[306] Der allbekannte Stieglitz oder Distelzeisig, Kletterrothvogel, Gold- oder Jupitersfink, Trun, Stachlitz, Stachlick, Sterlitz, Gelbflügel (Carduelis elegans, auratus, germanicus und septentrionalis, Fringilla carduelis und ochracea, Passer, Spinus und Acanthis carduelis), Vertreter einer gleichnamigen, artenarmen, in der Alten Welt heimischen Sippe (Carduelis), kennzeichnet sich durch kreiselförmigen, sehr gestreckten und spitzigen, ein wenig abwärts gebogenen, an den Schneiden etwas eingezogenen Schnabel, kurze, stämmige, langzehige, mit wenig gebogenen, aber scharfen Nägeln bewehrten Füße, spitzige Flügel, unter deren Schwingen die fünf ersten die längsten sind, mittellangen, schwach ausgeschnittenen Schwanz und lockeres Gefieder. Letzteres ist sehr bunt. Ein schmales Band rings um den Schnabel, Zügel, Scheitelmitte und Hinterkopf sind tiefschwarz, Stirn, Hinterwangen und Kehle hoch karminroth, Schläfe und Wangen weiß, Nacken, Schultern und Rücken gelblich-, Kropf und Brustseiten hell röthlichbraun, Gurgel, Bürzel und die noch nicht genannten Untertheile weiß, die Schwingen tiefschwarz, im Wurzeldrittel, mit Ausnahme der ersten, außen hochgelb und vor der Spitze durch ein nach hinten sich vergrößerndes, weißliches Schildchen geziert, unterseits dunkelgrau, silberweiß gekantet, die kleinen Oberflügeldecken tiefschwarz, die mittleren und großen hellgelb, die Steuerfedern tiefschwarz, die äußersten innen mit länglich weißem Flecke, die übrigen an der Spitze mit weißen Schildchen geschmückt. Das Auge ist nußbraun, der Schnabel röthlichweiß, an der Spitze schwarz, der Fuß bläulich fleischfarben. Beide Geschlechter ähneln sich täuschend, und nur ein sehr geübter Blick unterscheidet an der etwas bedeutenderen Größe, dem ein wenig mehr verbreiteten Roth im Gesichte und einem tieferen Schwarz auf reinerem Weiß am Kopfe das Männchen von dem Weibchen. Den Jungen fehlt das Roth und Schwarz am Kopfe; ihr Oberkörper ist auf bräunlichem Grunde dunkel, der Unterkörper auf weißem Grunde braun gefleckt. Die Länge beträgt dreizehn, die Breite zweiundzwanzig, die Fittiglänge sieben, die Schwanzlänge fünf Centimeter.
Vom mittleren Schweden an findet sich der Stieglitz in ganz Europa, aber auch auf Madeira, den Kanarischen Inseln, in Nordwestafrika und in einem großen Theil Asiens, von Syrien an bis nach Sibirien hinauf. Auf Cuba ist er verwildert. Innerhalb dieses Verbreitungskreises scheint er nirgends zu fehlen, nimmt auch mit gesteigertem Obstbaue an Menge zu, bequemt sich überhaupt verschiedenen Verhältnissen trefflich an, kommt aber keineswegs überall in gleicher Häufigkeit vor. In einzelnen Gegenden ist er selten, in anderen sieht man ihn in zahlreichen Flügen. Bolle traf ihn auf Canaria, ich fand ihn in Andalusien und Kastilien in starken Schwärmen; andere Beobachter sahen ihn in Griechenland in Menge. In Deutschland schart er sich zu Herbstes Anfang und zieht dann zuweilen in Gesellschaften im Lande umher, welche mehrere hunderte zählen. Diese Massen pflegen sich gegen den Winter hin in kleinere Trupps aufzulösen, welche dann wochenlang zusammenleben. Als Brutorte sind Gegenden zu betrachten, in denen der Laubwald vorherrscht oder Obstbau getrieben wird. Waldbewohner im strengeren Sinne ist der Stieglitz nicht; denn lieber noch als in zusammenhängenden Beständen siedelt er sich in Gärten oder Parks, an Straßen, auf Angern oder Wiesen und ähnlichen Orten an, und hier pflegt er auch zu brüten.
