Erste Familie: Faulthiere (Bradypoda)

[485] Obenan können wir die Familie der Faulthiere (Bradypoda) stellen, weil die wenigen zu ihr zählenden Arten das Gepräge anderer Krallenthiere noch am meisten festhalten. Verglichen mit den bisher beschriebenen und den meisten noch zu schildernden Säugethieren erscheinen die Faulthiere freilich als sehr niedrigstehende, stumpfe und träge, einen wahrhaft kläglichen Eindruck auf den Menschen machende Geschöpfe, gleichsam nur als ein launenhaftes Spiel der Natur oder als Zerrbild der vollkommenen Gestalten, welche sie erschuf. Die vorderen Gliedmaßen sind bedeutend länger als die hinteren, die Füße mehr oder weniger mißgebildet, aber mit gewaltigen Sichelkrallen bewehrt; der Hals ist verhältnismäßig lang und trägt einen runden, kurzen affenähnlichen Kopf mit kleinem Munde, welcher von mehr oder minder harten, wenig beweglichen Lippen umschlossen ist, und kleinen Augen und Ohrmuscheln, welche vollständig im Pelze verborgen sind; der [485] Schwanz ist ein kaum sichtbarer Stummel; die Haare sind im Alter lang und grob wie dürres Heu und haben den Strich umgekehrt wie bei anderen Thieren von der Unterseite nach dem Rücken zu. Ganz auffallend und einzig unter den Säugethieren dastehend ist der Bau der Wirbelsäule. Anstatt der sieben Wirbel, welche sonst den Hals zu bilden pflegen, finden sich bei einzelnen Faulthieren ihrer sechs, bei anderen neun, ausnahmsweise sogar ihrer zehn, und die Zahl der rippentragenden Wirbel steigt von vierzehn auf vierundzwanzig. Das Gebiß besteht aus fünf cylindrischen Backenzähnen in jeder Reihe, von denen der erste bisweilen eine eckzahnartige Gestalt annimmt; im Unterkiefer stehen meist vier Zähne oder eigentlich bloß Anfänge von Zähnen. Sie bestehen aus Knochenmasse, welche zwar von einer dünnen Schmelzschicht umschlossen, äußerlich aber noch von Cement umgeben ist, sind also ihrem Wesen und ihrer Färbung nach eher Horn stifte als wirkliche Zähne. Nicht minder eigenthümlich ist der Bau mancher Weichtheile.


Geripp des Ai. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Ai. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Der Magen ist länglich-halbmondförmig und in eine rechte und linke Hälfte zertheilt, zwischen denen die Speiseröhre sich einsenkt; die rechte und kleinere Hälfte ist darmähnlich dreimal gewunden, die linke durch dicke, muskelartige Falten in drei abgesonderte Kammern geschieden. Herz, Leber und Milz sind auffallend klein. Die Arm- und Schenkelschlagadern zertheilen sich zu den erwähnten Wundernetzen, indem ihr Stamm durch die ihn umgebenden Schlagaderreiser hindurchtritt oder selbst in Reiser zerfällt und hierdurch die Wundernetze bildet. Auch die Luftröhre ist nicht regelmäßig gebaut; denn sie erreicht zuweilen eine auffallende Länge und wendet sich in der Brusthöhle. Das Gehirn ist klein und zeigt nur wenige Windungen, deutet also auf geringe geistige Fähigkeiten dieser Stiefkinder der Natur.

Die Uebereinstimmung des Wesens aller genauer beobachteten Faulthiere läßt es thunlich erscheinen, einer Schilderung ihrer Lebensweise die Beschreibung zweier Arten als Vertreter der Sippen der Familie vorauszuschicken.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 485-486.
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