, sollen sie sogar, während sie säugen, wie Menschenweiber an der Brust tragen und eine ihrer Finnen als Arm verwenden, um die Kleinen gegen ihren dicken Leib zu drücken. Bei Gefahr oder im Schmerz entrollen ihren Augen Thränen; gleichwohl dürfte es gewagt sein, von diesen auf besondere Empfindsamkeit zu schließen: die Thränen unserer Sirenen sind bedeutungslos und haben mit jenen der Heldinnen des Märchens keine Aehnlichkeit. Auch die Stimme der Manaten erinnert durchaus nicht an den Gesang der Meerweiber, sondern besteht nur in einem schwachen dumpfen Stöhnen. Während des Athmens vernimmt man auch noch ein heftiges Schnauben.

Bemerkt zu werden verdient, daß diese plumpen Geschöpfe nicht allein die Gefangenschaft ertragen können, sondern sogar einen ziemlich hohen Grad von Zähmung annehmen.

Fleisch und Speck, Haut und Zähne finden Verwendung; von einer anderweitigen Nutzung wird nichts berichtet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 658-659.
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