Der Stieglitz ist höchst anmuthig, in allen Leibesübungen wohl bewandert, unruhig, gewandt, klug und listig, hält sich zierlich und schlank und macht den Eindruck, als ob er seiner Schönheit sich bewußt wäre. Als wahrer Baumvogel kommt er nur ungern auf den Boden herab und bewegt sich hier auch ziemlich ungeschickt; dagegen klettert er trotz einer Meise, hängt sich, wie die Zeisige, geschickt von unten an die dünnsten Zweige und arbeitet minutenlang in solcher Stellung. Sein Flug ist leicht und schnell, wie bei den meisten Finken wellenförmig, und nur dann schwebend, wenn der Vogel sich niederlassen will. Zum Ruhen bevorzugt er die höchsten Spitzen der Bäume [306] oder Gesträuche, hält sich aber niemals lange an einem und demselben Orte auf, weil sich seine Unruhe immer geltend macht. Dem Menschen gegenüber zeigt er sich stets vorsichtig, scheu aber nur dann, wenn er bereits Nachstellungen erfahren hat. Mit anderen Vögeln lebt er in Frieden, läßt jedoch einen gewissen Muthwillen an ihnen aus. Seine Lockstimme wird am besten durch seinen Namen wiedergegeben; denn dieser ist nichts anderes, als ein Klangbild der Silben »Stiglit« »Pickelnit« und »Pickelnick ki kleia«, welche er im Sitzen wie im Fliegen vernehmen läßt. Ein sanftes »Mai« wird als Warnungsruf gebraucht, ein rauhes »Rärärärä« ist das Zeichen unangenehmer Erregung. Die Jungen rufen »Zif litzi zi« usw. Das Männchen singt, obgleich die einzelnen Töne denen des Bluthänflings an Klang und Fülle nachstehen, laut und angenehm, mit viel Abwechselung und so fröhlich, daß der Liebhaber den Stieglitz namentlich auch seines Gesanges halber hoch in Ehren hält. In der Gefangenschaft singt er fast das ganze Jahr; im Freien schweigt er nur während der Mauser und bei sehr schlechtem Wetter.
Die Nahrung besteht in Gesäme mancherlei Art, vorzüglich aber in solchem der Birken, Erlen und nicht minder der Disteln im weitesten Sinne, und man darf deshalb da, wo Disteln oder Kletten stehen, sicher darauf rechnen, ihn zu bemerken. »Nichts kann reizender sein«, sagt Bolle, »als einen Trupp Stieglitze auf den schon abdorrenden Distelstengeln sich wiegen und aus der weißen Seite ihrer Blütenköpfe die Samen herauspicken zu sehen. Es ist dann, als ob die Pflanzen sich zum zweiten Male und mit noch farbenprächtigeren Blumen, als die ersten es waren, geschmückt hätten.« Der Vogel erscheint auf den Distelbüschen, hängt sich geschickt an einen Kopf an und arbeitet nun eifrig mit dem langen, spitzen Schnabel, um sich der versteckten Samenkörner zu bemächtigen. Im Sommer verzehrt er nebenbei Kerbthiere, und mit ihnen füttert er auch seine Jungen groß. Er nützt also zu jeder Jahreszeit, durch Verminderung des schädlichen Unkrautes nicht minder als durch Wegfangen der Kerbthiere. Strenge Beurtheiler seiner Thaten beschuldigen ihn freilich, durch leichtfertiges Arbeiten an den Samenköpfen der Disteln diese verbreiten zu helfen, vergessen dabei aber, daß der Wind auch ohne Stieglitz der eigentliche Urheber solcher Unkrautverbreitung ist, und thun dem zierlichen Vogel somit entschieden Unrecht.
Das Nest, ein fester, dicht zusammengefilzter Kunstbau, steht in lichten Laubwäldern oder Obstpflanzungen, oft in Gärten und unmittelbar bei den Häusern, gewöhnlich in einer Höhe von sechs bis acht Meter über dem Boden, wird am häufigsten in einer Astgabel des Wipfels angelegt und so gut verborgen, daß es von unten her erst dann gesehen wird, wenn das Laub von den Bäumen fällt. Grüne Baumflechten und Erdmoos, feine Würzelchen, dürre Hälmchen, Fasern und Federn, welche Stoffe mit Kerbthiergespinsten verbunden werden, bilden die äußere Wandung, Wollagen aus Distelflocken, welche durch eine dünne Lage von Pferdehaaren und Schweinsborsten in ihrer Lage erhalten werden, die innere Auskleidung. Das Weibchen ist der eigentliche Baumeister, das Männchen ergötzt es dabei durch fleißigen Gesang, bequemt sich aber nur selten, bei dem Baue selbstthätig mitzuwirken. Das Gelege enthält vier bis fünf zart-und dünnschalige Eier, welche durchschnittlich sechzehn Millimeter lang, zwölf Millimeter dick und auf weißem oder blaugrünlichem Grunde sparsam mit violettgrauen Punkten bedeckt, am stumpfen Ende aber kranzartig gezeichnet sind. Selten findet man diese Eier früher als im Mai, und wahrscheinlich nisten die Paare nur einmal im Laufe des Sommers. Das Weibchen brütet allein und zeitigt die Eier binnen dreizehn bis vierzehn Tagen. Die zarten Jungen werden mit kleinen Kerbthierlarven, die größeren mit Kerbthieren und Sämereien gefüttert, die ausgeflogenen noch lange von den Eltern geleitet und geführt. Wie der Hänfling, so füttert auch der Stieglitz seine Kinder groß, wenn sie vor dem Ausfliegen in einen Käfig eingesperrt wurden.
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